Sondersession: Die nächste Zukunft

Nr. 11 –

Montag, 9. März 2009, 14.36 Uhr bis 22.32 Uhr, die Nationalratsdebatte zur Wirtschaftskrise. Dazwischen Auszüge aus einem Traktat zum Geld und zur Zeit sowie ein Ausflug ins Protestzelt der IndustriearbeiterInnen.


Es ist kurz vor 23 Uhr, die Sondersession fertig, der Parlamentssaal leer. Nur hinten links stehen noch drei SP-NationalrätInnen. Sie freuen sich diebisch. Die Löhne bei der UBS sollen begrenzt, das Investmentbanking und die Vermögensverwaltung getrennt, die Finanzmarktaufsicht verschärft werden. Die SVP hat die entsprechenden Vorstösse unterstützt. «Das bedeutet eine klare Korrektur gegenüber dem Dezember», sagt Susanne Leutenegger Oberholzer.

Damals wurden die 68 Milliarden Franken Staatshilfe für die Grossbank noch ohne Auflagen gewährt. Nicht, weil sich die Bürgerlichen für die UBS gewehrt hätten. Sondern weil sie sich der Diskussion verweigert hatten. Alle Kameras waren auf Ueli Maurer gerichtet. Der liess sich rasch von der Rednerliste streichen, die Partei hatte nichts zur UBS zu sagen. Zwei Tage später wurde Maurer zum Bundesrat gewählt. Bereits diese Nichtdebatte fand mit Verspätung statt: Die Bankenrettung war per Notrecht seit Oktober beschlossene Sache.

Verspätung, Verweigerung, Korrektur: Die Finanzkrise ist eine Wirtschaftskrise und vielleicht auch eine Zeitkrise. Das erste Ereignis folgt auf das zweite. Die Wahrnehmungen und Einschätzungen folgen ihrem eigenen Rhythmus. Dass pensionierte Millionäre wieder arbeiten gehen, ist nur der letzte schlechte Witz dieser Unordnung. Die herrschenden Verhältnisse sind so offensichtlich wie nie zuvor, und sie sind in Bewegung geraten.

14.36 Uhr: Auf Blindflug

Die Sondersession beginnt mit der Diskussion über ein zweites Konjunkturpaket. Lagebeurteilung und Selbstverständnis des Schweizer Kapitalismus im März 2009, es treten auf: die Industriekapitäne Johann Schneider-Ammann (FDP), Peter Spuhler (SVP) sowie als Finanzplatz-Desperado Hans Kaufmann (SVP).

Schneider-Ammann, schonungslos: «Wir Exporteure befinden uns möglicherweise erst am Anfang eines volkswirtschaftlichen Blindfluges. Unser Sichthorizont hat sich in den vergangenen Wochen äusserst schnell vom Monats- auf den Wochenbereich reduziert. Wir rechnen nicht mit einer Besserung 2009, und auch 2010 nur da und dort.»

Spuhler: «Ich möchte von meiner Stelle aus davor warnen, jetzt in Aktionismus zu verfallen. Schulden von heute sind Steuern von morgen. Ich glaube, es ist in unserer Verantwortung, auch in dieser sehr schwierigen Situation zu versuchen, ordnungspolitisch auf Kurs zu bleiben. Wir dürfen nicht übersteuern.»

Zwischenfrage von Paul Rechsteiner (SP), Gewerkschaftschef: «Es ist schon ein ziemlich starkes Stück, wenn Sie hier gegen wirksame Konjunkturprogramme polemisieren! Wo waren Sie, Herr Spuhler, als UBS-Verwaltungsrat, als diese Bank in den Abgrund geritten wurde? Und damit die grossen Probleme des Finanzsektors mitverursacht wurden, die zur heutigen Wirtschaftskrise geführt haben?»

Spuhler: «Wenn Sie ein bisschen volkswirtschaftlichen Sachverstand hätten, dann würden Sie begreifen, dass die Finanzkrise genau dank der Billiggeldpolitik in den USA entstanden ist.» Kollege Kaufmann sekundiert: «Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise wurde durch die Schuldenmacherei der amerikanischen Konsumenten und Unternehmen ausgelöst.»

Die Dreistigkeit von Spuhler und Kaufmann muss man sich erst mal vorstellen: Erst jahrelang dick vom Finanzplatz profitieren und dann der US-Bevölkerung die Schuld für den Zusammenbruch geben. Als ob deren Verschuldung nicht Ausdruck einer völlig schiefen Einkommensverteilung wäre.

Wenigstens bietet die Krise Argumente, Lesestoff. Beispielsweise das bis anhin kaum besprochene neuste Bändchen vom Merve-Verlag. Das kommt hier jetzt unvermittelt, ist aber gleich nützlich: Zwei Brüder, Ralph und Stefan Heidenreich, der eine Programmierer und Landvermesser, der andere Kulturwissenschaftler, haben es in einer Woche verfasst. Ein leichtfüssiges Traktat mit dem Titel: «Mehr Geld». Zum Rumtragen und Zustecken.

«Wir gehen davon aus», heisst es darin, «dass Geld eine Struktur in die Welt setzt, die das einfache Kommando Mehr! absondert. Weil es zählt und alle Dinge in dieses eindimensionale Schema presst. Das Kommando Mehr! forciert eine ganz bestimmte Zukunft. Es erzwingt eine bestimmte Art und Weise, über Zeit zu denken, die sich von den vorangehenden Zeitmodellen unterscheidet. Aus der Gegenwart ist nicht evident, dass es eine Zukunft gäbe. Es gibt tatsächlich nur eine Gegenwart. Aber Geld nötigt uns dazu, ständig die Zukunft zu denken. Erwartungen bestimmen wirtschaftliches Handeln.»

Ausführlich behandelt wird der Konsumentenkredit, der ab 1980 das Investitionskapital abgelöst hat: «Der Konsumentenkredit und die darauf aufgetürmten Kredite haben durch zusätzliche Ausgaben in der Gegenwart das Wachstum vorweggenommen, also die Einnahmen der Zukunft schon jetzt ausgegeben.» Und weiter: «Die Konstruktion von Zukunft wird gerne als Kontinuität beschrieben. Wir gehen auf einen Bruch zu. Nach dem Bruch ist nicht die Zukunft überhaupt in Frage gestellt, wohl aber das Kreditgeld, das eine ganz bestimmte Form von Zukunft vorweggenommen hat.»

15.30 Uhr: Im Protestzelt

Zum Schluss der Debatte über das zweite Konjunkturpaket wird Volkswirtschaftsministerin Doris Leuthard sagen: «Ich beginne beim Aufruf an Sie zur Zusammenarbeit, da wir diese Krise nur gemeinsam meistern können, nicht gegeneinander.»

Angrenzend an den Bundesplatz hat die Gewerkschaft Unia ein Protestfestzelt aufgestellt. Dort sieht man das anders. «Die Krise sind sie. Die Lösung sind wir», steht auf dem Transparent hinterm Rednerpult. Corrado Pardini, Mitglied der Unia-Leitung, tritt ans Mikrofon: «Die wahre Sondersession findet nicht dort drüben im Bundeshaus statt. Sondern hier im Zelt. Wir wissen, wovon wir reden. Wir sind die Wirtschaft.» Mit 200, bestenfalls 400 TeilnehmerInnen hat die Unia gerechnet. Mehr als 600 sind gekommen, der einsetzende Regen drängt sie ins Zelt. Ein starkes erstes Zeichen für den Widerstand sei das, ruft Pardini. «Doch wir wollen es nicht beim Abwehrkampf bewenden lassen. Eine andere Wirtschaft ist möglich!» Applaus, Trillerpfeifen, Fussballhupen.

Die IndustriearbeiterInnen verabschieden eine Resolution, zehn Punkte zur Krise: Sie fordern ein drittes Konjunkturpaket über fünf Milliarden Franken. Die Versorgung von KMU-Betrieben mit fairen Krediten. Die Stärkung der Kaufkraft mittels gleicher Löhne für Frauen und Männer, den Teuerungsausgleich, eine Verbilligung der Krankenkassenprämien. Ein Koordinationszentrum für Projekte des ökologischen Umbaus. Und vor allem: Kurzarbeit vor Entlassungen. Wer mit der Resolution einverstanden sei, soll seine rote Kappe schwenken. – «Ich stelle Einstimmigkeit fest.»

Im Anschluss macht sich das Protestzelt auf zu einem kurzen Spaziergang vor das Bundeshaus. Die rot-weissen Unia-Flaggen lassen die Schweizerfahne über dem Eingang etwas jämmerlich erscheinen. Und fast wären die GewerkschafterInnen ins Bundeshaus hineingegangen. Über die Strasse waren sie schon, es fehlte nur noch ein Schritt. Sie sind nochmals umgekehrt, vorerst.

Neben dem zweiten Konjunkturpaket hat der Nationalrat über 106 parlamentarische Vorstösse zur Wirtschaftskrise zu entscheiden. Die meisten werden vom Bundesrat zur Ablehnung empfohlen. So auch jener, über den als 55. abgestimmt wird: Das Postulat trägt den Titel «Wie sinnvoll ist die Entwicklung einer Ökonomie der Nutzung in der Schweiz?». Die Verfasserin, Adèle Thorens Goumaz, eine junge Waadtländer Grüne und Philosophin, erklärt es in der Wandelhalle.

WOZ: Ökonomie der Nutzung, das tönt ja interessant! Was ist darunter zu verstehen? – Thorens Goumaz: In Frankreich hat die Regierung während der Krise eine Gruppe eingesetzt, welche sich mit einer «économie de fonctionnalité» beschäftigen soll. Sie stellt die Benutzung der Güter in den Mittelpunkt. – Beispielsweise? – Das Carsharing. Da bezahlt man nicht für ein Auto, sondern für seine Benutzung. - Welchen Vorteil hätte eine solche Ökonomie? - Bei den Gütern würde nicht mehr auf das modische Aussehen, sondern auf eine bessere Qualität geachtet. Dadurch entsteht weniger Abfall. – Brächte sie weitere Vorteile? – Es gäbe gute Dienstleistungsjobs. Die Benutzung muss ja koordiniert werden. Diese Jobs können zudem nicht in ein Billiglohnland ausgelagert werden. Die Benutzung passiert ja hier.

Was meint der Bundesrat zu Ihrer Idee? – Er schreibt, sie beschränke sich auf das Auto. Und er sieht in mir eine Kommunistin, die das Eigentum abschaffen will. – Dabei? – Das Auto steht ja nun einmal im Mittelpunkt unserer Wirtschaft. Und es gibt auch weitere Beispiele, die funktionieren: Die Firma Xerox etwa verkauft nicht mehr Kopiergeräte an sich, sondern nur noch ihre Benutzung. – Was sagen Sie zum Vorwurf, dass Sie das Eigentum abschaffen wollen? – Ich will den Privatbesitz nicht abschaffen. Er hätte einfach nicht mehr den gleichen Stellenwert. Es könnte ein neues ökonomisches Denken entstehen, fern von BIP und Boni.

21.35 Uhr: Die Schuldenbremse

Nach der Detailberatung wird das zweite Konjunkturpaket mit deutlicher Mehrheit angenommen. Es umfasst Gebäudesanierungen, Forschungsprojekte, Investitionen in Schiene und Strasse (ohne Zustimmung der Grünen). Dazu kommen die Verlängerung der Kurzarbeitsentschädigung von zwölf auf achtzehn Monate und die Verbesserung der Exportrisikoversicherung. Der Umfang des Konjunkturpaketes beträgt 700 Millionen Franken, ein im internationalen Vergleich lächerlich kleiner Betrag. Es taugt kaum als Argument für den Bundesrat bei künftigen MinisterInnentreffen: Die Schweiz als Exportwirtschaft wird von den ausländischen Konjunkturmassnahmen stark profitieren.

Weitergehende Forderungen der Linken werden mit dem rituellen Verweis auf die Schuldenbremse abgelehnt. Der Bund darf demnach 2009 nicht mehr als eine Milliarde Franken zusätzlich ausgeben. 300 Millionen gingen fürs erste, 700 Millionen fürs zweite Konjunkturpaket drauf. Dass aber bereits im Juni eine dritte Ankurbelung nötig sein könnte, sagt selbst Bundesrätin Leuthard: «Sie wissen, wir bereiten uns für eine allfällige dritte Phase vor. Diese Arbeiten laufen.»

Nichtsdestotrotz wird der Nationalrat am Donnerstag, an dem diese WOZ erscheint, über eine Ergänzung der Schuldenbremse diskutieren. Sie soll nicht mehr nur für die ordentlichen, sondern auch für die ausserordentlichen Ausgaben gelten. Eine ideologische Forderung zur Verunmöglichung schlauer Konjunkturpolitik. Und ein weiterer Hinweis, wie sich im Bundeshaus derzeit alte und neue Logiken überlagern.

Wenn das tatsächlich so ist, und wenn die Traktatbrüder recht haben –- also nicht nur Finanzprodukte abgestürzt sind, sondern mit ihnen auch eine bestimmte Form der Zukunft verschwunden ist –, dann könnten doch jene die Krise gewinnen, die sich eine andere, eine neue Zukunft vorstellen. Das Postulat von Adèle Thorens Goumaz wird mit 80 zu 113 Stimmen abgelehnt.

5500 Millionen

Die Schuldenbremse verlangt, dass der Bundeshaushalt über die Konjunkturzyklen ausgeglichen ist. In der Hochkonjunktur müssen Überschüsse, in der Rezession können Defizite gemacht werden. Das Instrument kommt bei der Budgetierung zum Einsatz. Die Konjunkturforschungsstelle der ETH hat sich nun die Rechnungen von 2003 bis 2007 angeschaut und bilanziert: Es wurden 5,5 Milliarden Franken weniger als erlaubt ausgegeben. Das Finanzdepartement hat die Schuldenbremse selbst ad acta gelegt. Die Milliarden auf der hohen Kante könnten das nächste Konjunkturpaket sein.