1968 und heute: «Mit Revolutionsromantik dürfen wir uns nicht zufrieden geben»
In seinem Buch «Wir sind wenige, aber wir sind alle» hat der Ethnologe Heinz Nigg Biografien der Schweizer 68er-Generation versammelt. Ende Oktober hat er dazu in Schaffhausen ein Gespräch mit dem Schriftsteller Peter Bichsel und dem SP-Politiker Hans-Jürg Fehr geführt, das wir hier leicht gekürzt abdrucken.
Heinz Nigg: Welche Rolle spielte die soziale Herkunft bei der Politisierung der 68er?
Hans-Jürg Fehr: Was mir auffällt, ist, dass beide, Peter Bichsel und ich, aus einfachen Verhältnissen kommen, aus ländlichen Verhältnissen. Wenn ich mir die anderen Texte in deinem Buch vor Augen halte, dann ist das ziemlich typisch. Viele von denen, deren Biografie du aufgezeichnet hast, haben einen ähnlichen Hintergrund. Sie sind nicht bürgerlicher Herkunft, wie oft gesagt wird. Mindestens in der Auswahl der mehr als vierzig 68er, die du getroffen hast, sieht man das deutlich. Wenn ich an die Leute denke, die mit mir zusammen hier in Schaffhausen Politik gemacht haben und meine Freundinnen und Freunde sind, ist es auch so: Die kommen meistens aus ähnlichen Verhältnissen wie ich.
Das Zweite, das mir beim Vergleich meiner Biografie mit der von Peter Bichsel auffällt: gläubige Eltern, christliche Eltern. Sie praktizierten Nächstenliebe und orientierten sich dabei an der Bergpredigt. Die Bergpredigt ist das erste sozialdemokratische Parteiprogramm der Welt. Diese Art von Christentum war für meine spätere Politisierung geradeso wichtig wie das gemeindepolitische Engagement meines Vaters.
Peter Bichsel: Mein Vater war religiös, die Mutter wars nicht. Das Thema Religion war bei uns tabu. Ich war ein sehr anständiger Bub und habe mich dann selbst für die Religiosität entschieden - und zwar für eine sehr pietistische und kategorische Form von Religiosität. Dieser Entscheid ist mir sehr viel wert. Das war die Einübung in die Minderheit, in die Solidarität mit den Minderheiten. 68 war nicht ein grosser politischer Aufstand, sondern eher eine riesige Feier von verschiedensten schwachen Minderheiten, die der starken Mehrheit das Fürchten lehrten - nicht das Fürchten vor einer Macht, sondern das Fürchten vor der Solidarität von Minderheiten.
Fehr: Ich hatte nicht das Bestreben, in einer Minderheit zu bleiben, selbst wenn ich in einer war - damals in der Studentenbewegung an der Uni. Es war nicht nur eine Party, es war nicht nur Rock ’n’ Roll, nicht nur Aufbruch und Demos. Wir wollten konkrete Reformen umsetzen und waren ausgesprochen leistungsbewusst. Das hat bestimmt etwas mit unserer Herkunft zu tun. Wir kamen aus Kreisen, in denen es hiess: Unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir. Es war also eine Aufstiegsorientierung da, die mit Leistung und nicht mit Status verknüpft war. Unsere revolutionäre Antriebskraft: Wir studieren, was uns interessiert, und nicht, was uns vorgesetzt wird. Und wir leisten mehr, als die Professoren von den Studierenden verlangen. Dieses ausgesprochene Leistungsbewusstsein geht bei der Diskussion über die antiautoritären 68er immer etwas verloren.
Bichsel: Bei mir zu Hause war es noch fast nicht denkbar, ans Gymnasium zu gehen. Das gehörte sich nicht für uns. Meine Eltern waren einfache Leute, mit wenig Geld. Und sie waren sehr angepasste Bürger. Für uns Bichsels gehörte sich das Gymnasium nicht. Und dann kam diese wunderbare Zwischenlösung: das Lehrerseminar! Das Lehrerseminar war mit keiner Maturität verbunden. Ein Primarlehrer war kein Akademiker. Das konnten meine Lehrer meinen Eltern beibringen. So kam ich ins Lehrerseminar.
Nigg: War die Tatsache, dass viele 68er aus einfachen Verhältnissen kamen, auch in der 68er-Bewegung selbst von Bedeutung?
Fehr: Bei mir hat das immer eine Rolle gespielt und auch bei allen, mit denen ich an der Universität war und die sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung beschäftigten. Die Geschichte der Arbeiter und der kleinen Leute war damals gar nicht universitätswürdig. Dass man auch diese Geschichte beschreibt, untersucht und später in die Lehrbücher bringt, dem galt unser eigentliches Engagement an der Universität. Dieses Engagement kommt zum Ausdruck im Dokumentenband zur Geschichte der Arbeiterbewegung, den wir damals erarbeiteten und publizierten. Es war wie eine Demonstration: Wir und unsere Vorfahren sind auch geschichtswürdig - und nicht nur die Generäle, Fürsten und Politiker. Später war ich hier in Schaffhausen zwanzig Jahre Redaktor der «Arbeiter-Zeitung», die bis heute existiert - immer am Rand des Existenzminimums. Wenn ich beruflich Karriere hätte machen wollen, wäre ich Mittelschullehrer in Bülach geblieben - meine erste Stelle nach dem Studium. Für meinen Teil kann ich sagen, dass sich der rote Faden meiner Herkunft durch meine ganze Biografie zieht.
Bichsel: Du hast von Leistung gesprochen. Das Schlagwort hiess damals «Relevanz». Wenn ich irgendwo eine Lesung hatte, zum Beispiel an einer deutschen Universität, habe ich mich immer ein wenig vor den 68ern gefürchtet. Wenn ich aus meinen schönen Geschichten las, stand dann bestimmt jemand auf mit der Frage «Wo bleibt denn da die Relevanz? Was sollen diese Texte?».
Von den 68ern geblieben ist mir auch das Schlagwort von der repressiven Toleranz. Dass es also eine Toleranz gibt, die gar keine Toleranz ist, sondern versteckte Repression. Im Denken der 68er gab es auch den Zufall nicht. Für sie war es klar, dass die Welt so ist, wie sie ist, und dass der dort in der Ecke Hunger hat und die einen reich und die anderen arm sind. Das ist vom System her so gewollt. Dieses penetrante Auftreten gegen die Vorstellung, dass die Welt vom Schicksal regiert wird und dass es immer Arme und Reiche geben wird, gehörte ganz typisch zu dieser 68er-Generation. Dazu gehörte die Haltung: Nein, das ändern wir!
Nigg: Was an der 68er-Bewegung war neu, innovativ und zukunftsweisend?
Fehr: Das Bildungswesen hat sich enorm verändert. Ein wichtiger Grund dafür war die antiautoritäre Bewegung von 68. Dieser völlig andere Umgang mit der Rolle des Lehrers: Er ist nicht mehr der Kommandant der Klasse, sondern Partner, Moderator, Anreger. Die Kinder sollen nicht nur konsumieren, sie werden selber aktiv - in Gruppen. Als ich an der Uni anfing, war es noch nicht erlaubt, zu zweit eine Dissertation zu schreiben. Gruppenarbeit war verboten. Da hätte sich der eine hinter dem anderen verstecken können - ein Trittbrettfahrer statt ein Leistungsträger.
Heute ist es normal, dass man in Gruppen arbeitet. Da gibt es Team-Teaching, und die Schüler beschaffen sich ihre Informationen selbst. Es ist kein Zufall, dass die SVP heute auf das Bildungswesen losgeht. Und dass die SVP die 68er für das heutige Bildungswesen verantwortlich macht, ist auch nicht zufällig, weil sie eine Vorstellung von Schule hat, die wieder genau hinter der Zeit von 1968 ansetzt. Das Rad der Zeit soll zurückgedreht werden - ein reaktionärer Akt.
Bichsel: Ich stimme deiner Analyse zu, wenn sie sich auf die Zeit vor fünfzehn bis zwanzig Jahren bezieht. Da konnte man sagen, das neue Bildungswesen war zum Teil ein Erfolg der 68er. Da wurde auch diese neue Lehrerpersönlichkeit geschaffen. Als der Staat aber entdeckt hatte, dass es auch so funktionierte, begann er zu verbessern - mit Bürokratie. Und dann wurde die Bildungsreform zu einer politischen Gesamtfeier - und alle waren derselben Meinung.
Ich sehe in der heutigen politischen Bildungsdiskussion keine Spuren mehr von den 68ern. Da geht etwas anderes ab. Die Bildung soll von oben herab mit Reglementierung verbessert werden. Da sehe ich schwarz! Wenn man aus Lehrern Bildungsvollzugsbeamte macht, dann ist es nicht mehr gut. Das hat nun wirklich nichts mehr mit 68 zu tun.
Fehr: Ich glaube, das ist das Schicksal vieler Bewegungen: Sie erstarren oder laufen aus wie eine Welle am Ufer.
Bichsel: Wenn es die Mehrheit begriffen hat, ist eine Bewegung erledigt.
Fehr: Oder sie hat sich erfolgreich durchgesetzt! Ich denke, es ist falsch, gegenüber 68 eine Heilserwartung zu haben. Vieles hatten die 68er noch nicht einmal angepackt. Wichtig scheint es mir, in der Art eines Fazits die Leistungen der 68er zu überprüfen. Wir sind angetreten mit der Formel: Wir wollen die Welt nicht nur beschreiben, wir wollen sie erklären und verändern. Das war unsere theoretische Ausgangslage.
Und das war auch in meiner politischen Arbeit immer die Richtschnur. Zum Beispiel: Wenn ich die Weltarmut halbieren will, setze ich mich dafür ein, dass die Schweiz 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts für Entwicklungszusammenarbeit ausgibt. Jetzt sind wir bei 0,37 Prozent. Also geht meine politische Arbeit weiter, bis das Ziel erreicht ist. Wir wollen verändern, und diese Veränderungen muss man messen können!
Nigg: Ich lade nun das Publikum zum Mitdiskutieren ein: Was könnte aus der Geschichte der 68er-Bewegung für den heutigen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft gelernt werden?
Stimme aus dem Publikum: In den letzten zwanzig, dreissig Jahren haben wir grosse Veränderungen erlebt. Nicht aber so bei den grundlegenden ökonomischen und finanziellen Mechanismen. Die menschliche Gier wurde durch 68 nicht gezähmt - die ging genau gleich weiter. Die Umverteilung des Reichtums zugunsten der hohen Einkommen hat nun zur gegenwärtigen Finanzkrise geführt. Da frage ich mich, ob wir nicht eine Entwicklung brauchen, die diese grundsätzlichen Fragen nach der menschlichen Gier zu beantworten versucht.
Stimme aus dem Publikum: Meine erste spontane Reaktion zur Finanzkrise war: So, jetzt erledigt sich vielleicht der Kapitalismus von selbst. Das war natürlich nur eine vage Hoffnung. Doch ein Gefühl bleibt: Diese Krise müsste nun einigen Menschen mehr die Augen öffnen für die immer grösser werdende Kluft zwischen Arm und Reich.
Bichsel: Ich glaube, geändert wird nur unter Zwang. Einige der Verantwortlichen sagen zwar: Wir haben schlechte Erfahrungen gemacht mit diesem Finanzsystem, wir müssen nun besser regulieren. Doch das ist schnell vergessen, wenn es der Börse wieder besser geht. Man müsste sie zwingen zurückzutreten. Politik funktioniert nur unter Zwang. Napoleon musste der Schweiz die Demokratie aufdrängen. Die haben wir nicht auf dem Rütli erfunden. Auf dem Rütli wurde die SVP erfunden. Ohne Zwang geht es nicht. Wenn sich die Krise nicht als dringlich erweist, wird sicher nichts passieren.
Fehr: Was ist dieser Zwang? Da können wir eine Verbindung zu 68 herstellen. Das direktdemokratische und parlamentarische Geschehen ist in Bezug auf sein Veränderungspotenzial beschränkt. Deshalb ist die entscheidende Frage: Erzeugt diese Krise Bewegung? Man sagt ja, Bewegung sei gesund. Das gilt nicht nur für den eigenen Körper, sondern auch in Bezug auf die Fähigkeit einer Gesellschaft, sich politisch zu verändern. Wie viele Menschen lassen sich durch diese Krise bewegen? Nach dem Ausbruch des Irakkriegs 2003 war es für mich ernüchternd, zu sehen, wie schnell die Anti-Irakkrieg-Jugendbewegung zusammengebrochen war. Ist also die Wut und Empörung der Leute so anhaltend, dass daraus das politische Potenzial für eine nachhaltige Veränderung entsteht? Diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich sehe nur, dass der Bundesrat aus Angst, es könnte etwas geschehen, seine Aktienrechtsreform im Sinn der Volksinitiative von Thomas Minder etwas verschärft.
Ich bin auch der Meinung von Peter Bichsel, dass die Verantwortlichen jetzt nur so tun, als ob sie etwas lernen würden. Sie machen ein paar Schritte, um uns vorzugaukeln: Wir haben auch etwas gelernt. Aber die selbst ernannte Elite, die jetzt so gescheitert ist, die lernt gar nichts. Wenn sie etwas lernen würde, hätte die neue UBS-Führung nicht sagen können: Wir halten am Bonussystem fest. Dabei ist sich die ganze Fachwelt einig darin, dass die Bonussysteme die Hauptursache für die Finanzkrise sind. Peter Kurer hält daran fest, dass Manager Millionen pro Jahr verdienen sollen. Mit der Begründung: Topleute müssen Toplöhne verdienen. Ja was ist an diesen Leuten denn so top gewesen? Einzig top waren die Löcher, die sie in anderer Leute Kasse gerissen haben. Man sieht, dass sie aus ihrer eigenen Logik nicht herausfinden. Und da ist nun die Frage: Wie gut sind wir? Nicht nur die, die parteipolitisch oder im Parlament arbeiten, sondern: Wie gut ist die Bewegung, sofern überhaupt eine entsteht? Es bräuchte eine Bewegung, die die Verantwortlichen der Finanzkrise benennt und sie auffordert, abzutreten, weil sie von A bis Z versagt hat. Wenn keine starke Bewegung gegen diese Bankier- und Spekulantenelite entsteht, wird sie auch nicht abdanken.
Bichsel: Und zwar eine Bewegung, die erschüttert und nicht einfach wissenschaftliche Daten übermittelt. Das Establishment muss erzittern!
Stimme aus dem Publikum: Die 68er haben ja nicht nur an den Fundamenten gerüttelt, sondern hatten einen Gegenentwurf. Und wenn man jetzt sagt: Die Eliten müssen abtreten, dann frage ich mich: Ja, zugunsten von wem? Und wo ist der konkrete Gegenentwurf?
Fehr: Der damalige Gegenentwurf von uns 68ern war gar nicht so konkret. Da gab es Sätze wie den von der «Überwindung des Kapitalismus» im Parteiprogramm der SP Schweiz. Als Parteipräsident habe ich noch veranlasst, dass wir uns im Rahmen der Programmrevision nicht mit solchen Floskeln begnügen, sondern uns ernsthaft um mehr Substanz bemühen: Was bedeutet es konkret, den Kapitalismus zu überwinden? Wir dürfen uns nicht zufrieden geben mit verbalem Radikalismus und Revolutionsromantik. Das bringt uns nicht weiter. Der Gegenentwurf muss schon visionär sein, aber auch konkret und handfest.
Heinz Nigg: «Wir sind wenige, aber wir sind alle», Limmat- Verlag. Zürich 2008. 443 Seiten. 48 Franken.
Peter Bichsel: «Vielleicht schon bald auf die Barrikaden»
Geboren 1935 als Handwerkerssohn in Luzern, aufgewachsen in Olten. Nach der Ausbildung zum Primarlehrer arbeitet er bis 1968 in diesem Beruf. Heute lebt er in Bellach bei Solothurn.
Zu seinen bekanntesten Büchern gehören «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» (1964), «Kindergeschichten» (1969) oder «Zur Stadt Paris» (1993). Kürzlich erschien bei Suhrkamp sein neuster Kolumnenband «Heute kommt Johnson nicht».
Zitate aus der 68er-Biografie von Peter Bichsel:
«Mit etwa elf Jahren geriet ich in pietistische Kreise - Bibellesebund und Blaues Kreuz. In meinem Erstlingswerk ‹Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen› gibt es die Geschichte vom Herrn Gigon, dem Prediger. Das ist eine Erinnerung an diese Zeit. Meine Eltern konnten dagegen nichts einwenden, weil das etwas Anständiges war. Mein Mut zum christlichen Bekenntnis ging so weit, dass ich mit Kollegen und Gitarre am Heiligen Abend in den Strassen von Olten Weihnachtslieder sang.»
«Die Sache mit den Minderheiten ist mir ein Leben lang geblieben. Ich habe mich in Mehrheiten nie wohlgefühlt. Wenn man sich freiwillig in einer Minderheit bewegt, muss man das lernen. Es fiel mir bald auf, dass es auch Leute gibt, die unfreiwillig in Minderheiten leben. Auch die müssen die Solidarität in der Minderheit lernen. Lernen ist ein Vorgang, den man selbst gar nicht bemerkt. Und hinterher merkt man, aha, ich habe etwas gelernt.»
«Kein einziger Mensch in Europa wurde Kommunist, weil er ein Stück von Bert Brecht gelesen hatte. Aber ich stelle mir vor - und als Jüngling passierte mir das so -, ich sitze im Schauspielhaus und sehe ‹Turandot oder Der Kongress der Weisswäscher› von Brecht. Es kommen zwei Sätze, die ich grossartig finde, und ich sehe in der Reihe vorne rechts eine ältere Frau, die lächelt. Da denke ich, wir sind schon zwei. Die hat es auch begriffen. Ich glaube, Schriftsteller können nur die Leute bei der Stange halten. Und das ist schon viel. Leser haben eine Neigung zur Solidarität.»
«Ich interessiere mich immer noch für Kunst und Architektur, aber nicht mehr so heftig. Der 25-jährige Bichsel hätte den 72-jährigen Bichsel sogar als total desinteressiert bezeichnet. Über einen guten modernen Bau würde ich vielleicht einen Artikel schreiben, aber ich würde auch zu mir sagen, es gibt noch Wichtigeres zu tun. Bei der Politik ist es etwas anderes. Da ist die Einsicht in die Dringlichkeit noch vorhanden. Ich kann mir vorstellen, dass ich in Notsituationen auf die Barrikaden gehe und auch bereit wäre, mich dafür zu gefährden. Das könnte unter den heutigen Umständen in unserem Land schon bald nötig sein. Aber allein kann man das nicht, auch ein Schriftsteller nicht.»
Hans-Jürg Fehr: «Das Missverständnis bei der Erziehung»
Geboren 1948, aufgewachsen in Rheinklingen TG und wohnhaft in Schaffhausen. Der Historiker, Redaktor und Verlagsleiter sitzt seit 1999 im Nationalrat. Von 2004 bis 2008 war er Präsident der SP Schweiz.
Zitate aus der 68er-Biografie von Hans-Jürg Fehr:
«Ich wuchs in einem kleinen Bauerndorf mit 150 Einwohnern direkt am Rhein auf. Die einzigen Nichtbauern im Dorf waren der Lehrer, der Besitzer des Volg-Lebensmittelladens und meine Eltern. Mein Vater war Wagner und meine Mutter Schneiderin.»
«Meine Eltern haben sich in Stein am Rhein in einem Kirchenchor kennengelernt. Sie waren protestantisch und sehr gläubig. Nicht auf eine frömmlerische Weise. Aber sie lebten ihren Glauben. Zu Hause wurde vor dem Essen gebetet. Wenn wir sechs Buben am Abend zu Bett gingen, wurde ein Lied gesungen und ein Nachtgebet gesprochen. Mein Vater war lange Präsident des Kirchenchors und der Kirchgemeinde. Das war ihm wichtig. Wäre er in etwas besseren Verhältnissen aufgewachsen, wäre er sicher Pfarrer geworden. Die Gemeindepolitik fand bei uns am Familientisch statt. Der Nachbar, der wie mein Vater im Gemeinderat sass, kam jeweils - mit Stumpen im Mund - zu uns in die Stube, wenn es etwas zu besprechen gab.»
«Zu den ganz grossen Errungenschaften der 68er-Bewegung gehört der Abbau autoritärer Strukturen in Familie, Schule und Betrieben. Die Kritik an den 68ern wegen ihres Glaubens an die antiautoritäre Erziehung beruht auf einem Missverständnis, an dem die 68er selber nicht unschuldig sind. Unter antiautoritärer Erziehung wurde und wird oft das Fehlen von Erziehung überhaupt verstanden. Natürlich gab es 68er, die ihre Kinder alles machen liessen und verwöhnten. Doch das war nicht der Kern der Botschaft des Klassikers ‹Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill› von A. S. Neill. Nach ihm sollen sich die Kinder nämlich zu selbstbewussten und konfliktfähigen Persönlichkeiten entwickeln. Dazu muss man ihnen auch Grenzen setzen und Widerstand bieten. Viele meiner Freunde und Bekannten haben das auch so praktiziert. Ich wünsche mir, dass die Jungen mit dem antiautoritären Erbe von 1968 etwas Konstruktives anzufangen wissen. Ich hoffe auch, dass sie neben dem Wert der beruflichen Karriere die Notwendigkeit des zivilgesellschaftlichen Engagements als Citoyenne und Citoyen in der direkten Demokratie im Auge behalten.»