Nachruf auf Ruth Guggenheim Heussler

Nr. 45 –

(16. Juni 1920 bis 29. Oktober 2009)

Es gibt Beerdigungen, die sind trotz Trauer, Tränen und kaltem Regen schön. Sowohl der Rabbiner wie der Trauerredner, seines Zeichens Psychoanalytiker, der von der Verstorbenen schon vor vielen Jahren um diesen letzten Freundschaftsdienst gebeten worden war, wandten sich im Friedhof Oberer Friesenberg in Zürich immer wieder seitwärts zu der in einem einfachen, dunklen, verschlossenen Sarg liegenden Toten, wie um ihre Seele zu beschwören, im Frieden «über die Brücke» zu gehen, wie der Rabbi es ausdrückte. Es war die bewegendste, leidenschaftlichste Trauerrede, die ich je hörte, eine versöhnende, die über den Tag hinaus wirkt.

Ruth, als Tochter eines russischen Revolutionärs in Moskau geboren, der die Mutter, die später bekannte Schweizer Malerin und Bildhauerin Alis Guggenheim wenige Monate nach dem glücklichen Ereignis für immer verliess, wuchs danach im Zürcher Atelier der Mutter auf, in einem Kinderzimmer, das nur durch einen Tuchvorhang von Staffeleien, modellierten Köpfen und angeregten Debatten der Kunstszene der Zwischenkriegszeit getrennt war.

Als Ruth später einige Zeit in Paris und dann in Amerika lebte, trennten sie wohl nur eine Tuberkuloseerkrankung, Männer und die bis zur Selbstlosigkeit gehende Hilfe für andere davon, selbst auf künstlerischem Gebiet tätig zu werden.

Im Krieg versteckte sie zeitweise Flüchtlinge und arbeitete in einem Parfümeriegeschäft an der Zürcher Bahnhofstrasse. Mir erzählte sie, dass sie bei Lieferungen ins vornehme Hotel Baur au Lac stets den Vordereingang nahm, obwohl sie dort regelmässig zum Dienstboteneingang verwiesen wurde, was sie ebenso regelmässig nur unter Protest tat, denn sie kannte das «Baur au Lac», weil sie dort oft tanzte - täglich spielte dort ein Jazzorchester um 17 Uhr zum Thé dansant auf, und ausserdem fand sie, als Kommunistin: Die Paläste dem Volk.

Keine politische Nachricht hatte sie mehr erschüttert, als die vom Abschluss des Nichtangriffspakts von Stalin und Hitler. Jemand von einer britischen Theatergruppe habe es ihr im Tessin zugerufen, als sie gerade draussen in einem See schwamm. Sie sei beinahe ertrunken.

Nun ist Ruth Guggenheim, die zahllosen Schreibenden über Jahrzehnte eine erstrangige Zeitzeugin war – zu einem wunderbaren Gedächtnis und einem seinesgleichen suchenden weitläufigen Bekanntenkreis kam eine seltene Menschenkenntnis, weshalb sie der Regisseur Kurt Früh einmal in Anlehnung an die Spyri «Johanna Gschpüri» nannte –, nach einem letzten Aufenthalt am Meer an den Folgen einer Bronchitis in Zürich gestorben. Sie hatte ein Auge für Gesichter, sah unter jede Schminke. Oft dachte ich, zwei Generationen später geboren wäre sie vermutlich Generaldirektorin geworden, derart gezielt, sicher im Urteil und verbindlich ging sie auf die Menschen zu. Aus der Zeit der 1920er und 30er Jahre führte sie in ihrer bescheidenen, aber kunstvollen Wohnung in Zürich Riesbach die Salonkultur fort, brachte bei Einladungen Menschen zusammen. Möge sie in ihrer grenzenlosen Solidarität als jederzeit hilfsbereiter liebevoller Mensch niemals vergessen werden.