Tiger versus Ureinwohner: «In zwei Wochen müsst ihr weg sein»
In Indien werden derzeit Tausende von UreinwohnerInnen aus den Wäldern vertrieben. Was hat der Bengalische Tiger damit zu tun?
WOZ: Sie sagen, die indische Regierung nehme den Ureinwohnern Land weg, um dort Tigerreservate zu schützen oder zu eröffnen. Haben Sie Beispiele?
P. V. Rajagopal: Allein im Bundesstaat Madhya Pradesh, wo ich herkomme, gibt es 11 Nationalparks und 32 Tierschutzgebiete. Zusammengenommen wurden hier etwa 1,5 Millionen Indigene vertrieben. Im Kanha-Nationalpark etwa leben Menschen vom Stamm der Baigas. Diese Leute sind komplett vom Wald abhängig, sie leben nicht nur von der Landwirtschaft, sondern sind auch Sammler. Je nach Jahreszeit holen sie Blumen, Honig und Kräuter aus dem Wald und verkaufen sie auf dem Markt. Die rund 500 000 Baigas, die verteilt in verschiedenen Parks leben, haben nun grosse Probleme wegen eines Tierschutzgesetzes namens Wildlife Protection Act und wegen des Gesetzes zur Erhaltung des Waldes, dem Forest Conservation Act. Diese ermächtigen die Regierung, die Adivasi aus ihren Gebieten zu vertreiben, um so an ihr Land zu kommen.
Wie funktioniert diese Vertreibung der Leute in der Praxis?
Zuerst wird ein Kerngebiet bestimmt, in das niemand mehr rein darf. Dann wird überprüft, ob noch jemand in angrenzenden Gebieten lebt. Falls Leute gefunden werden, verbrennt man häufig ihre Hütten, vertreibt sie mit Gewalt.
Es gibt also keine Vorwarnung, dass sie das Gebiet verlassen müssen?
Es ist natürlich nicht so, dass es gar keinen Dialog gibt. Doch dabei handelt es sich vonseiten des Staates nicht um Bitten, sondern um Befehle wie: «In zwei Wochen sollten wir euch hier nicht mehr antreffen!» So einfach ist das. Sobald die Leute aus den Kerngebieten verdrängt sind, werden die Menschen in den Pufferzonen zwischen den Kerngebieten und der Zivilisation ebenfalls gebeten, diese Gebiete zu verlassen. Anfangs dürfen sie noch hinein, doch später werden ihre Felder verbrannt, sie werden geschlagen und bestraft, wenn sie diese Flächen betreten. Es ist, als betrachtete die Regierung alle in den Wäldern lebenden Menschen als Feinde. Deswegen werden die Adivasi vertrieben. Die Regierung lässt die Felder auch zerstören, indem sie Kühe darauf weiden lässt. Oder der Staat erntet die Felder selbst ab und verkauft dann das Getreide. Die Adivasi bekommen nichts dafür.
Das Getreide wird ihnen also gestohlen?
Nun ja. Im Prinzip bauen die Adivasi das Getreide ja bereits illegal auf den Waldflächen an.
Warum illegal?
Laut dem Walderhaltungsgesetz von 1980 haben nur diejenigen Anspruch auf Land, die bereits vor 1980 in den Parks lebten. Land, das erst später im Grundbuch eingetragen wurde, ist automatisch Staatseigentum geworden. Doch für Volksgruppen wie die Baigas, die ihr ganzes Leben im Wald gelebt haben, also nicht ein für unsere Begriffe «zivilisiertes» Leben geführt haben, ist es schwer, zu beweisen, dass sie immer schon da waren, denn sie sind natürlich in keinem Grundbuch eingetragen.
Wird den Betroffenen Kompensation angeboten?
Nein, denn Kompensation bekommen nur jene, die einen Grundbucheintrag haben. Aber die Mehrheit lebte ja dort, weil schon ihre Vorfahren dort lebten. Das nennt man Erbrecht.
Werden die Betroffenen alle wie eben beschrieben vertrieben, oder gibt es auch unterstützende Umsiedlungsmassnahmen?
Das ist das Problem: Es gibt keine Systematik; niemand sagt den Leuten, wann sie wohin gehen sollen oder wo sie wie viel Land bekommen könnten. Ohne solche Rehabilitierungsangebote wird nicht nur die Existenzgrundlage, sondern auch die Kultur der Adivasi zerstört. Und obwohl das Gesetz vorschreibt, dass Leute, die vor 1980 Land besassen, ordnungsgemäss umgesiedelt werden sollen, geschieht das nicht. Deshalb haben wir vor zwei Jahren einen 350 Kilometer langen Friedensmarsch mit 25 000 Leuten nach Delhi gemacht. Daraufhin wurde der Forest Rights Act erlassen.
Was konnten Sie damit konkret erreichen?
Die Korrektur, dass Landbesitz bis 2005 berücksichtigt werden muss, bevor auf dem betreffenden Land ein Tigerschutzgebiet oder Ähnliches eingerichtet wird. Dass einem also das Land gehört, auf dem man bis 2005 siedelte. Doch man muss sich vor Augen halten, dass eine kleine Gruppe ungebildeter Adivasi hoch qualifizierten Regierungsmitarbeitern sowie einer starken Holz-, Bergbau- und Tourismuslobby gegenübersteht. Diese Adivasi sind arm und ehrlich, sie wissen nicht, wie sie mit der zivilisierten Welt umgehen sollen.
Wohin gehen die Vertriebenen?
Oftmals in die Städte. Dort versuchen sie sich mit Handarbeit zu ernähren. Doch sie sind nicht an Städte oder gar Slums gewöhnt, und viele überleben das nicht lange. Wir sagen, einen Adivasi aus dem Wald zu holen, ist wie einen Fisch aus dem Wasser zu nehmen. Im Grunde bringt man sie damit um.
Können denn Tiger und Adivasi zusammenleben?
Absolut! In Rajasthan fragte ich eine Gruppe Adivasi einmal, ob sie böse wären, wenn ein Tiger käme und eines ihrer Tiere tötete. Sie sagten, das sei überhaupt nicht schlimm, denn wenn sie hungrig seien, würden sie schliesslich auch eine Kuh oder einen Büffel schlachten.
Ist das nicht eine etwas romantische Vorstellung?
Nein. Ich glaube, dass das Leben dieser Völker kaum von der Aussenwelt verstanden wird.
Was erwarten Sie von einem Touristen, der nach Indien gekommen ist, um sich Tiger anzuschauen?
Ich denke, jeder Tourist ist sich seiner Verantwortung als Reisender bewusst. Man muss sich im Klaren sein, dass die Tigerreservate die Vertreibung vieler Menschen zur Folge hatten. Touristen könnten das thematisieren und so zur Verbesserung der Situation von Vertriebenen beitragen. Ich sage nicht, dass es keine Tigerparks geben soll. Der Tourismus sollte aber im Einklang mit der Lebensweise indigener Völkern erfolgen.
Profitieren die Adivasi auch vom Tigertourismus?
Manchmal springt eine Einstellung in einem Hotel oder Restaurant heraus. Insgesamt spielen die Adivasi aber keine grosse Rolle in der Tourismusbranche.
Haben Sie eine Idee, wie man die Adivasi stärker an den Gewinnen beteiligen könnte?
Wenn es innerhalb des Reservates Adivasi-Dörfer gäbe, liesse sich das als Teil des touristischen Programms anbieten. So könnten Reisende einen Einblick in das Leben der Ureinwohner bekommen, den Wald besser kennenlernen. Das Geld aus dem Tourismus könnte somit für die Wiedereingliederung der Adivasi verwendet werden.
Sie sind selbst an einem ähnlichen Projekt beteiligt ...
Unser Projekt heisst «Indian Village Tour». Jeder, der sich für das Leben in einem Dorf interessiert, kann ein oder zwei Tage mit den Dorfbewohnern verbringen. So lernt man die Lebensweise der Menschen kennen. Anschliessend kann man in ein anderes Dorf gehen. Die Tour dauert eine bis zwei Wochen. Menschen, die sich für das ländliche Leben interessieren, können so eine andere Seite des globalisierten Indien kennenlernen. Wie viel vom Land der indigenen Bevölkerung, ihrem Wasser und ihrem Wald wird geschützt, und wie viel wird ihnen im Namen von Globalisierung und Entwicklung genommen? Man wird sehen, dass die Entwicklung der Städte auf Kosten der Dörfer geht. So werden die Wasserressourcen in die Städte umgeleitet, weil dort grosse Nachfrage besteht. Grosse Landflächen werden zum Bau sechsspuriger Strassen und zum Anbau von Agrartreibstoffen eingenommen. Der Wald wird kontrolliert, um Tourismus betreiben zu können. Was bleibt da den Menschen? Wenn Wasser, Land und Wald verschwinden, wie sollen sie dann überleben? Das ist eine der grossen Fragen, denen Indien gegenübersteht.
Welches Fazit ziehen Sie aus dem Konflikt zwischen den Adivasi und dem Staat Indien?
Menschen und Tiere können zusammenleben. In der Vergangenheit haben sie das bereits getan. Die Entwicklung der einen darf nicht auf Kosten der anderen erfolgen. Momentan ist es jedoch so, dass manche im Namen des Fortschritts Profite einfahren, während andere in die Armut getrieben werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass der Schutz der Ressourcen nicht allein Aufgabe der Regierung sein sollte. Der Schutz der Wälder, des Landes und des Wassers sollte ein gemeinschaftlicher Prozess sein. Die Menschen sollten sich mehr auf Mahatma Gandhi besinnen. Er sagte, es sei genug da für die Bedürfnisse aller, aber nicht für die Gier auch nur eines Einzigen. Die Adivasi können nach ihren Bedürfnissen im Wald leben, Bauern können nach ihren Bedürfnissen auf ihrem Land leben. Anstatt das zu verwirklichen, mobilisieren wir alle Ressourcen, um einen Fortschritt herbeizuführen, der auf Gier basiert. Fortschritt sollte danach bewertet werden, ob er die Menschen zufriedenstellt. In Indien sind jedoch zu viele Adivasi, Bauern und arme Menschen mehr als unzufrieden.
P. V. Rajagopal (66) ist seit den siebziger Jahren als Menschenrechtsaktivist in Zentralindien aktiv. Rajagopal wurde in Europa unter anderem durch sein Mitwirken in Karl Saurers Film «Rajas Reise» bekannt.
Menschen und Tiger
Im Gegensatz zu P. V. Rajagopal sagt der indische Staat, dass es heute nicht mehr möglich sei, Adivasi-Dörfer in Tigerschutzgebieten zu lassen. Früher, als diese Siedlungen noch klein waren, sei dies kein Problem gewesen. Heute aber seien die Dörfer zu gross und brauchten zu viele Waldressourcen. Damit würde dieser Lebensraum nachhaltig geschädigt. In den 28 Tigerreservaten des Landes müssen deshalb in den nächsten Jahren 273 Dörfer verschwinden. Jedes Dorf hat im Schnitt etwa 250 BewohnerInnen. Zusammen sind dies also etwa 63 000 Menschen, die gehen müssen. Neue Zählmethoden haben ergeben, dass es in Indien nicht um die 4000 Tiger gibt, wie lange von der Regierung behauptet, sondern nur noch rund 1400.