Komplementärmedizin: Am längeren Hebel?
In Appenzell Ausserrhoden ist die Komplementärmedizin ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, mehr als die Landwirtschaft. Doch die Gesundheitspolitik bedroht nun auch diese Nische. Besuch beim Naturarzt Alfred Sigrist in Teufen.
Die Gräfin von Merlenwald weilte letzten Sommer eine Zeit lang im Appenzellerland, als sie von heftigem Abweichen heimgesucht wurde, das trotz ärztlicher Mittel schon über eine Woche dauerte und die Person um die Kraft brachte. In der Verzweiflung dachte die Dame, sie wolle eine Appenzeller Bäuerin um Rat fragen (...). Diese antwortete ihr: «Üseri die wiss Chue hets di letscht Woche prezis so ka; do hammera grad Brubeerbletter kochet und z sufe gee, das het era wädli gholfe, machids eer gad au aso.»
Johann Künzle (Hrsg.): «Salvia. Monatshefte für giftfreie Kräuterheilkunde». Nr. 2. V. Jahrgang, 1925.
Wer wagt es, mit 88 Jahren leichthin zu sagen: «Ich habe keine Angst vor Krankheiten oder dem Tod.»? Am Appenzeller Naturarzt und Buchautor Alfred Sigrist fällt erst einmal die Absenz von Gebrechen auf. Keine Brille, keine Gehhilfe, kein Hörgerät, keine Gichthände, keine Glatze. «Loged Si, ich musste jahrzehntelang nie zum Arzt.» Seine Stimme ist die sehr sanfte Stimme eines Mannes, dessen Haltung von keinen Zweifeln überschattet ist. Sigrist weiss, wie wir leben sollen. Er versteht nicht, warum die Menschen ihre Gesundheit, ihr «höchstes Gut», gefährden mit «Rauchen und Saufen», mit all den Süssigkeiten, den gehärteten, «schlechten» Fetten, der fehlenden Bewegung. «Ich habe fast ein bisschen Bedauern mit diesen Menschen. Ihnen fehlt die Einsicht. Sie haben den richtigen Lebensstil noch nicht gefunden.» Und weiter: «Normalität ist beim Menschen eine Ausnahme.» Alfred Sigrist sagt dies klar, aber nie ungefragt. Die Bescheidenheit, die er sich selbst attestiert, ist ihm nicht abzusprechen. Doch wie kommt ein so umgänglicher Mensch zu einer solchen Radikalität?
Die Erfahrung: Alfred Sigrist, der vor vier Jahren seine Praxis im ausserrhodischen Teufen einem Nachfolger übergeben hat, arbeitete ein halbes Jahrhundert lang als Naturarzt und Homöopath. Er kennt die Leidensgeschichten von Hunderten von Menschen aus dem In- und Ausland; kommt ihm jemand entgegen, entdeckt er auf den ersten Blick Anzeichen physischer Schwächen, beispielsweise «wie der Magen ist». Er kennt an die 2000 Kräuter und ihre Wirkung, lange Zeit sammelte er sie selbst im Alpsteingebiet.
Die Entschiedenheit: Sigrist fuhr auf komplementärmedizinische Kongresse, Sigrist tauschte sich mit Gleichgesinnten aus, Sigrist arbeitete lange Tage in der Praxis, um danach in seine Wohnung zu gehen, die ebenfalls im elterlichen Haus untergebracht war. Dort las er, der nie geheiratet hatte, weil er keine Frau fand, mit der er seine Leidenschaft teilen konnte, über Kräuter und Krankheiten oder brütete über neuen Heilmitteln. Wer so lebt, weiss viel und kennt wenig anderes. Seine Bibliothek füllt Wände und besteht fast ausschliesslich aus Werken zur Pflanzenheilkunde. Seit er nicht mehr behandelt, tippt er auf der Schreibmaschine sein drittes Buch auf kleine Seiten. Die Grenzenlosigkeit seiner Neugierde und die Weitläufigkeit seines Themas, in das man sich halt «zünftig dreinknien» müsse, führten zu einem asketischen Leben. Ein glückliches Leben, wie Sigrist betont, ein Leben «ohne Feinde».
Die Anerkennung des Unerklärlichen: Sigrist liebt die Natur, er hat sie sein Leben lang erforscht, und er weiss, dass er sie letztlich nicht erklären kann. «Als Naturarzt kennt man die einzelnen Wirkstoffe und die Anwendung, das ist Handwerk», erzählt er, «doch letztlich weiss man nichts über das innere Zusammenspiel.» In der Natur des Menschen findet Alfred Sigrist ähnlich geheimnisvolle Mechanismen: die Intuition und die Kreativität, die er in der Meditation und im Gebet weckt. Auf sie verlässt er sich bei der Behandlung ebenso wie beim Austüfteln neuer Rezepturen. Seinen Beruf betrachtet er nicht als Wissenschaft, sondern als Kunstform.
Die Tradition: Sigrists Grossmutter hütete als ihren grössten Schatz ein Heilbuch aus dem 17. Jahrhundert. Während der Spanischen Grippe soll sie überhaupt keine PatientInnen an den Tod verloren haben. Ihr Wissen gab sie der Tochter weiter, diese wiederum führte ihren Sohn in die Heilkunst ein, als er nicht mehr länger als Drogist «Verkäuferlis spielen» wollte. Sein Leben lang hat Sigrist Salben und Tinkturen nach den handgeschriebenen Familienrezepten hergestellt.
Trotz der Familientradition war Sigrists Berufswahl nicht selbstverständlich. Die Kräuterkunde war, als er mit Praktizieren begann, eine Frauendomäne. War das schwer? «Ein bisschen merkwürdig bin ich mir schon vorgekommen.» Was hielt der Vater von alledem? «Er hat für meine Mutter Kräuter ausgekocht, getrocknet, gepresst oder pulverisiert, davon haben wir gelebt. Behandelt hat er aber nicht. Er stand dem allem skeptisch gegenüber.» Und die Dörfler? «Ein paar haben die Augenbrauen hochgezogen und mich einen schrägen Vogel genannt.» Sigrist sitzt aufrecht im Lehnstuhl, sein Blick bleibt fest, ein leichtes Lächeln in seinem beinahe faltenlosen Gesicht verrät geübte Freundlichkeit, in der keine Ironie zündelt.
Die Naturmedizin, die im frühen Mittelalter in den Benediktinerklöstern entwickelt wurde, ging in die Volkskultur über. Als das Wissen der Frauen, Ungebildeten und Armen haftete ihr bald der Ruf des Heidnischen und Konspirativen an – im Mittelalter wurden Heilerinnen als Hexen verbrannt. Fundamentalistische ChristInnen hielten es (und halten es noch) für Teufelszeug, die Studierten für Aberglauben. Obwohl überall in der Schweiz Heilerinnen arbeiteten, blieb die Heilkräuterkunde lange Zeit verboten. Als etwa Johann Künzle, ein St. Galler Theologe und Wegbereiter der modernen Phytotherapie, in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts im bündnerischen Zizers einen eigens angereisten indischen Maharadscha behandelte, erwirkte die Ärzteschaft ein gerichtliches Verbot. Dank einer kantonalen Volksinitiative durfte Künzle ab 1922 dann trotzdem eine Naturheilpraxis führen.
Ausserrhoden, der «Doktorwinkel»
Nur im Appenzellerland konnte dank eines liberalen Landsgemeindebeschlusses von 1871 grundsätzlich der freien Heiltätigkeit nachgegangen werden. Mehr noch als das katholische Innerrhoden entwickelte das reformierte Ausserrhoden eine regelrechte Heilindustrie und wurde zum «schweizerischen Doktorwinkel par excellence», wo «Bauchpflasterer, Schmierer und Salber» überall zu finden seien, wie «Der Republikaner» 1865 schrieb. Von überallher reisten Kranke ins Appenzellerland, in Gais, Heiden oder Walzenhausen entstanden Kurzentren, und noch 1939 konnte der Appenzeller Alpenbitter als «ärztlich empfohlenes» Getränk beworben werden. In Teufen gründete der Heilpflanzenforscher Alfred Vogel in den Sechzigerjahren seine später im thurgauischen Roggwil angesiedelte Bioforce AG (heute ein internationaler Grosskonzern mit einem Umsatz von 130 Millionen Franken und Vertretungen in über dreissig Ländern).
Nach wie vor ist der kleine Halbkanton ein «Doktorwinkel»: Von den schweizweit rund 500 registrierten NaturärztInnen praktizieren 190 in Ausserrhoden. Eine weitere Sonderbarkeit ist die einzige kantonale Zulassungsbehörde für Heilmittel; rund 3000 homöopathische und pflanzliche Präparate sind ausschliesslich hier zugelassen. Die Komplementärmedizin generiert laut einer 1994 publizierten Studie der Hochschule St. Gallen über zehn Prozent des kantonalen Bruttoinlandsprodukts, weit mehr als beispielsweise die Landwirtschaft. Die freie Heilpraktikertätigkeit in Ausserrhoden ist nun bedroht: durch das 2002 in Kraft getretene Heilmittelgesetz und das gleichzeitig geschaffene Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic, das die Zulassungshürden für Heilmittel verschärft hat – und die kantonale Ausserrhoder Zulassungsbehörde 2009 ersetzen wird.
Deutet dies auf eine abnehmende Akzeptanz komplementärmedizinischer Methoden hin? «Im Gegenteil», sagt Naturarzt Sigrist. Auch die grossen Pharmafirmen zeigten inzwischen grosses Interesse an pflanzlichen Wirkstoffen. Also: Würde er eine seiner Rezepturen verkaufen? Sigrist lächelt ein sehr sanftes Lächeln und sagt bestimmt: «Nein. Prinzipiell nicht.» Politisch hingegen steht die vollumfängliche Anerkennung aus. In gerade mal dreizehn Kantonen dürfen NaturheilerInnen mit Bewilligung praktizieren – in den übrigen Kantonen existieren nach wie vor unklare Verhältnisse. Die Entscheidung von Bundesrat Pascal Couchepin, die Alternativmedizin aus der Grundversicherung zu nehmen, kann Sigrist nicht verstehen. «Die Behandlungen sind wirksam und ausserdem viel günstiger als die Schulmedizin. Ich sage immer, die Schulmedizin hat keine Heilmittel, denn sie heilt nicht, sondern behandelt mit ihren Erzeugnissen nur die Symptome. Wir sitzen am längeren Hebel.»
Alfred Sigrist glaubt an die Zukunft seiner Kunst. Eine Überzeugung, die er ebenso unerschütterlich vertritt wie alle andern. Einer, der mit 88 Jahren keine Angst vor Krankheiten und Tod hat, fürchtet auch einen Bundesrat nicht.
Alfred Sigrist: «Appenzeller Naturarztpraxis». Appenzeller Verlag. Herisau 2001. 224 Seiten. 58 Franken.
Ders.: «Appenzeller Kräuterapotheke. Die wichtigsten Heilpflanzen und ihre Anwendung». Appenzeller Verlag. Herisau 1997. 215 Seiten. 58 Franken.
Couchepins Versprechen
Komplementärmedizinische Kreise lancierten im Herbst 2004 eine Initiative, die die Rolle der Komplementärmedizin in der Bundesverfassung verankern soll. Im Herbst 2005 wurde sie mit fast 140000 gültigen Stimmen eingereicht. Ende August 2006 beschloss der Bundesrat, dem Parlament die Ablehnung der Initiative zu empfehlen. Für eine qualitativ hochstehende, staatlich gewährleistete Gesundheitsversorgung sei die Komplementärmedizin nicht zwingend notwendig, schrieb die Regierung.
Bundesrat Pascal Couchepin ist definitiv kein Freund der Komplementärmedizin: Als er im Juni 2005 beschloss, fünf komplentärmedizinische Methoden (Anthroposophische Medizin, Homöopathie, Neuraltherapie, Phytotherapie und Traditionelle Chinesische Medizin) aus dem Katalog der Pflichtleistungen der Krankenkassen auszuschliessen, ging es ihm nicht nur um die 60 bis 80 Millionen Franken Einsparungen für die Kassen. Diese sind angesichts von Pflichtleistungen in der Höhe von rund 20 Milliarden Franken vernachlässigbar. Couchepin begründete seinen Entscheid wesentlich mit den negativen Resultaten, die eine – umstrittene – Studie über die Wirksamkeit solcher Therapien ergeben habe. Er versprach bei dieser Gelegenheit, alle anderen - auch schulmedizinischen – Leistungen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Wir warten.
Johannes Wartenweiler