Überwachung: Daten im Fluss
Zwanzig Jahre nach dem Fichenskandal präsentiert der Staatsschutz Zahlen zur aktuellen Tätigkeit. Alles ist anders und nach wie vor beunruhigend.
Letzte Woche traten die Schweizer Staatsschützer die Flucht nach vorne an. Sie ahnten wohl, was in den nächsten Wochen auf sie zukommen dürfte: Im November jährt sich zum 20. Mal die Aufdeckung des Fichenskandals. Also lieber von sich aus informieren, bevor sich alle Medien das Maul zerreissen: Ja, es gibt die Personendossiers nach wie vor – auch wenn man sie heute nicht mehr Fichen nennt. Und ja, es sind immer noch sehr viele. Aber nein, es ist alles halb so wild.
118 000 Personen sind in der aktuellen Staatsschutzdatenbank Isis (Informatisiertes Staatsschutz-Informations-System) erfasst. Eigentlich sollte die Datenbank den Beamten helfen, sensible Felder wie Terrorismus, gewalttätigen Extremismus oder organisiertes Verbrechen im Auge zu behalten. Über 100 000 potenzielle Attentäter, Spioninnen, Mafiosi? Durchaus nicht, beruhigte Markus Seiler, designierter Direktor des Nachrichtendienstes: Isis sei keine «Verdächtigendatenbank», nicht jede Person, die erfasst werde, stelle eine konkrete Bedrohung für den Staat dar.
Dreister Umgang mit dem Gesetz
Detailliertere Auskünfte mag der Dienst für Analyse und Prävention (DAP) nicht liefern. Bereits vor einem Jahr wurden einige zweifelhafte Fälle publik. Weshalb wurden gleich ein halbes Dutzend Basler Grossräte mit türkischen Wurzeln erfasst? Und was hat es zu bedeuten, dass der Zürcher Gemeinderat Balthasar Glättli im Zusammenhang mit einer Demobewilligung verzeichnet worden ist?
Nach der Fichenaffäre kursierte die Idee, den Staatsschutz rundweg abzuschaffen. Der Radikalvorschlag hatte letztlich keine Chance, doch zwängte man den Staatsschutz in ein enges gesetzliches Korsett. Das hat gewirkt – vor allem was die Zahl der erfassten Schweizer BürgerInnen angeht. 6000 sind es bloss, verglichen mit damals gut 300 000 Schweizer Fichen ist das zunächst eine beruhigend kleine Zahl. Doch obwohl laut Gesetz Informationen über die politische Betätigung nicht bearbeitet werden dürfen, gibt es Anzeichen, dass wieder Gesinnungsschnüffelei ohne konkrete Verdachtsmomente betrieben wird. Vor allem bei den erfassten AusländerInnen sind Motive und Massstäbe des DAP fragwürdig. Dieser dreiste Umgang mit den gesetzlichen Vorgaben ist beunruhigend, auch wenn Seiler sagt, dass «das Bewusstsein für eine starke Kontrolle gestiegen ist».
Kontrolle hin oder her, beunruhigend ist noch eine ganz andere Entwicklung. Personenanalyse ist ein kompliziertes und aufwendiges Geschäft – zu Zeiten des Kalten Krieges hatten die Staaten deshalb ein beinahe unangefochtenes Monopol darauf. Doch selbst den Spezialisten könnte die Sache damals allmählich über den Kopf gewachsen sein. So vermutete der Historiker David Gugerli in einem Interview mit der WOZ vor einem Jahr, «dass die Behörden bei dieser Masse von Einträgen in Papierform an eine Effizienzgrenze gestossen sind». Dadurch hätten die Fichen an Wert verloren. Und nicht zuletzt deshalb sei dann alles aufgeflogen.
Heute sieht die Sache dank der neuen Informationstechnologien ganz anders aus. Datenfluten überfordern niemanden mehr. Und deshalb ist der Staat längst nicht mehr der einzige Akteur in Sachen Datensammlung und -auswertung. Das minutiöse Mitnotieren von Autonummern ist heute der Erfassung des Verkehrsflusses per Kamera gewichen, das Abhören eines Telefonanschlusses dem flächendeckenden E-Mail-Scan, der unauffällige Beamte im beigen Regenmantel wurde durch die Überwachungskamera an jeder Ecke ersetzt. Alle diese Daten werden nun nicht mehr von einem zentralen (und geheim agierenden) Büro gesammelt, sondern von einer Vielzahl staatlicher wie privater Akteure mit ganz unterschiedlichen Interessen. Und diese Daten werden nicht nur gesammelt, sondern auch analysiert. Tatsächlich ist jeder Computer ein potenzieller Geheimdienstapparat; jeder PC kann heute mehr Analyseleistung erbringen als das papierene Fichenarchiv samt einer kompletten Beamtenabteilung.
Eine Frage des Algorithmus
Der Politologe Reg Whitaker brachte die Entwicklung schon vor zehn Jahren auf eine einfache Formel: Es hat ein Übergang stattgefunden vom Überwachungsstaat zur Überwachungsgesellschaft. Er versteht das Wort nicht in einem üblen DDR-Sinn – es geht nicht um eine Gesellschaft voller Denunzianten, es geht um ein gewissermassen automatisiertes Misstrauen. Überall hinterlassen wir Datenspuren, und überall werden aus diesen Spuren Schlüsse gezogen. Über unsere Gewohnheiten, über unsere Macken, über unser Gefahrenpotenzial. Bis jetzt vorwiegend in wirtschaftlicher Hinsicht. Aber wirtschaftlich oder politisch, das ist nur noch eine Frage des Algorithmus. Der Computer berechnet beides gleich teilnahmslos.
Und die Geschichte wiederholt sich: Die Fichierer handelten ohne gesetzliche Grundlage. Bei der Gesetzeslage in Sachen privatrechtlicher Datenschutz gibt es ein ähnliches Vakuum: «Welche Daten im privatrechtlichen Bereich erhoben werden, ist weitgehend unkontrolliert», sagt Bruno Baeriswyl, der Datenschutzbeauftragte des Kantons Zürich.
Kein Wunder, dass es den Staat, dem nun für die eigene Erfassungstätigkeit enge Grenzen gesetzt sind, umso mehr nach diesen privaten Datenschätzen gelüstet. Das gilt nicht nur für den Geheimdienst, sondern für Untersuchungs- und Ermittlungsbehörden quer durch alle Instanzen. Die Karteikarten im Fichenarchiv waren ein sperriges Instrument. Heute sind die Daten im Fluss. Gut möglich, dass ein Konzern wie Google längst wertvollere Personeninformationen hat als die Geheimdienste. Auf jeden Fall ist die private Datenerfassung flächendeckender als alles, was wir hierzulande in Sachen Überwachungsstaat je erlebt haben. Es ist präventive Ermittlung in Perfektion.
Früher war die Überwachermentalität von der Paranoia des Blockdenkens bestimmt. Ein paar Schlüsselbegriffe reichten für die Strukturierung des Fichenapparats. In der Datenbankwelt braucht es keine solchen Signalbegriffe mehr. Für die Datensammler von heute gibt es keinen Unterschied zwischen relevanter und irrelevanter Information – alles kann sich als nützlich erweisen, und Speicherplatz ist billig. «Es gibt keine neutrale Information mehr», sagt Baeriswyl. In der Geheimdienstlogik heisst das: Je nachdem, in welchen Zusammenhang sie gestellt wird, je nachdem, wie analysiert wird, kann jede beliebige Information harmlos oder belastend sein. «Fichen waren statisch, heute ist die Datenanalyse dynamisch geworden», sagt Baeriswyl. Das wiederum heisst: Alles, was Sie tun, kann von nun an gegen Sie verwendet werden. Alles.