Asylpolitik: Zurück in die Ungewissheit

Nr. 9 –

Die Schweiz schafft einen abgewiesenen Asylsuchenden nach Sri Lanka aus. Dabei hatte sogar der Uno-Ausschuss gegen Folter in dessen Fall interveniert.

Illustration: eine Person besteigt über eine Treppenrampe ein Flugzeug


Seine jahrelange Odyssee durch das Schweizer Asylwesen endet am 16. Februar: Einen Tag zuvor hat die Polizei Ankit Prasad* in einem Gefängnis im Kanton Bern abgeholt, wo er mehrere Wochen in Ausschaffungshaft sass. Nun bringen die Beamt:innen den 31-Jährigen auf den Flug nach Sri Lanka – obwohl das Antifolterkomitee der Uno in jenen Tagen gerade prüft, ob seine Wegweisung überhaupt zu verantworten ist. Der Fall wirft zahlreiche Fragen zum Umgang mit Asylsuchenden aus Sri Lanka auf. Vor allem aber diese: Warum ignorieren die Schweizer Behörden das laufende Uno-Verfahren?

In Colombo halten die sri-lankischen Behörden Prasad mehrere Stunden lang fest, bevor sie ihn in die Obhut seines Bruders übergeben, der am Flughafen wartet. «Ich habe direkt den Nachtbus nach Hause genommen», erzählt Prasad zwei Wochen später am Telefon – ein in der Schweiz lebender Verwandter hilft beim Übersetzen. Zu Hause, das ist ein Ort in der Nähe von Jaffna ganz im Norden der Insel. Was Prasad dort erlebt hat – oder zumindest seine Version davon – lässt sich in den Unterlagen des Asylverfahrens nachlesen, die der WOZ vorliegen.

Entführt und geschlagen

Demnach verschwindet im Jahr 2006 Prasads Schwager, ein mutmassliches Mitglied der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE). Auch zwei seiner insgesamt sieben Geschwister sollen die Guerillaarmee unterstützen, die im Bürgerkrieg (1983–2009) für die Unabhängigkeit des Nordens und des Ostens kämpft. In der Folge wird Prasad, so erzählt er es dem Staatssekretariat für Migration (SEM), mehrfach von der Armee und dem Geheimdienst befragt. Er muss den Wohnort wechseln, wird von der Marine entführt und geschlagen, bevor er 2009 zu seiner Familie zurückkehrt – und 2012 schliesslich das Land verlässt. Erst flieht er nach Malaysia, dann in die Niederlande.

2016 ersucht Prasad in der Schweiz um Asyl, rund vier Jahre später wird sein Antrag abgelehnt. Die Behörden glauben ihm die Verbindungen seiner Verwandten zu den LTTE nicht. Sie beziehen sich dabei auf Abklärungen der Schweizer Botschaft in Colombo, die auch die Mutter von Prasad befragt hatte.

Es folgt ein Irrlauf durch die Instanzen: Rekurse, Beschwerden und abschlägige Urteile des Bundesverwaltungsgerichts. Vergangenen Oktober reicht Prasads Rechtsvertreter Vadim Drozdov neue Dokumente ein, darunter ein Video von dessen Mutter, in dem sie zu Protokoll gibt, die Verbindungen zu den Tamil Tigers aus Angst vor negativen Konsequenzen verschwiegen zu haben. Drozdov legt den Unterlagen auch ein Schreiben der Psychiatrie bei, das die schlechte Verfassung Prasads beschreibt und auf die Notwendigkeit weiterer Sitzungen zur Erstellung einer Diagnose verweist. Einige Tage später weist das SEM das Gesuch erneut ab – wegen «geringer Beweislast» der neuen Dokumente.

Mitte Januar wird Ankit Prasad bei der Arbeit auf einer Baustelle kontrolliert und kommt in Ausschaffungshaft. Daran ändert auch das psychiatrische Gutachten nichts, das in der Zwischenzeit vorliegt und ihm eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert, «mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Inhaftierungen und Misshandlungen zurückzuführen». Die Beurteilung der Expert:innen ist deutlich: Eine Rückführung käme einer erneuten Traumatisierung gleich, zudem bestehe ein «deutlich erhöhtes Risiko für akute Selbstgefährdung und suizidale Handlungen», heisst es in dem Dokument. Die dringliche Empfehlung: auf die Ausschaffung zu verzichten. Knapp einen Monat später sitzt Prasad im Flugzeug nach Colombo.

Keine Zeit, um zu warten?

Ausschaffungen nach Sri Lanka standen in den vergangenen Jahren immer wieder in der Kritik. 2013 wurden zwei abgewiesene Asylsuchende nach ihrer Rückkehr verhaftet und gefoltert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand, die Schweiz habe damit das Folterverbot verletzt; das SEM gestand Fehler ein und sistierte die Rückführungen auf die Insel. Seit 2016 schaffen die Behörden wieder Menschen in alle Regionen des Landes aus. Immer wieder berichten die Medien von Fällen, in denen die Rückkehr zum Albtraum wird.

Adrian Schuster, Experte für Sri Lanka bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH), spricht denn auch von einer «problematischen Menschenrechtssituation». Letzten Sommer forderte die SFH einen Verzicht auf Rückführungen, «bis sich die Lage deutlich stabilisiert hat». Kurz danach folgte ein offener Brief der Weltorganisation gegen Folter an die damalige Justizministerin Karin Keller-Sutter. Auch die NGO-Allianz forderte einen Rückschiebestopp, zumindest für Personen, die medizinische Hilfe benötigten. Menschen wie Ankit Prasad also.

In der Krise ist Sri Lanka schon lange, letztes Jahr aber spitzte sich die Lage noch einmal zu: Im Mai trat der Premierminister zurück, der Präsident verliess fluchtartig das Land. Doch auch der neue Machthaber geht repressiv gegen Andersdenkende vor, Polizeigewalt ist an der Tagesordnung. Als besonders unsicher gelten weiterhin der Norden und der Osten, also auch die Region, aus der Prasad kommt. Gerade Personen mit potenziellen Verbindungen zu den LTTE könnten gefährdet sein, sagt Schuster. Die Militärpräsenz sei weiterhin sehr hoch.

Hinzu komme, so Schuster, dass der Inselstaat zahlungsunfähig sei. «Die Wirtschaftskrise ist die schwerste seit der Unabhängigkeit vor 75 Jahren.» Die Folge: rasant steigende Nahrungsmittelpreise, Treibstoffknappheit, Mangel an Medikamenten. Der Experte verweist auf eine aktuelle Uno-Studie, wonach rund ein Drittel aller Haushalte «ernährungsunsicher» sei, siebzig Prozent müssten Mahlzeiten auslassen oder verkleinern. Gravierende Folgen habe auch der Mangel an Medikamenten, gerade im psychiatrischen Bereich. «Wegen des akuten Personalmangels wird bei der Behandlung stark auf Medikamente fokussiert, umso problematischer ist es, wenn diese nicht vorhanden sind», sagt er.

Verglichen mit anderen Ländern ist die Schutzquote bei Personen aus Sri Lanka – also der Anteil positiv beurteilter Asylgesuche und der vorläufigen Aufnahmen – trotz der schwierigen Situation vor Ort tief. 2022 lag er bei 37 Prozent. Auch im Fall von Ankit Prasad bieten die Behörden keinen Schutz. Mehr noch: Sie warten nicht einmal die Abklärungen des Uno-Ausschusses gegen Folter in Genf ab. Als Jurist Vadim Drozdov von der bevorstehenden Wegweisung erfährt, legt er dort Beschwerde ein – und informiert die Behörden darüber. Einen Tag später wird Prasad trotzdem ausgeschafft. «Das Komitee braucht nur ein paar Tage bis zum Entscheid. Diese Zeit hätten sie doch abwarten können», kritisiert er.

Seit der Rückkehr im Versteck

Wenige Tage später erfolgt die Antwort der Uno: Sie bittet, von einer Wegweisung abzusehen, bis das Komitee den Fall ausführlich habe prüfen können. Die Zürcher Anwältin Fanny de Weck hat über individuelle Beschwerdeverfahren vor dem Antifolterkomitee promoviert. Mit einem solchen Vorgehen werde die «Wirksamkeit dieser Instanzen ausgehöhlt», sagt sie. «Es gehört zum effektiven Schutz vor Folter, dass Menschen den Entscheid in jenem Land abwarten können, in das sie geflohen sind.» Drozdov fordert von den Behörden, dass Wegweisungen bis zum endgültigen Entscheid automatisch gestoppt werden müssen.

Die Rückkehr nach Sri Lanka werde «grundsätzlich als zulässig und zumutbar» erachtet, schreibt das SEM auf Anfrage. Jedes Gesuch werde jedoch «individuell sowie eingehend» geprüft. Den Fall von Ankit Prasad will die Behörde – ebenso wie das Berner Migrationsamt – aus Datenschutzgründen nicht kommentieren. Generell werde aber praxisgemäss bei entsprechender Anweisung des Uno-Antifolterkomitees «umgehend die Sistierung des Vollzugs» veranlasst.

Seit seiner Rückkehr versteckt sich Prasad in seinem Heimatort in der Nähe von Jaffna. Aus Angst vor Verfolgung durch Militär und Geheimdienst sei er immer unterwegs, erzählt er. «Die Situation ist belastend, meine psychischen Probleme kommen immer wieder hoch.» Prasad hat sich für eine Therapie angemeldet, einen Termin bekam er bisher nicht.

Einmal fuhr er die über 400 Kilometer nach Colombo, um bei der Schweizer Botschaft vorstellig zu werden. Am Morgen des 21. Februar schreibt er dieser ein E-Mail, in dem er sich auf das Schreiben des Uno-Ausschusses bezieht: «Ich warte heute seit acht Uhr vor eurer Tür auf eine Antwort.» Die Botschaft reagiert umgehend – sie wischt das Dokument fort und fordert Prasad lediglich auf, ein reguläres Visum zu beantragen.

* Name von der Redaktion geändert.