Der Bundespräsident: Merz’ letzte Anekdote

Nr. 35 –

Ausreise der Geschäftsleute hin oder her: Die Schweiz rätselt über die Motive des Hans-Rudolf Merz für seinen Libyen-Trip.


Es ist Dienstagnacht, und es ist eine bizarre Geschichte. Seit Stunden steht der Bundesratsjet auf einer Militärbasis in Libyen, um zwei Geiseln, die eigentlich zwei Geschäftsleute sind, abzuholen. Am TV wird eine Sondersendung angekündigt, sobald der Jet zurück sei.

Zeit, wieder einmal im Büchlein «Die aussergewöhnliche Führungspersönlichkeit» von Hans-Rudolf Merz zu lesen: «Wer gelegentlich in Vorstandsetagen, Fraktionszimmern, Kommandozentralen, Hochschulsälen oder Kreuzgängen zu tun hat, der wird immer auf die Präsenz einer aussergewöhnlichen Persönlichkeit stossen. Anwesende verneigen sich unsichtbar vor ihr. Man spürt die Aura eines Menschen und vernimmt gleichzeitig eine Idee, eine Botschaft, die mit ihm verbunden ist. Seine Handlungsweisen und Gedankengänge stossen in seinem Bannkreis auf Zuneigung und Bejahung, ausserhalb auf Ablehnung und Verneinung.»

Damit wäre schon fast alles gesagt zum Kniefall von Tripolis. Gewiss, man kann glauben, dass Merz wieder einzig die wirtschaftlichen Interessen verteidigt hat. Nur: Wie gross sind diese Interessen tatsächlich?

Letzte Woche flog der Bundespräsident nach Libyen und unterschrieb bei Premierminister Baghdadi Mahmudi einen merkwürdigen Vertrag: Die Schweiz entschuldigt sich darin offiziell für die Verhaftung von Hannibal Gaddafi. Im Juli letzten Jahres wurde der Diktatorensohn in Genf festgenommen, weil er zwei Hausangestellte verprügelt haben soll. Weiter heisst es im Vertrag, vor einem Schiedsgericht in London sollen die Umstände der Verhaftung geklärt werden. Hannibal wird der Diplomatenstatus zuerkannt, ein Urteil kann nur zum Nachteil der Genfer Regierung und Polizei gesprochen werden. Schliesslich werden die bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern wieder aufgenommen.

Nicht geregelt ist im Vertrag, wie die beiden Geschäftsleute, die seit Hannibals Verhaftung nicht mehr aus Libyen ausreisen können, in die Schweiz zurückkehren.

Export und Erdöl

Anruf beim Sprecher des Elektrotechnikkonzerns ABB: «Von uns ist nur ein Mitarbeiter betroffen. Der andere ist von einer Baufirma. Wir beschäftigen nur zehn Mitarbeiter in Libyen. Sie montieren Antriebe für die Energietechnik.» Zu den Umständen der Verhaftung des Mitarbeiters, der nach Zahlung einer Kaution auf freiem Fuss lebt, will sich ABB nicht äussern. Man versuche, ihn gut zu betreuen. Und auch wenn es zugegeben etwas merkwürdig klinge: «In Libyen ist der Geschäftsverlauf unverändert.»

Die ABB erwirtschaftet weltweit jährlich 35 Milliarden Dollar. In Libyen kommt sie laut dem Sprecher lediglich auf einen zweistelligen Millionenbetrag. «Das ist kein bedeutender Markt.» Dies bringt auch die Schweizer Exportrangliste zum Ausdruck: Libyen liegt dort nur auf Rang 62.

Anruf bei Rolf Hartl, dem Experten der Erdölvereinigung: «Wenn Libyen ausfällt, so haut das die Ölszene nicht aus den Socken.» Erdöl kommt zu einem Drittel als Rohöl, zu zwei Dritteln als Fertigprodukte in die Schweiz. Libyen liefert die Hälfte des benötigten Rohöls in die Schweiz, am gesamten Erdölbedarf deckt es fünfzehn bis zwanzig Prozent ab.

Libysches Öl in der Schweiz heisst Tamoil. Der libyschen Staatsfirma gehört eine der zwei Raffinerien im Land, jene in Collombey VS. Und sie besitzt 325 Tankstellen, was einem Zehntel des Tankstellennetzes entspricht. Wie ist Tamoil entstanden? «Anfang der Neunziger verfolgten die Erdölkonzerne die Strategie einer vertikalen Integration: vom Bohrloch bis zur Zapfsäule, alles aus einer Hand.»

Als Staatschef Muammar al-Gaddafi als zweite Reaktion auf die Verhaftung einen Ölboykott gegen die Schweiz ausrief, traf er nur die eigene Firma. Gaddafi hat Tamoil denn auch sofort erlaubt, Öl aus Algerien, Aserbeidschan und Kasachstan zu verwenden. «Es gab weder einen Versorgungsunterbuch noch eine Preissteigerung», sagt der Experte.

Sentenzen und Blödsinn

Man kann weiter denken, dass der Ausflug nach Libyen eine gut vorbereitete Werbung in eigener Sache war. Nur: Hatte ihn Merz tatsächlich von langer Hand geplant?

Zwei Tage vorher erschien in drei Schweizer Regionalzeitungen ein Interview mit dem Bundespräsidenten. Darin erzählte er, wie er nach der Niederschlagung des Prager Frühlings mit seinem Ford Taunus einen befreundeten Maler über die Grenze schmuggelte, «an den Kalaschnikows der Roten Armee vorbei». Merz bietet die Episode seit Jahren feil – warum gerade jetzt wieder?

Anruf beim Autor des Interviews: «Das war Bruder Zufall.» Merz habe die Geschichte vor einigen Wochen an einem Vortrag in Budapest erwähnt. Der Autor hat Merz von sich aus angefragt, sie nochmals zu erzählen. Die Geschichte war nicht geschickt gestreut, sondern zufällig erinnert.

Der Ford Taunus ist jetzt ein Bundesratsjet.

Hans-Rudolf Merz, das hat er selbst mehrfach verbreitet, liebt die Sentenz. Eine davon lautet: «Gouverner, c'est prévoir» – Regieren heisst vorausschauen. Nun ja.

Merz liebt auch die Anekdote. Anekdoten sind immer rund. Sie bringen Brüche und Abhängigkeiten zum Verschwinden. Der Verkauf der Ausserrhoder Kantonalbank an die UBS, der ihm die politische Karriere ermöglichte, erscheint als Gesellenstück. Auch wenn es einen anderen Kaufinteressenten gab und auch wenn fast alle Akten dazu fehlen. Die Rettung der UBS wiederum könnte doch noch aufgehen – zum Preis des Notrechts und ohne dass irgendeine Einschränkung von der Grossbank verlangt wurde. Von den faulen Papieren, welche die Nationalbank übernehmen musste, und vom Fall des Bankgeheimnisses ganz zu schweigen.

Er verschwindet

Jetzt, beim Libyen-Deal, kehren die Geschäftsleute zurück, die vermutlich sowieso gleich im Zug einer Amnestie zum Jahrestag von Gaddafis Machtübernahme zurückgekehrt wären. Was bleibt, ist Merz’ merkwürdiger Vertrag gegen jede Kollegialität und den Föderalismus.

Angenommen, die wirtschaftlichen Interessen waren gar nicht so wichtig. Angenommen, es gab keine Planung, ausser dass er vielleicht von der Erinnerung an seinen angeblichen Heldenmut inspiriert war. Dann scheint es, dass Hans-Rudolf Merz, jahrzehntelang Laufbursche von UBS und Economiesuisse, mit seinem Ausflug bei sich selbst angekommen ist.

Es ist Mittwoch, und ob der Bundesratsjet gleich landet, spielt keine Rolle mehr. Der Libyen-Deal war eine letzte grosse, irrwitzige Verbeugung. Diese Anekdote lässt keine Umstände mehr verschwinden. Aus dieser Anekdote kann nur einer verschwinden: Merz selbst.