Flucht: «Warum haben Sie Angst vor der Polizei?»

Nr. 39 –

Ein Menschenrechtsaktivist deckte während Jahren im sri-lankischen Bürgerkrieg Morde auf. Als sein eigenes Leben bedroht war, flüchtete er in die Schweiz. Doch dort war er noch nicht in Sicherheit.


«Meine Reise in die Schweiz begann an einem Oktoberabend 2004 in meinem Wohnort Trincomalee, Sri Lanka», erzählt Ravi Sekera Srikantha (Name geändert). «Ich war an einer Trauerfeier, als plötzlich zwei junge Typen vor dem Haus standen und nach mir verlangten. ‹Komm mit zur Kreuzung, wir wollen mit dir sprechen›, sagten sie. Und obwohl ich bekräftigte, beim Haus bleiben zu wollen, bestanden sie darauf, dass ich mit zur Kreuzung gehe. ‹Okay, ich hole nur noch meine Tasche›, antwortete ich und verschwand wieder im Haus. Durch die Hintertür habe ich mich dann davongeschlichen. Ich hatte gesehen, dass die Jungs Revolver auf sich trugen. Nur zu gut kenne ich die Geschichten von Weggefährten, die ebenfalls von Unbekannten auf die Strasse gebeten und dort erschossen wurden.

Am nächsten Morgen fuhr ich von Trincomalee mit dem Bus nach Colombo. Von dort rief ich meine Arbeitgeber des Centre for Policy Alternatives (CAP) in Trincomalee an und erzählte, was passiert war. Meine Chefs rieten mir, vorläufig im Süden des Landes zu bleiben. Die Situation im Norden sei zu gefährlich für mich.

Die ersten Wochen verbrachte ich praktisch Tag und Nacht in meinem Zimmer. Ich hatte Angst, in Colombo erkannt zu werden. Während meiner jahrelangen Arbeit als Menschenrechtsaktivist in Sri Lanka hatte ich sowohl Morde der einen als auch der anderen Kriegspartei aufgedeckt. Und weil ich singhalesischer und tamilischer Abstammung bin, stehe ich ohnehin zwischen den Fronten: Mir glaubt weder die sri-lankische Regierung noch die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE).

Eines Nachmittags, als ich in Colombo mit dem Roller unterwegs war, wurde ich an einem Polizeicheckpoint kontrolliert. ‹Singhalese oder Tamile?›, wollte der Beamte wissen. ‹Beides ›, antwortete ich. Allerdings konnte ich es nicht beweisen, ich hatte den Pass nicht dabei. Die Polizisten trauten mir nicht und nahmen mich mit auf den Posten. Ich sagte, dass ich im Moment in Colombo wohne und Menschenrechtsaktivist sei. Da packte mich einer der Polizisten am Hemd, gab mir ein paar Ohrfeigen und sagte, ich solle aufhören, von Menschenrechten zu sprechen. Ich sei doch ohnehin einer der Tiger. Nach acht Stunden konnte ich den Posten verlassen. Ein Protokoll wurde nicht geführt.

Knapp anderthalb Monate nach dem Polizeiverhör habe ich Sri Lanka verlassen. Ich traute weder der Polizei noch den Behörden noch den LTTE. Ich bezahlte einen Schleuser für den gefälschten Pass, flog von Colombo nach Dubai und weiter nach Milano-Malpensa. In Italien blieb ich sechs Tage, ehe ich mit dem Auto in die Schweiz gefahren wurde.»


«Haben Sie jetzt alle Gründe für Ihr Asylgesuch genannt?»

Es ist Anfang März 2005, und Ravi Sekera Srikantha sitzt mit einer Sachbearbeiterin des Bundesamtes für Migration (BfM) und einem Dolmetscher im Empfangszentrum Kreuzlingen. Seine Personalien wurden bereits erfasst:

Staatsangehörigkeit: Sri Lanka.

Religion: Buddhist.

Zivilstand: verheiratet.

Kinder in Heimat- oder Drittstaat: Jahrgang 1999 und 2003.

Beruf: Keinen, Maturaabschluss im Jahr 1989.

Letzte ausgeübte Tätigkeit: Research Assistant beim Centre for Policy Alternatives (CAP).

«Warum haben Sie nicht bei der Schweizer Botschaft in Colombo ein Asylgesuch eingereicht?»

«Mein Freund sagte, die Botschaften würden kein Asyl geben, die einzige Möglichkeit sei, illegal in die Schweiz zu gehen und Asyl zu verlangen.»

«Warum ausgerechnet in die Schweiz? Was haben Sie für Kontakte oder Beziehungen hierher?»

«Der Agent, mit dem wir sprachen, sagte, er könne uns nur in die Schweiz schicken. Ich dachte auch, in der Schweiz könne ich mehr über Menschenrechte lernen.»

Warnbrief von den LTTE

Ravi Sekera hatte in Sri Lanka seit Jahren für verschiedene Menschenrechtsorganisationen gearbeitet. Im Nordosten des Landes, wo die LTTE seit bald dreissig Jahren für einen eigenen Staat kämpfen, leitete er Workshops für DorfbewohnerInnen, klärte sie über ihre Rechte auf und erläuterte Hintergründe des Konflikts zwischen den LTTE und der sri-lankischen Regierung. Zudem half er internationalen BeobachterInnen bei Reisen durch die Kriegsgebiete und beim Übersetzen von Texten. Seine Auftraggeber waren Amnesty International, Human Rights Watch, die University Teachers for Human Rights (UTHR) und das Centre for Policy Alternatives (CAP).

Ein Jahr vor seiner Flucht im Mai 2004 erhielt er von den LTTE einen Warnbrief, in dem Singhalesen und Tamilen, die für nichtstaatliche Organisationen (NGOs) arbeiten, als Verräter bezeichnet wurden. Und wörtlich: «Wie Sie sicher wissen, haben wir kürzlich einige Personen, die unsere Kultur zerstören, zum Tode verurteilt. Deswegen warnen wir die Singhalesen und die Tamilen, die im Norden und Osten für NGOs arbeiten (...). Wenn Sie damit weitermachen, sind wir gezwungen, etwas zu unternehmen.»

All das erzählt Ravi Sekera an diesem 8. März 2005 der Sachbearbeiterin des BfM – fünf Tage nach seinem 37. Geburtstag. Den Warnbrief sowie vier weitere Dokumente, die seine Tätigkeiten in Sri Lanka beweisen, legt er auf den Tisch. Darunter den Arbeitsvertrag mit dem CPA. Ravi Sekera hofft, aufgrund seiner Beweise in der Schweiz Asyl zu bekommen. Er bleibt vorläufig im Empfangszentrum Kreuzlingen.

Eine Woche später folgt die zweite Befragung. Mit dabei ist diesmal auch eine Frau von der Caritas. Die Stühle des Rechtsbeistandes und der Begleitperson hingegen bleiben leer. Ravi Sekera ist zum ersten Mal in seinem Leben ausserhalb von Sri Lanka. Alles, was er an Geld hat, sind 2130 sri-lankische Rupien, 54.80 Euro und 29 Franken – zu wenig für einen Anwalt.

«Wo genau ist Ihre Familie jetzt?»

«In Colombo bei einem Kollegen.»

«Genauer Name und Adresse?»

«Ist das unbedingt nötig?»

«Warum darf ich das nicht wissen?»

«Ich habe Angst, dass sie Schwierigkeiten bekommen.»

«Von mir?»

«Ich will lieber nicht davon reden.»

Haben Sie jetzt alles erzählt?

Dutzende von Menschenrechts- und tamilischen PolitaktivistInnen, die sich gegen die Methoden der LTTE gewehrt hatten, wurden in den vergangenen Jahren ermordet, sowohl im Auftrag von Kräften in der sri-lankischen Regierung als auch von LTTE-Leuten – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Beide Parteien haben bis heute wenig Interesse an einer Aufklärung. Ravi Sekera wollte Transparenz schaffen. Dazu besuchte er im Namen der Menschenrechtsorganisationen Dörfer im ganzen Land, recherchierte, führte Gespräche mit den Dorfobersten und -bewohnerInnen. Er organisierte Demonstrationen, die sich gegen die Morde an PolitaktivistInnen richteten, und im Fernsehen machte er sowohl die Regierung als auch die LTTE öffentlich für verschiedene Tötungen verantwortlich.


«Vor wem genau haben Sie in Ihrer Heimat Angst?»

«Vor den sri-lankischen Behörden beziehungsweise der Armee und Polizei und vor den LTTE.»

«Warum haben Sie vor den LTTE Angst?»

«Ich habe einen Drohbrief erhalten, und dann haben sie versucht, mich umzubringen, zu erschiessen.»

Ravi Sekera erzählt nochmals die Geschichte von den beiden Jugendlichen in Trincomalee vom Oktober 2004.

«Wie kommen Sie darauf, dass die Jungs von den LTTE waren?»

«Sie waren bewaffnet, und der regionale Anführer war auch dabei.»

«Wie kommen Sie darauf, dass man Sie umbringen wollte? Sie sagten doch, man wolle mit Ihnen reden.»

«Wenn ich damals gegangen wäre, hätten sie mich sofort umgebracht. Solche Fälle passierten mehrmals.»

Auch die Geschichte mit der Polizei will man nochmals hören.

«Woher wussten die Polizisten, dass Sie etwas mit Menschenrechten zu tun haben?»

«Sie haben mich befragt, und ich habe es erwähnt.»

«Warum haben Sie der Polizei erzählt, dass Sie Menschenrechtsaktivist sind?»

«Ich habe es erwähnt, damit ich respektiert werde.»

«Wieso haben Sie jetzt so grosse Angst vor der Polizei? Es passiert ja öfter in Sri Lanka, dass man für kurze Zeit zu einer Befragung mitgenommen wird. Warum hatten Sie jetzt so grosse Angst, dass Sie sofort das Land verlassen mussten?»

«Sie haben mir gesagt, ich solle sofort aufhören, für die Menschenrechtsorganisationen zu arbeiten. Vielleicht haben sich die LTTE mit der Polizei in Verbindung gesetzt. Darum könnte ich von der Polizei umgebracht werden.»

«Haben Sie in Ihrer Tätigkeit als Menschenrechtsaktivist jemals gegen das Gesetz verstossen?

«Nein.»

«Haben Sie sich bei anderen Polizeistationen oder höher stehenden Behörden über das Verhalten der Polizisten beschwert?»

«Nein. Bis ich Sri Lanka verliess, habe ich niemandem über die Verhaftung durch die Polizei erzählt.»

«Ist Ihnen auf dem Polizeiposten Gewalt widerfahren?»

«Man hat mir ein paar Ohrfeigen gegeben.»

«Haben Sie jetzt alles über Ihre Probleme in Sri Lanka erzählen können?»

«Ja.»


Ravi Sekera geht nach über zwei Stunden Befragung zurück in sein Zimmer. Er müsse warten, heisst es. Weniger als 48 Stunden nach der Zweitbefragung kommt das Schreiben aus Bern. In diesem wird der Gesuchsteller aufgefordert, die Schweiz knapp zwei Monate später zu verlassen. Ravi Sekera Srikantha erfülle gemäss Asylgesetz die Bedingungen, als Flüchtling anerkannt zu werden, nicht. Dort heisst es: «Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen (...) ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.» Und unter Absatz 2 heisst es dann: «Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken.»

Im Schreiben hält das BfM fest, dass es «möglich und zumutbar» sei, durch Übergriffe der LTTE bei den sri-lankischen Behörden um Schutz nachzusuchen. «Da es der Gesuchsteller unterliess, die Behörden über sein Schutzbedürfnis zu informieren, können die geltend gemachten Nachteile nicht dem sri-lankischen Staat zugerechnet werden und sind folglich (...) nicht asylrelevant. (...) Abgesehen davon entspricht es nicht den Tatsachen, dass Menschenrechtsaktivisten (...) mit asylrelevanten Nachteilen seitens der sri-lankischen Behörde zu rechnen haben.»

Amnesty ist «äusserst besorgt»

Die Antwort verunsichert Ravi Sekera nicht nur. Sie macht ihm Angst. Über Palmyra, eine Beratungsstelle für Asylsuchende aus Sri Lanka, findet er zu Carola Reetz, Rechtsanwältin in Zürich. Sie hat sich auf Asyl- und Ausländerrecht spezialisiert – insbesondere auf Sri Lanka – und erkennt daher schnell, dass Ravi Sekera nicht zu jener Kategorie von AsylbewerberInnen gehört, deren Anträge aussichtslos sind. «Sonst hätte ich den Fall nicht weiterverfolgt», sagt sie.

Mitte April 2005 reicht die Anwältin Beschwerde bei der Asylrekurskommission ein. Der dreissigseitigen Beschwerdeschrift legt die Anwältin nicht weniger als siebzehn Beweisstücke bei. In Dokumentationssendungen sieht man Ravi Sekera an Workshops, in Zeitungsausschnitten auf Bildern. Beigelegt sind zudem Bestätigungsschreiben der NGOs, für die er arbeitete, sowohl vom CAP und der UTHR als auch von Amnesty International und Human Rights Watch. Deren Asienzuständiger, Brad Adams, schreibt aus New York, dass man um die Sicherheit von Ravi Sekera «äusserst besorgt» sei, sollte er nach Sri Lanka zurückkehren müssen. Wer einen Warnbrief der LTTE erhalte, sei ernsthaft gefährdet. Zudem sei Ravi Sekera wegen seiner Aufklärung von Morden mehrfach durch die sri-lankische Regierung belästigt und bedroht worden. Eine Rückkehr nach Sri Lanka würde für ihn mit grösster Wahrscheinlichkeit den Tod bedeuten. «Deshalb würden wir jede Hilfe, die Ihre Regierung Herrn Sekera geben kann, sehr schätzen.»

Ähnliches schreibt ein langjähriger Mitarbeiter von Amnesty International (AI), den Ravi Sekera jeweils in die Krisenregionen begleitet hatte. Wahlbeobachter hätten es sehr schwierig, zuverlässige Personen zu finden, die ins Tamilische übersetzen könnten, gleichzeitig aber nicht für die LTTE arbeiteten. Deswegen seien Leute wie Ravi Sekera so wichtig. AI warnt vor einer Rückschaffung Ravi Sekeras. «Die Tatsache, dass Morde der LTTE sogar in Colombo passieren, zeigt, dass die Regierung von Sri Lanka in keiner Weise und nirgendwo im Land die Sicherheit von Gegnern der LTTE gewährleisten kann.» Ravi Sekera sei einem ernsthaften Risiko ausgesetzt.

Die Anwältin betont in ihrer Beschwerde noch einmal, dass es in Sri Lanka ausser den Menschenrechtsorganisationen keine unabhängige Instanz gebe, bei der Übergriffe wie jene in Trincomalee oder Mirihane gemeldet werden könnten. «Es ist unverständlich, dass eine Sachbearbeiterin im Bundesamt für Migration offensichtlich derart wenig Länderkenntnis hat, dass sie zu derartigen Schlüssen kommen kann.» In ihrer Beschwerdeschrift macht die Anwältin zudem auf die Richtlinien des UN-Flüchtlingshochkommissariats aufmerksam. Dort heisst es, dass sich kein Flüchtling entgegenhalten lassen müsse, dass er sich nicht noch mehr Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt habe.

Knapp drei Wochen später folgt die Antwort aus Bern: «Die Beschwerdeschrift enthält keine neuen erheblichen Tatsachen oder Beweismittel, welche eine Änderung unseres Standpunkts rechtfertigen könnten. Wir verweisen auf unsere Erwägungen, an denen wir vollumfänglich festhalten.» Bis zum rechtskräftigen Entscheid des BfM kann Ravi Sekera in der Schweiz bleiben.

Nach Aufenthalten in den Durchgangszentren Bauma und Bülach wird Ravi Sekera im Sommer 2006, anderthalb Jahre nach Einreichen seines Asylgesuchs, der Gemeinde Stäfa zugeteilt. Dort teilt er sich eine Fünfzimmerwohnung mit drei kurdischen Türken, ebenfalls Asylbewerbern, und einem Schweizer. Der Menschenrechtsaktivist besucht einen Deutschkurs in Oerlikon – das, so hofft er, schaffe ihm die Grundlage, um sich in der Schweiz längerfristig etwas aufbauen zu können. Im Gasthof Sonne in Stäfa findet er eine Anstellung als Küchenhilfe. Rückblickend sagt sein damaliger Chef, der Wirt Cäsar Meyer, heute: «Er war nicht nur schnell, sondern auch topmotiviert. Und zwar nicht nur die ersten paar Tage, sondern auch noch nach einem halben Jahr.» Während der rund sieben Monate, die Ravi Sekera in der «Sonne» arbeitet, nimmt er gerade mal einen Tag frei – Anfang Oktober 2007, als er nach Genf eingeladen wird, um dort zusammen mit den Gründern der UTHR einen internationalen Preis für Menschenrechtsarbeit entgegenzunehmen.

Ravi Sekera fühlt sich wohl in der Schweiz. Dennoch: Sein Misstrauen bleibt, vor allem gegenüber Mitgliedern der LTTE. Veranstaltungen der TamilInnen in Zürich bleibt er deshalb fern, genauso wie Politdiskussionen, bei denen es um die Situation in Sri Lanka geht. Was ihm am meisten Sorge macht, ist aber die Situation seiner Frau und der beiden Kinder in Sri Lanka. Die Familie lebt zu jenem Zeitpunkt bei einer Tante – und nur scheinbar in Sicherheit. Im Frühjahr 2007 sind Unbekannte ins Haus gestürmt und haben der Familie mit dem Tod gedroht, wenn sie nicht sage, wo Ravi Sekera sich verstecke. Bereits ein Jahr zuvor waren seine Eltern ebenfalls von Unbekannten überfallen worden. Auch sie suchten nach Ravi Sekera.

Im Herbst 2007 wird Ravi Sekera langsam unruhig. Mit seiner Familie hat er nur ab und zu per Telefon Kontakt, gesehen hat er sie seit über zweieinhalb Jahren nicht mehr. Seine Angst, dass ihr etwas zustossen könnte, wächst. Er wendet sich erneut an die Anwältin und bittet sie, nochmals mit den Behörden Kontakt aufzunehmen.

Keine ernsthaften Nachteile?

Am 12. Dezember 2007 reicht die Anwältin den vorläufig letzten Brief ans Bundesverwaltungsgericht ein. Darin erwähnt sie auch die Drohungen gegen Sekeras Familie. Sie fordert, den Fall möglichst rasch abzuschliessen. In den sechzehn Dokumenten, die sie neu beilegt, sind die Namen jener Leute aufgelistet, mit denen Ravi Sekera einst zusammengearbeitet hatte und die in der Zwischenzeit verschwunden sind oder getötet wurden. Eines der Opfer war der frühere Leiter des CAP, Kethesh Loganathan.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe publiziert 2007 einen Bericht, in dem sie unter anderem schreibt, dass das sri-lankische Polizei- und Justizsystem bei der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen versage. Die Flüchtlingshilfe bezweifelt auch, dass der sri-lankische Staat fähig und bereit wäre, Personen, die ins Visier der LTTE oder von Sicherheitskräften verbündeter Milizen geraten waren, Schutz zu bieten.

Sekeras Anwältin schreibt in ihrem Brief an die Behörden zum Schluss: «Es gibt relativ wenig Asylfälle, in denen so viel für eine Asylgewährung spricht wie in diesem Falle, weshalb er nicht länger als unbedingt notwendig im unklaren Status des Asylsuchenden verbleiben und seine Familie in Sicherheit bringen können sollte.»

Die Antwort des Bundesverwaltungsgerichtes kommt zwei Arbeitstage später. Es stehe «ausser Zweifel», dass Ravi Sekera bei allfälliger Bedrohung durch tamilische Extremisten hätte staatlichen Schutz in Anspruch nehmen können. «Auf dem von der singhalesischen Mehrheitsethnie beherrschten Territorium steht ihm im Heimatstaat eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, zumal nicht davon auszugehen ist, er verfüge über ein Profil, welches die LTTE veranlassen könnte, auch ausserhalb ihres direkten Einflussgebietes nach ihm zu suchen. Wie aus dem Verhalten des Beschwerdeführers zu schliessen ist, teilt anscheinend auch er diese Einschätzung, wäre er doch sonst kaum auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet in einem Land um Asyl nachzusuchen, welches in seinem Herkunftsland als Tummelplatz tamilischer Extremisten gilt. (...). Das Bundesverwaltungsgericht geht nicht davon aus, dass ihm bei seiner Rückkehr nach Sri Lanka (...) ernsthafte Nachteile drohen. (...). Die allgemeine Menschenrechtssituation in seinem Heimatstaat lässt den Wegweisungsvollzug zum heutigen Zeitpunkt klarerweise nicht als unzulässig erscheinen.»

Die Flucht über Paris

Die Anwältin ist fassungslos. Am Abend des 21. Dezember 2007 mailt sie ihrem Klienten den Inhalt des Entscheides und ihre Vorschläge zum weiteren Vorgehen. Sie will den Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg weiterziehen. Ravi Sekera schreibt am 24. Dezember zurück, dass er den Entscheid nicht verstehe. Am selben Tag trifft wieder Post aus Bern ein. Neuansetzung der Ausreisefrist: 18. Februar 2008.

Januar 2008. Im Gasthof Sonne stehen Ende Monat Betriebsferien an. Für Ravi Sekera wird es Zeit, die Schweiz zu verlassen. Freunde in den USA und Kanada helfen ihm bei der Planung. Von seiner Anwältin hat er sich bereits per Mail verabschiedet. «Dear madam, wish you all the best.»

Von der Schweiz nach Nordamerika zu gelangen, scheint möglich. Weil Ravi Sekeras Papiere in Bern liegen und nur für die Ausreise in die Heimat freigegeben werden, muss er ein zweites Mal flüchten. Den Mittelsmann trifft er in einem Zürcher Hotel. Er bezahlt – unter anderem mit geliehenem Geld seiner nordamerikanischen Freunde – und erhält einen gefälschten kanadischen Pass, ein Bahnbillet von Zürich nach Paris und ein Flugticket von Paris nach Montreal. Dann übergibt Ravi Sekera am Zürcher Hauptbahnhof einem Freund seine Deutsch- und Englischbücher und steigt in den TGV.

Seit über eineinhalb Jahren lebt Ravi Sekera jetzt in Montreal. Sein Asylgesuch ist dort auf Anhieb gutgeheissen worden. «Die kanadische Immigrationsbehörde fand, dass das Leben meines Klienten aufgrund seiner Vergangenheit und seiner Arbeit als Menschenrechtsaktivist gefährdet wäre, wenn er nach Sri Lanka zurückkehren müsste», schreibt sein kanadischer Anwalt. Zudem werde er seine Frau und seine beiden Kinder schon bald nachholen können. Die kanadische Botschaft in Colombo bearbeite diesen Fall im Moment. Sie hat das Schutzbedürfnis von Ravi Sekera Srikantha und seiner Familie nicht nur erkannt, sie hat es anerkannt.


Der Artikel basiert auf Unterlagen aus dem gesamten Asylverfahren von Ravi Sekera Srikantha. Die Befragungsprotokolle, Beschwerdeschreiben und Beweisstücke sind dem Autor von der Anwältin nach Entbindung vom Anwaltsgeheimnis zur Verfügung gestellt worden. Das Bundesamt für Migration, nachträglich mit dem Entscheid der Kanadier konfrontiert, wollte «aus Datenschutzgründen» nichts weiter dazu sagen.

Der Menschenrechtsaktivist wollte nichts 
verschleiern und wäre damit einverstanden gewesen,
 dass wir seinen richtigen Namen abdrucken. Aufgrund seiner
 Geschichte kamen wir in der WOZ-Redaktion aber zum Schluss, es sei besser, ihn zu anonymisieren. Wir wollen nicht das Risiko eingehen, dass ihm aus seinem Mut Schaden entsteht.

Ein Solidaritätsnetz für Zürich

«Enttäuscht von Zürcher Regierung und Kirche» – unter diesem Titel berichtete die WOZ zu Beginn dieses Jahres über die Besetzung der Zürcher Predigerkirche durch 150 Sans-Papiers: Die Kirche wollte die BesetzerInnen möglichst rasch wieder loswerden. Regierungsrat Hans Hollenstein versprach zumindest, sich für eine unabhängige Härtefallkommission einzusetzen.

Ein Härtefallgesuch können abgewiesene Asylsuchende stellen, die sich seit mehr als fünf Jahren in der Schweiz aufhalten und über eine «fortgeschrittene Integration» verfügen. Der Härtefallartikel bietet also einigen Ermessenspielraum. Zuständig für seine Anwendung ist, sofern es keine Kommission gibt, das kantonale Migrationsamt.

Seit der Besetzung hat sich einiges getan: Im März erschien eine Studie der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur Härtefallpraxis, die die Kritik der BesetzerInnen stützt: Der Kanton Zürich wird darin als «stossendes Negativbeispiel» erwähnt, weil er 2007 und 2008 gerade fünf beziehungsweise zehn Härtefallgesuche bewilligte (zum Vergleich die Waadt: mehr als 200 Bewilligungen pro Jahr). Und auch die Regierung und die Kirche haben sich bewegt – zumindest ein wenig: Im Mai gab Hollenstein die Einsetzung einer Härtefallkommission bekannt – ihre Tätigkeit hat sie allerdings bis heute nicht aufgenommen. KirchenvertreterInnen wiederum beteiligen sich am Solidaritätsnetz Zürich, das am Mittwoch dieser Woche gegründet wurde – wenn auch vorerst als Privatpersonen.

«Wir sind ein breiter Zusammenschluss von links aussen bis weit in die Mitte und in kirchliche Kreise», sagt Katharina Hermann vom Solidaritätsnetz. Als vorerst wichtigstes Ziel nennt die Juristin die Information der Bevölkerung über die bisherige Härtefallpraxis und die Beobachtung der künftigen Härtefallkommission. «Bis anhin wurde der Ermessenspielraum nur zur Ausgrenzung, aber nie in Richtung Solidarität und Menschlichkeit genutzt.»

Weiter will das Solidaritätsnetz die bestehenden Mittagstische für Flüchtlinge vernetzen und Asylsuchende im Gefängnis besuchen. «Weder wollen wir die bestehenden Angebote konkurrenzieren noch eine Dachorganisationen bilden, sondern ein Netzwerk sein, eine breite Bewegung werden», sagt Hermann. Vorbild bei der Gründung war das Solidaritätsnetz Ostschweiz, das sich selbst an lateinamerikanischen Basisbewegungen orientiert.

Kaspar Surber

www.solinetz-zh.ch


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