Ruth Guggenheim Heussler (1920–2009): Immer dem Herzen nach

Nr. 45 –

Sie war nie an einer Universität, aber ohne Ruth Guggenheim wäre der Zirkel der Intellektuellen und Linken in Zürich nicht derselbe gewesen. Vergangene Woche ist sie gestorben.


Sie drängt einem ihre Geschichten auf. Sie beginnt irgendwo und endet bei Lenin, Fritz Platten und Mischa in Moskau. Oder im Café Select in Zürich: «Das war unsere Stube. Wir waren alle eine grosse Familie.» Klatsch? Vielleicht. Aber immer mit einer historischen Dimension. Immer hört und erfährt man, wie es wirklich gewesen sein könnte. Die berühmten Figuren der damaligen Szene: «Klaus Mann war einer vom ‹Select›, hatte einen Model-T-Ford. Damit fuhren wir manchmal aus.» Oder sie erzählt von der Parfümerie Osswald an der Bahnhofstrasse, wo sie vor über siebzig Jahren ihre Lehre gemacht hat. «Ich musste sehr einfach durchkommen. Geschadet hat mir das nicht.»

Ruth Guggenheim Heussler ist die Tochter der aus dem Aargau stammenden Künstlerin Alis Guggenheim und des russischen Revolutionärs Mischa Berson, der in Zürich zum Kreis von Lenin gehörte. Berson führt ein Doppelleben, er hat bereits Frau und Tochter, als Alis 1919 von ihm schwanger wird. Sechs Wochen nach der Geburt von Ruth kehrt Alis mit ihrer Tochter aus Moskau nach Zürich zurück. Ruthli wohnt fortan bei den Pflegeeltern Maria und Alfred Alder – GenossInnen, einfache ArbeiterInnen mit einer riesigen Bibliothek. Mutter Alis kommt sie besuchen, sooft sie Zeit hat.

Die KP und die Kunst

Alis führt einen eigenen Modesalon. In seinem Buch «Melnitz» über die Juden und Jüdinnen in der Schweiz beschreibt Charles Lewinsky, wie die Frauen jeweils am Sabbat mit schönen Hüten in die Synagoge gegangen sind. Diese schönen Hüte macht Alis.

Ruthli kommt mit sechs Jahren zu den Pionieren der KP. Es gibt ein Foto, Ruthli am 1. Mai 1926 am Stauffacher. Sie wächst in ein Beziehungsnetz hinein. Man geht am Wochenende wandern oder trifft sich im Arbeiterheim Union an der Heinrichstrasse. Mutter Alis macht inzwischen Kunst. Von der vierten bis sechsten Klasse wohnt Ruth bei ihr im Atelier an der Weinbergstrasse: ein Raum, die Welt. Die Kunst tritt ins Leben von Ruth; der Kulturtheoretiker Max Raphael, der Bildhauer Karl Geiser, der Bücherreisende Viktor Schwarz und viele andere kommen zu Besuch.

1933 zieht Alis nach Paris, wo die grossen KünstlerInnen sind. Ruth bleibt in Zürich, wohnt drei Jahre an der Zurlindenstrasse bei Kirschbaums, Vater Josef, der Schreinermeister, wird später der «Stalin der Schweiz» genannt werden. Hier lernt Ruth auch den legendären Buchhändler Theo Pinkus kennen, «noch bevor Amalie ihn kannte!».

Sie sei nie verhaftet worden. Wenn es darauf ankam, sei sie weggerannt. Habe sich vor der Polizei in den nächstbesten Keller geflüchtet, wie damals am Zürcher Stauffacher beim Maler- und Gipserstreik, wo einer erschossen wurde.

Immer dem Herzen nach

Ruth besucht die Sek, sie ist dreizehn, als sie mit Erika Mann nach dem «Pfeffermühle-Krawall» mitdemonstriert. Beni Kirschbaum ist ihre erste Liebe. Die erste grosse Liebe aber ist Kurt Früh, da ist Ruth sechzehn oder siebzehn alt. Es ist die Zeit der Volksbühne, auf die Ruth beim Erzählen immer wieder zurückkommt.

Noch einer ist ihre grosse Liebe, der Emigrant Karli Schiffer. Ende der dreissiger Jahre. «Karli war mit Hedy zusammen, sie konnte ihn finanziell aushalten. Ich verdiente kaum genug Geld für mich allein.» Später sei Schiffer zurück nach Graz gegangen, habe dort nach dem Krieg den «Vorwärts» rausgebracht, er sei in Portugal gestorben.

«Ich ging immer dem Herzen nach, gehorchte nie dem Verstand. Ich war immer unvernünftig.» Ruth gerät auch in brenzlige Situationen. Etwa wenn sie als Kurierin Koffer mit klandestinem Inhalt nach Genf transportiert oder während des Kriegs arme EmigrantInnen bei sich an der Weinbergstrasse aufnimmt. Ruth bewohnt zwei Zimmer in der Mansarde, in einem produzieren Ungarn illegal Zeitungen, mit Maschine und schalldämmenden Wolldecken, denn unten dran wohnt grad die Hausmeisterin.

Ruth hat in alle ein Grundvertrauen. Ihr Kern sind Beziehungen zu anderen Menschen. Sie sucht und pflegt diese um ihrer selbst willen. Jüdisches Leben, Linkssein, Künstlertum, Mutterschaft, das alles ist prekär, gefährdet, immer ist damit zu rechnen, dass es heisst: Das ist verboten. Das passt nicht. Hat keinen Platz. Wird ausradiert. Sie lernt früh: Beziehungen sind ihre «Versicherung». Je mehr Menschen sie kennt, umso besser. «So bin ich die geworden, die ich bin. Ich habe immer noch sehr grosse Schwierigkeiten mit dem Bürgertum.»

Immer unterwegs

Ihr Networking kennt keinen Karriereplan, ihr Namedropping wirkt absichtslos. Sie «verkörpert» wie kaum jemand sonst Beziehungsnetze, sie hat Techniken entwickelt, wie sie ins Leben fremder Menschen hineintreten kann, wie sie sich diese zu Freunden und Bekannten macht. Sie trampt in Ellen Ringiers Büro, sie telefoniert Ruth Dreifuss, gratuliert, regt an, empört sich. Und weil sie sich dieser Beziehungen stets aufs Neue vergewissern muss, frischt sie sie dauernd auf. Innert weniger Tage – vor drei Jahren war das – besucht sie die Jahresversammlung der Pro Litteris in Lausanne, die Foto-Vernissage der WOZ mit Bildern ihrer Tochter Olivia Heussler, die Feier «100 Jahre Sozialarchiv», eine Lesung im jüdischen Altersheim, die Vernissage von Fotograf René Groebli bei Andy Illien, die Matinée zu Paul Parins 90. Geburtstag.

Im Mai dieses Jahres ist Paul Parin gestorben, letzte Woche, im Alter von 89 Jahren, Ruth Guggenheim.

Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Porträts, das erstmals in der WOZ vom 5. Oktober 2006 erschien. Den vollständigen Text finden Sie hier. Einen Nachruf von Peter Kamber finden Sie hier.