Kapitalismus und Krise: Warnungen und Gefühle

Nr. 36 –

Zwei neue Bücher zeigen die Schwächen der liberal-orthodoxen Wirtschaftswissenschaft – und die ihrer politischen AnhängerInnen.


Die Debatte über die Frage, welche Konsequenzen auch die Wirtschaftswissenschaften aus der jetzigen Jahrhundertkrise ziehen müssen, scheint zu beginnen. So wird Dennis Snower, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, vor kurzem in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» mit den Worten zitiert: «Es ist eine Katastrophe. Was wir in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren in der Makroökonomie gemacht haben, ist durch die Krise komplett über den Haufen geworfen worden.»

Auch deshalb kommen diese beiden Bücher zur rechten Zeit. Es wird in der Schweiz oder in Deutschland vermutlich keine Wahrheitskommission geben, leider, die öffentlich darüber verhandelt, wer welche Schuld trägt, wer welche Konsequenzen zu ziehen hat, wer was hätte rechtzeitig wissen können. Aber gäbe es solche Kommissionen, würden diese beiden Bücher und ihre Autoren eine herausragende Rolle spielen.

Die Mutter aller Krisen

Paul Krugman, einflussreicher Makroökonom, Handelstheoretiker, Nobelpreisträger des Jahres 2008 und alles andere als ein Linker, legt mit seinem Buch «Die neue Weltwirtschaftskrise» eine stark erweiterte Fassung seines bereits 1999 erschienenen Bandes vor. Der hiess damals: «Die grosse Rezession». Damals, als die Internetwirtschaft florierte, die Finanzwirtschaft in den Startlöchern sass und ein Finanzminister (Oskar Lafontaine) auch deshalb aus dem Amt floh, weil er keine Chancen mehr sah, die Finanzmärkte zu regulieren – damals wollte natürlich niemand Krugmans Warnungen zur Kenntnis nehmen. Insofern birgt diese erweiterte Neuauflage einen Wert an sich: Niemand kann sich heute herausreden, das habe man alles vorher nicht wissen können. Niemand kann es auch als Besserwisserei abtun. Es gab und gibt einfach Experten, die es besser wissen.

Krugman beschrieb bereits damals eine Welt, die sich in einer immer schnelleren Abfolge von Krise zu Krise hangelte: Mexiko 1994, Thailand 1997, Südkorea 1998. Er erläutert, wie Währungsstörungen auch in kleinen Ländern grosse Wirkung auf die Weltwirtschaft haben können, wie Staaten falsch reagieren, wenn sie ohne Absprache ihre Währungen abwerten. Und er legt in zehn Kapiteln dar, wie es letztlich zu dieser Mutter aller Krisen kommen konnte: die Fehler von Alan Greenspan, die Rolle der Hedgefonds, eine Wirtschaftswissenschaft, die keine Krisen mehr kennen wollte, die Gier nach den grossen Gewinnen, die Lust am Spielen und Finanzmärkte ohne öffentliche Kontrolle – alles Ingredienzien, aus denen die ganz grossen Krisen gemacht werden.

An dieser Stelle setzen George Akerlof und Robert Shiller – der eine Nobelpreisträger aus Kalifornien, der andere Finanzwissenschaftler in Yale – mit ihrem Buch an. Sie bestreiten grundlegend die Annahme der heutigen ökonomischen Wissenschaft, der Mensch handle als Homo oeconomicus durchweg rational. Die beiden Autoren rücken eine weitgehend ignorierte These von John Maynard Keynes in den Mittelpunkt: In seinem 1936 erschienenen Hauptwerk «General Theory of Employment, Interest and Money» erläutert Keynes, wie nicht nur Rationalität, sondern vielmehr tief liegende Instinkte und ein Auf und Ab von Gefühlen die Entscheidungen von Konsumenten wie Unternehmerinnen antreiben. Davon hänge ab, ob Menschen viel oder wenig sparten, ob Unternehmen nichts oder viel investierten.

Nur so, argumentieren sie, sei zu erklären, was die heute herrschende Wirtschaftstheorie – die keinen Platz für instinktives Handeln übrig lasse, die allein rein ökonomische Motive kenne und allein rein rationale Denkweisen zulassen wolle – nicht erklären könne: «die fundamentale Instabilität des kapitalistischen Wirtschaftssystems». So beschreiben sie, wie Zuversicht, Vertrauen, Geschichten, Fairness und anderes das wirtschaftliche Handeln beeinflussen; sie loten die Bedeutung des Herdentriebs und gesellschaftlicher Stimmungen und Strömungen aus. Sie versuchen, das Funktionieren der Wirtschaft aus dieser Perspektive zu erklären, über deren Gewichtung sicher gestritten werden kann: «Nur wenn wir uns klarmachen, dass ökonomische Ereignisse im Kern grossenteils mentale Ursachen haben, können wir sie wirklich verstehen und erklären.» Eine Grundthese, die eine schwere Bürde für die Wirtschaftspolitik mit sich schleppt: Wie kann es gelingen, diesen wesentlich auch von Instinkten getriebenen Kapitalismus vernünftig zu überwachen und zu steuern?

Lächerlich und leichtfertig

Beide Bücher erscheinen in einer Zeit, in der sich die zeitgenössische Wirtschaftswissenschaft an ihren eigenen Modellen zugrunde gerichtet hat. Deren ExpertInnen machen weiter wie bisher, obwohl sie bereits lächerlich sind. In beiden Büchern steckt Gegenwissen. Sie behandeln hochkomplexe Sachverhalte und sind für LeserInnen, die sich nicht ständig mit Finanzwirtschaft, Geldmengen- und Währungspolitik beschäftigen, trotz ihrer verständlichen Sprache kein Lesevergnügen. Aber die Arbeit, die sie einem abverlangen, ist leistbar.

Die Autoren schärfen eine kritische Sicht auf diejenigen Politikerinnen, Manager und Wissenschaftler, die die heutige Krise zu verantworten haben, auch weil sie kompetente Warnungen einfach leichtfertig in den Wind schlugen: Sie hätten über genügend Wissen verfügen können. Angesichts des Desasters der herrschenden Irrlehren erscheinen die Autoren als Geistesgrössen. Aber auch sie sind nicht allwissend. Wer ihre Werke nutzt, um die eigene Kompetenz und Kritikfähigkeit zu steigern, handelt vermutlich auch in ihrem Sinne.

Paul Krugmann: Die neue Weltwirtschaftskrise. Campus Verlag. Frankfurt am Main 2009. 248 Seiten. Fr. 44.90

George Akerlof und Robert Shiller: Animal Spirits. Wie Wirtschaft wirklich funktioniert. Campus Verlag. Frankfurt am Main 2009. 300 Seiten. Fr. 44.90