Stalinistischer Terror: Die Preise der Geiger, die Schrecken der Prozesse

Nr. 29 –

Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel wirft einen neuen Blick auf die stalinistischen Schauprozesse 1937: Sie waren auch eine mediale Inszenierung, die das Gemeinschaftsgefühl kitten sollte.


WOZ: Herr Schlögel, Ihr neuestes Buch heisst «Terror und Traum – Moskau 1937». Ein irritierender Titel. Wie passt das zusammen, Terror und Traum?

Karl Schlögel: Zunächst ist es einfach ein Konstatieren, dass diese Stadt in jenem Jahr der Schauplatz des einen und des anderen war: Es gab das Festival anlässlich des hundertsten Todestags von Puschkin, es gab die Eröffnung des Gorkij-Kultur- und Erholungsparkes, es gab Filmpremieren, es gab Massenerschiessungen am Stadtrand, es gab die Schauprozesse.

Was hat überwogen, der Terror oder der Traum?

Das Jahr 1937 ist in der Erinnerung der Betroffenen und ihrer Angehörigen als ein verfluchtes Jahr zurückgeblieben, es ist ein Katastrophenjahr. Der Titel signalisiert in keiner Weise eine Balance zwischen Schrecken und Gewinn. Ich stelle nur fest, dass beides am gleichen Ort gleichzeitig stattgefunden hat – das allerdings programmatisch, weil die Arbeitsteilung in der Wissenschaft dazu geführt hat, dass die einen sich mit den schönen Sachen beschäftigen und die anderen mit den schrecklichen. Beides findet aber gleichzeitig und ineinander verschränkt statt. Das war ja auch ein grosses Problem für die Zeitgenossen.

Ein Beispiel für den von Ihnen geprägten Begriff der «Geschichte der Gleichzeitigkeit» also.

Ich hatte immer Geschichte an ihre Schauplätze zurückgebunden. Aber in diesem Fall war es extrem schwierig, weil es um den Schauplatz eines grossen Massakers geht, auf das die Betroffenen sich keinen Reim machen konnten. Wir als Historiker sind ja immer unglaublich schlau und klug und weise, weil wir alles aus grosser Distanz sehen. Die Zeitgenossen wussten gar nicht, was vor sich geht. Und diese Frage «Warum?» – dieser Frage bin ich nachgegangen und habe sie ernst genommen.

Haben Sie eine Antwort gefunden?

Mein Ziel war eigentlich nicht, darauf unmittelbar eine Antwort zu finden. Sondern zunächst den Schauplatz noch einmal zu betreten und die Fragen zu stellen. Es ergibt sich eine ganze Menge von Fragen, die nie gestellt worden sind. So fand im Jahr 1937 eine permanente Massenmobilisierung statt. Es ging um die Wahlen zum Obersten Sowjet – mit Wahllistenaufstellung, Kandidatenbefragung, Kritik der Kandidaten. Daraus ergibt sich die Frage, wie diese Massenmobilisierung, wie diese Wahlkampagne zusammenhängt mit den Massenmorden. In einem Jahr sind fast 700 000 Menschen getötet worden, und zwar planmässig. In Moskau allein waren es 25 000.

Und wie hängen Wahlkampagne und Massenmorde zusammen?

Es gibt neben den Opfern eine grosse Gruppe von Gewinnern, die auf die frei gewordenen Plätze scharf waren – das gehört eben auch noch zu diesem Jahr 1937. Bei jedem Platz, der durch Verhaftung und Exekution frei geräumt wurde, gab es Hunderte, die darauf warteten, ihn einzunehmen. Die ganze Führungsgarnitur der sechziger Jahre, also Leute wie Leonid Breschnew, hat in den dreissiger Jahren Karriere gemacht. Es ist eine Geschichte von Zerstörung und von Aufstieg. Hunderttausende haben von diesen Säuberungspraktiken profitiert. Junge haben atemberaubende Karrieren gemacht. Sie wurden in die denkbar höchsten verantwortlichen Positionen katapultiert. Man kann verstehen, dass die Zeitgenossen diesem Wirbel gegenüber fassungslos waren. Die Säuberungen von 1937 sind ja auf den ersten Blick ganz ziellos, fast lotteriemässig.

Und auf den zweiten Blick, gibt es da eine Rationalität?

Es gibt ganz gewiss eine Zielgerichtetheit innerhalb dieses chaotischen Prozesses. Man kann sagen, dass es eine gezielte Beseitigung und Tötung der als riskant eingeschätzten Gruppen gab. Und damit ist wieder der Zusammenhang zur Wahlkampagne hergestellt. Die Partei hatte ungeheure Angst, dass ihr diese Wahlkampagne aus der Hand gleiten, dass sie sich verselbstständigen könnte und dass sich die den Kommunisten tatsächlich feindselig gesonnenen Elemente als Alternative herauskristallisieren könnten. Deswegen liegt für mich der Zusammenhang zwischen dem Ablauf der Wahlkampagne und der gezielten Tötung, der Ausschaltung der sogenannten Risikogruppen, auf der Hand.

Aber da drängt sich doch die Frage auf, warum haben sie nicht einfach die Wahlen abgeblasen, statt diesen Massenterror auszulösen?

Ja, das ist ja überhaupt die Frage, warum die sowjetische Führung eine neue Verfassung kreiert hat, die sich radikal von der alten Verfassung unterschied. Sie hob das Zensuswahlrecht auf, sie entkriminalisierte die bisher vom politischen Leben Ausgeschlossenen: bürgerliche Elemente etwa, Offiziere, politische Gegner. Meine These ist, dass das Regime nach so viel Gewalt, nach Notstandsmassnahmen und der Kollektivierung – die ja praktisch ein versteckter oder auch offener Bürgerkrieg war – eine neue Balance finden wollte. Dass es darauf ankam, das Land nicht nur mit Gewalt, sondern auch mit einem gewissen Konsens zusammenzuhalten. Das Land war aus den Fugen. Meine These ist, dass die Verfassung nicht nur ein demagogischer Trick war, wie das häufig interpretiert wird; es war ein Versuch, die sehr schwache Basis der Legitimität zu stärken und irgendwie einen breiteren Konsens herzustellen.

Sie sprechen mehrfach davon, dass das Land völlig aus den Fugen war, Sie sprechen ja sogar von einem Durchdrehen der ganzen Gesellschaft. Welche Rolle spielten in so einer Situation die Schauprozesse?

Ich glaube, dass die Schauprozesse in diesem Rahmen eine ganz eigene Bedeutung bekommen. Man sollte sie nicht nur als Farce interpretieren. Es war vielmehr eine grosse – man muss fast sagen: grossartige – mediale Inszenierung zur Produktion von Gemeinschaftsgefühl gegen Bedrohungen. Eine mediale Maschine zur Erzeugung von Angst, zur Erzeugung von apokalyptischen Gefahren, zur Produktion einer Lynchatmosphäre. Viele dieser Gefahren waren ja nicht aus der Luft gegriffen. Der Krieg lauerte am Rande. Und die Krise gab es wirklich, es gab überall Unglück, Havarien, Epidemien. Der einfache Nenner, um diese wirklichen Friktionen, Konflikte, Schwierigkeiten gleichsam zu bannen, war: ein Feind. Und auf diesen Feind wurde sozusagen die ganze Meute losgelassen. So muss man, so glaube ich, die Schauprozesse sehen.

In Ihrem Buch ziehen Sie keine Vergleiche zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus. Bewusst?

Ja – und zwar nicht, weil ich es moralisch oder wissenschaftlich verwerflich fände, das zu tun. Sondern ich glaube, dass diese Fixierung auf das deutsche Vis-à-vis den Blick nicht schärft, sondern blind macht. Man bleibt im Kategorien- und Koordinatensystem dessen, was man kennt. Es funktioniert einfach hinten und vorne nicht. Das Deutschland, das Adolf Hitler überwältigt hat, war eine bürgerliche Gesellschaft, bürokratisch wohlgeordnet, gut organisiert. Alles hatte seinen Platz. Und das zu vergleichen mit einem Land, das seit zwanzig Jahren nie zur Ruhe gekommen war ... Lasar Kaganowitsch, einer von Stalins engsten Mitarbeitern, hat gesagt, das ganze Land sei wie ein einziges Zigeunerlager, in dem nichts Bestand habe. Das sind völlig andere Verhältnisse. Man muss den Blick nochmals frei bekommen, um die Fragen richtig zu stellen. Das ist mein Anliegen.

Sie haben eine eigene Methodik: Sie ziehen das Flanieren vor Ort dem Studium in den Archiven vor; Sie analysieren mit Vorliebe Adressbücher, Landkarten, Fahrpläne. Laufen Sie da nicht Gefahr, sich in den Quellen zu verlieren und Wichtiges nicht mehr von Nebensächlichem unterscheiden zu können?

Ich setze hier auf Walter Benjamin, der gesagt hat, dass Historiker eigentlich nur die Aufgabe haben, etwas zur Evidenz zu bringen. Die Ereignisse sind da, sie sind nicht von mir erfunden, sondern abgelesen aus einem Studium vor allem der Zeitungen der Jahre 1936 bis 1938, und durch eine jahrzehntelange Beschäftigung mit diesem historischen Feld. Ich habe eine gewisse Treffsicherheit und weiss, was dazugehört, dass da zum Beispiel die Paraden auf dem roten Platz dazugehören, dass der Beginn des Schuljahres und die Träume der Kinder dazugehören, dass der Schauprozess, aber dass auch die internationalen Preise der Geiger und Pianisten und die Weltrekorde der Piloten dazugehören.

Zurzeit läuft in Russland ein weiterer Prozess gegen den früheren Jukos-Chef Michail Chodorkowskij. In der «Süddeutschen Zeitung» stand dazu unlängst, dieser Prozess trage so fantastische Züge, dass nicht einmal der Angeklagte selbst die Vorwürfe verstehe. Das erinnert doch sehr an das, was Sie über die Schauprozesse schreiben. Inwieweit gibt es hier Parallelen?

Ich glaube, es gibt Parallelen, die mit der politischen Kultur der Organisatoren und Inszenatoren dieser Prozesse und anderer Massnahmen zu tun haben. Viel sinnfälliger als die Prozesse ist, dass wieder diese Geschichte mit der Fünften Kolonne auftaucht: dass alles, was nicht konform ist, unter Verdacht gestellt und als Vaterlandsverrat, als Subversion im Dienst einer feindlichen Macht interpretiert wird. Diese ganzen Stereotype der Produktion von Angst und von Feindbildern werden wieder wachgerufen und aktualisiert. Das ist natürlich die spontane Handschrift jener Leute, die nicht anders denken können, die daran gewöhnt sind, dass Russland eine geschlossene Gesellschaft ist und alles, was different und unterschiedlich ist, nicht dazugehört. Das sitzt sehr, sehr tief.

Sie haben vorher davon gesprochen, dass die Schauprozesse von 1937 ein Gemeinschaftsgefühl, einen Zusammenhalt erzeugen sollten. Gilt das auch heute?

Man muss die weiterlaufenden Linien sehen, aber auch die Differenzen. Die Führung versucht, solche Prozesse für eine solche Mobilisierung zu benutzen. Aber die russische Gesellschaft heute ist nicht mehr die von 1937. Die heutige russische Gesellschaft ist erschöpft, sie ist alt. Sie hat in den letzten zwanzig Jahren von der Freiheit gekostet. Sie hat Millionen russischer Touristen im Ausland, sie weiss, wie die Welt ausserhalb des Landes beschaffen ist. Man kann ihr keinen Schrecken mehr einjagen. Millionen haben ihre eigenen Erfahrungen gemacht, und sie haben die Bedeutung des Privaten entdeckt. Man kann sie nicht einfach per Knopfdruck oder mit Agitpropmethoden in Bewegung setzen. Man geht vielleicht auf den Roten Platz, um sich ein Popkonzert anzuhören. Aber die Moskauer Bevölkerung heute auf den Roten Platz zusammenzurufen, um dort einen Feind zu vernichten, das geht nicht. Diese Zeiten sind vorbei. Insofern glaube ich auch nicht, dass man von einer Restalinisierung sprechen kann. Es ist etwas ganz Neues, eine Kombination aus medialer Meisterschaft und dem Wachrufen dieser alten Instinkte der KGB-Leute.


Der 1948 geborene Karl Schlögel hat in Berlin, Moskau und St. Petersburg Philosophie, Soziologie, osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Er ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Schlögel plädiert für die Rückgewinnung des geografischen Raumes in der Geschichtsschreibung – in seinen Büchern holt er sozusagen die Geschichte an ihre Schauplätze zurück. Für sein jüngstes Werk, «Terror und Traum. Moskau 1937», erhielt er im März 2009 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.