In der Krise: Die feige Schweiz

Nr. 14 –

Das Land ist fett, träge und ängstlich geworden. Die PolitikerInnen agieren wie ein Hühnerhaufen. Hat die Schweiz ihren Zenit überschritten?


Die Schweiz mag es nicht, sich einen Spiegel vorzuhalten. Und sie mag es erst recht nicht, wenn dies andere tun. Ulrich Thielemann, Wirtschaftsethiker an der Universität St. Gallen (HSG) und Deutscher, musste dies in den vergangenen Tagen feststellen. Er hatte vor dem Finanzausschuss des deutschen Bundestags gesagt, in der Schweiz kursierten «abenteuerliche Argumente zur Rechtfertigung des Bankgeheimnisses». Danach präzisierte er: «Den dominanten politischen Kräften in der Schweiz fehlt jegliches Unrechtsbewusstsein in Bezug auf die Verweigerung des Informationsaustausches.»

«Selber Steueroase!»

Die Reaktionen folgten prompt: Der emeritierte HSG-Professor Franz Jäger forderte die Entlassung des Wirtschaftsethikers, Thielemann erhielt zahllose E-Mails, viele Beschimpfungen, wenige Komplimente. Die Leserbriefseite des «St. Galler Tagblatts» quillt über. Volkes Zorn ergiesst sich über den Deutschen Ulrich Thielemann.

Was sagt dieser Fall über die Schweiz und ihre Befindlichkeit mitten in der Krise?

Im kindischen Streit rund um die Indianervergleiche des deutschen Finanzministers Peer Steinbrück offenbarten sich die Verwirrung, die Hilflosigkeit und das fehlende Unrechtsbewusstsein der politischen Elite und der Medien in diesem Land: Bundesrat Ueli Maurer kündigte an, seinen Dienst-Mercedes (Deutschland!) einzutauschen und den Kauf von Kampfjets (Ausland!) aufzuschieben. Ein Rorschacher Nationalrat griff gar zur Nazikeule, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn ein Politiker nicht mehr weiter weiss. Und auf den Vorwurf aus dem Ausland, die Schweiz sei eine Steueroase, hiess es nur: Aber die anderen doch auch. Als ob anderes Unrecht das eigene Unrecht rechtens machte.

Finanzminister Hans-Rudolf Merz versucht, die Krise mit süffisanten Bemerkungen und einer Doppelstrategie auszusitzen. Als er vor drei Wochen das Bankgeheimnis faktisch aufhob, gab er sich nach aussen kooperativ (die Schweiz übernimmt die OECD-Standards) und beschwichtigte gegen innen (es dauert Jahre, bis die Doppelbesteuerungsabkommen neu verhandelt sind). Derweil versuchen die anderen Bundesräte, sich gegenseitig mit Indiskretionen an die Presse zu zerfleischen.

Die Schweiz ist ein reiches Land: Es gibt gute Schulen und eine grosszügige Altersvorsorge. In den letzten hundert Jahren ging es stets aufwärts. Aber vielleicht hat das Bankenland mittlerweile den Zenit überschritten: Die Pensionskassen haben sich auf den Finanzmärkten verzockt, die AHV hat massive Verluste erlitten, und der Sozialstaat wird durch permanentes «Missbrauch»-Gerede demontiert.

Eigensinnig, opportunistisch

Die Schweiz hat bisher nie den Mut gehabt, den Finanzplatz in Ordnung zu bringen. Medien und Politik treten lieber gegen unten, gegen Asyl- und Sozialhilfemissbrauch, und sie hecheln nach oben, zu den Banken.

Das Land ist fett und träge geworden, für die Wirtschaftskrise ist es zu langsam, zu verwirrt - und zu ängstlich. Denn die Bevölkerung fürchtet um ihren Wohlstand und klammert sich an Mythen - Wilhelm Tell, der sogenannte Sonderfall, das Bankgeheimnis.

Den «Sonderfall Schweiz», der im Inland oft als Rechtfertigung für eigensinniges, opportunistisches Verhalten vorgebracht wurde, konnte das Ausland in der Geschichte kaum je verstehen. Er war immer wieder Anlass für Konflikte: Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Schweiz fast bis zum bitteren Ende Wirtschaftsbeziehungen zum Dritten Reich aufrechterhalten hatte; oder als die Schweiz im Apartheidstaat Südafrika geschäftete; und heute, wenn die Schweiz SteuerhinterzieherInnen und anderen Kriminellen die Möglichkeit bietet, ihr Geld hier zu verstecken.

Der Finanzplatz und seine medialen Sekundanten - von «Weltwoche»-Verleger Roger Köppel bis hin zum Finanzjournalisten Beat Kappeler - erzählen die Geschichte des Bankgeheimnisses immer wieder überhöht und falsch, obwohl sie es wohl besser wissen: Das Bankgeheimnis wurde 1934 keineswegs eingeführt, um jüdische Gelder vor den Nazis zu schützen. Diese Legende erfand die Schweizerische Kreditanstalt (heute Credit Suisse) 1966, als die Schweiz erstmals wegen der nachrichtenlosen Vermögen von Naziopfern in Bedrängnis kam. Die Historiker Sébastien Guex oder auch Peter Hug haben dies schon vor Jahren aufgearbeitet.

Geschlossene Gesellschaft

Vielleicht ist es Angst, die zu einem seltsamen finanzplatzpatriotischen Schulterschluss führt. Wenn ein Deutscher wie Thielemann den Schweizer Finanzplatz kritisiert, reagiert die Schweizer Bevölkerung mit Empörung. Verwechselt sie den Finanzplatz mit dem Land?

Die Schweiz als eine geschlossene Gesellschaft, in der man mit dem Finger auf «Nestbeschmutzer» zeigt - oder neuerdings auch wieder auf «Landesverräter»: Da passt es zeitlich gut, dass ausgerechnet jetzt ein einst als Landesverräter beschimpfter Wachmann zurück in die Schweiz kommt. In diesem Sinne: Willkommen daheim, Christoph Meili.