«Sorgenkinder»: Hülflos, aber umsorgt

Nr. 12 –

Wie ging man im 18. Jahrhundert mit kranken Kindern um? Wie half man ihnen? Wurden sie - wie manchmal behauptet - vernachlässigt, weil sie als weniger wert galten? Ein neues Buch gibt Aufschluss.


Was mit kranken Kindern im 18. Jahrhundert geschah, wie und ob sie behandelt wurden, welche materielle und emotionale Zuwendung von Eltern und Ärzten in den ärmeren Bevölkerungsschichten sie erfuhren - all das hat die Medizingeschichte bisher kaum beschäftigt. Bisher wurde das mit der Quellenlage begründet. «Kinder gelten als stumme Zeugen», schreibt die Zürcher Medizinhistorikerin Iris Ritzmann in ihrem Buch «Sorgenkinder», das jetzt erschienen ist. «Sie hinterlassen keine eigenhändigen Aufzeichnungen.» Darstellungen ihrer Situation stammen von Dritten, im Fall von Krankheit und Behinderung vor allem vom Medizinalpersonal, festgehalten in sogenannten Krankenjournalen. Eines dieser Journale verfasste der Zürcher Chirurg und Spitalarzt Johann Rudolph Burkhard (1721-1784). Ritzmann hat es für ihre Studie erstmals ausgewertet. Von den von Burkhard in den Jahren um 1785 betreuten und behandelten 500 PatientInnen war jedeR Siebte unter achtzehn Jahre alt.

Zwei Arten von Spitälern

Am ganzen Körper des dreijährigen Friedrich Schmid waren Pockenblasen aufgetreten, heilten aber bald. Doch eine Geschwulst blieb im Gesicht zurück. Die Eltern suchten einen Laienheiler auf, der eine Salbe aus Essig und Schweineschmalz verschrieb, die nichts bewirkte. Darauf gingen sie mit ihrem Jungen ins Spital zum Chirurgen.

Die Spitäler des 18. Jahrhunderts lassen sich, so Ritzmann, grob einteilen in Institutionen, die PatientInnen kurierten, und in Einrichtungen, die vor allem alten, chronisch kranken und behinderten Menschen dauerhafte Unterkunft gewährten. Das Wort «behindert» kommt in den Quellen nicht vor, stattdessen Begriffe wie «armselig», «elend», «erbarmungswürdig», «miserabel», «hülflos». In den Spitälern gab es noch keine Kinderabteilungen, oft wurden auch Patientinnen als Betreuungshilfen eingesetzt.

Als Chirurg behandelte Burkhard viele Unfallopfer. Der zwölfjährige Heinrich Stiffel, der mit der rechten Hand zwischen die Walzen einer Maschine geraten war, wurde bei ihm eingeliefert. Den Zustand jedes Fingers beschrieb Burkhard ganz genau und wog seine Behandlung sorgfältig ab. Nach zwei Monaten entliess er ihn mit einer einigermassen funktionstüchtigen Hand.

Die vierjährige Liseli Wettstein wurde nach einem erfolgreichen Spitalaufenthalt wieder zu Burkhard gebracht. Sie hatte erneut eine Geschwulst, nun an der Schulter. Das Mädchen war nach Burkhards Ansicht gesund, es konnte seinen Arm gebrauchen. Dennoch wollte er es nicht nach Hause schicken: Das Kind, so stellte er fest, sei da unter «schlechter Aufsicht»; sein Zustand könnte sich verschlimmern. Für eine Operation sah der Arzt zunächst keine Notwendigkeit, das Risiko schien ihm zu gross. Nach vier Monaten entschied er sich dennoch dafür. Liseli bekam Fieber, da die Wunde sich entzündete, das Mädchen magerte ab, erholte sich aber «wider Erwarten», wie Burkhard feststellt. Er entliess es auf Drängen der Mutter.

Der in der Literatur verbreitete Vorwurf, Eltern hätten damals ihren Kindern eine medizinische Behandlung vorenthalten, lässt sich nach Ritzmanns Untersuchung für das 18. Jahrhundert nicht aufrechterhalten. 2000 Dokumente hatte die Medizinhistorikerin ausgewertet, und nur ein einziges Mal wünschten Eltern, ihr Kind (das ohne Hände geboren wurde) möge sterben.

Für körperlich auffällige Kinder galt allerdings meist die obrigkeitliche Anordnung, sie von der «menschlichen Gesellschaft abzusondern». Der Sohn des Webers Witzig von Uhwiesen wurde in der Neujahrsnacht 1740 von einem versehentlich ausgelösten Schuss im Gesicht schwer verletzt. Nachdem die Wunde verheilt war, konnte er wieder arbeiten, ging aber auch aus dem Haus. Daraufhin beschwerten sich die Nachbarinnen; sein «hässlicher Anblick» erschrecke sie. Man wies ihn zur lebenslangen Verwahrung ins Siechenhaus Spanweid ein.

Die Lehre vom «Versehen»

Ritzmann warnt davor, dieses Beispiel gefühlsbetont und ahistorisch allein aus der Innenperspektive des Jungen zu betrachten, was einer Projektion aus heutiger Perspektive entspräche. Man müsse das damals vorherrschende Bild einer Krankheitsübertragung durch «Versehen» berücksichtigen; der Ausschluss des Jungen sei erfolgt, um «weiteres Unglück zu verhindern». Denn die Lehre des «Versehens» ging davon aus, dass sich der Schock bei der unerwarteten Betrachtung einer Entstellung bei einer schwangeren Frau auf ihr Kind auswirke. «Was heute als ungerechte Behandlung erscheint, dürfte der Knabe als notwendige Folge seiner Verstümmelung betrachtet haben», notiert Ritzmann. «Seine Leidenserfahrung stimmte in diesem wesentlichen Punkt vermutlich nicht mit unserem Verständnis der emotionalen Lage überein.» Ritzmann bezweifelt also eine Konstante der Gefühle. Allerdings fehlen bei Ritzmann nähere Ausführungen über dieses Thema. Schon im 18. Jahrhundert wurde in wichtigen Schriften das «Versehen» als Irrtum oder Vorurteil infrage gestellt.

Für Ritzmann steht fest: «Nur auf dem Hintergrund des Versehens lässt sich erklären, weshalb viele Eltern trotz des hohen Risikos eine chirurgische Behandlung einfacher Lippenspalten anstrebten.» Der einjährige Hans Ulrich Stuz, dessen Operation ohne Schmerzbetäubung stattfand und nicht unbedingt notwendig war, weil er gut ernährt werden konnte, starb nach einem Tag. Ritzmann präsentiert auch ein Aquarell (entstanden um 1780) aus dem Zürcher Spital. Es zeigt das Porträt eines Säuglings mit Lippenspalte. Die Behinderung erscheint zwar im Zentrum des Bildes, aber die Darstellung betont den Ausdruck und die Individualität des Kindes. Sein Kopf liegt auf zwei Kissen; die Form der Lippenspalte gleicht fast der Verzierung an den Kissenecken. Kann man da noch von einer Verunstaltung reden?

Kranke und behinderte Kinder erfuhren im 18. Jahrhundert eine hohe emotionale Anteilnahme im mütterlichen Haushalt, so das Fazit von Ritzmanns Studie. Irritierend ist allerdings der Buchtitel «Sorgenkinder» - ein problematischer Begriff aus dem 20. Jahrhundert. Anhand individueller Geschichten entfaltet Iris Ritzmann jedoch ein beeindruckend vielfältiges Panorama der Kinderheilkunde im 18. Jahrhundert.

Iris Ritzmann: Sorgenkinder. Kranke und behinderte Mädchen und Jungen im 18. Jahrhundert. Böhlau Verlag. Köln et al. 2008. 320 Seiten. Fr. 67.90