Andri Perl: Ohne Handy nach Florenz

Nr. 5 –

Mit seiner Hip-Hop-Crew Breitbild hat der 25-Jährige bereits etliche Platten veröffentlicht. Dieser Tage erscheint nun Perls gedrucktes Erstlingswerk: ein moderner Bildungsroman. Die WOZ traf den Rapper aus Graubünden in seiner Wahlheimat Zürich.


Sich als gut Zwanzigjähriger in den Kopf zu setzen, einen Roman zu schreiben, ist das eine; die Idee bis zum Ende durchzuziehen, ist das andere. Der Bündner Andri Perl nahm sich dafür drei Semester Auszeit von der Universität, reiste an die Handlungsorte seiner Geschichte und sass lange, «sehr lange», wie er selbst sagt, hinter seinem Schreibtisch. «Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel», so der Titel des Romans, erscheint dieser Tage im Zürcher Salis-Verlag.

Perls Liebe zu den Worten kommt nicht von ungefähr. Seit rund zehn Jahren ist der 25-Jährige als Mitglied und Rapper der Churer Combo Breitbild auf den grossen Bühnen der Schweiz unterwegs und veröffentlicht mit grossem Erfolg Platten. Mit zehn Kollegen ein Album zu produzieren, sei jedoch etwas komplett anderes, als allein ein Buch zu schreiben, meint er. Das zeige sich gerade auf der Bühne: «Weil jederzeit etwas passieren kann, bin ich vor den Konzerten mit Breitbild ziemlich nervös. Da muss unglaublich viel in einem kurzen Moment zusammenpassen.»

Viel entspannter geht er seine Autorenlesungen an: «Das ist für mich fast so, wie eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Ich betrete die Bühne und trage einen Text vor, den ich gut kenne. Schiefgehen kann da eigentlich nicht viel.» Diese Selbstsicherheit hat er sich bei Heimspielen in seiner Geburtsstadt Chur angeeignet, wo seine Lesetournee vergangenen Mittwoch ihren Anfang genommen hat. Ob er am kommenden Dienstag im wortwörtlichen «Exil» in Zürich so locker daherkommt, wird sich zeigen.

Mit Grossmutter-Gedichten

Auch wenn «Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel» literarisch ambitioniert ist: Auf sprachlicher Ebene schimmert die Liebe zur Hip-Hop-Kultur immer wieder durch. Gerade im ersten Teil des Buches, in dem sich der Ich-Erzähler Christoph Roth nach zwei vertrackten Beziehungsgeschichten mit Gedichten, die ihm seine Grossmutter vermachte, auf der Suche nach seinem verschollenen Grossonkel nach Italien aufmacht, verliert er sich bisweilen in Wortspielereien und wiederkehrenden Samples. Das habe auch mit dem Entstehungsprozess des Werkes zu tun, meint Perl: «Ich habe einfach mal mit dem ersten Kapitel angefangen. Je länger ich aber geschrieben habe, desto mehr entfernte ich mich von diesem Stil.»

Die Beschäftigung mit der Produktion von Musik zeige sich vielmehr in der formalen Gliederung. Ähnlich wie in seiner Tätigkeit als Hip-Hopper arbeitete Perl auch in seinem Romanerstling mit klaren Strukturen. Auf diese Weise, so Perl, versucht er, den LeserInnen eine Leitlinie zu geben und dafür zu sorgen, dass ihre Aufmerksamkeit nicht nachlässt. Der strenge Aufbau in zwölf ähnlich lange Kapitel, denen die geheimnisvollen, teilweise etwas schwülstigen Gedichte der Grossmutter vorangestellt sind, bietet tatsächlich eine Orientierungshilfe. Die vielen Erzählebenen lösen sich oft von Abschnitt zu Abschnitt ab und springen assoziativ zwischen dem Hier und Jetzt des heissen Fussballweltmeisterschaftssommers 2006 und verschiedenen Episoden aus der Vergangenheit hin und her.

Die Reise als Ziel

Die Überschriften dieser Gedichte geben die Reiseroute vor, denen der frischgebackene Historiker Roth folgen will. Das Lüften des streng gehüteten Familiengeheimnisses um den verschollenen Bruder seiner Grossmutter ist dabei vorläufig vor allem Mittel zum Zweck, um die Reise nicht als Flucht erscheinen zu lassen. Sein eigentliches Ziel ist jedoch die Verortung seiner selbst auf der Landkarte der Gesellschaft. Um das Unterfangen gelingen zu lassen, stellt er sich fünf strenge Reiseregeln auf: Das Handy wird zu Hause gelassen, jeden Tag will er eine hübsche Frau ansprechen, am Logis darf er sparen, nicht aber am Essen, und früh soll er aufstehen. Und: «Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel» verpflichtet ihn schliesslich, nicht von der Route abzuweichen.

Die Etappen dieses Selbsterfahrungstrips sind geprägt von klassischen Reisezielen der BildungsbürgerInnen des vorletzten und letzten Jahrhunderts: Venedig, Florenz, Siena oder Rom. Verraten sei hier nur dies: Die geschichtsträchtigen Stätten der Sehnsucht tragen auch die Auflösung der Geschichte um den Grossonkel in sich. Perl verbrachte an jedem dieser Handlungsorte rund eine Woche und begab sich auf die Suche nach Schauplätzen und Eigenheiten. Dabei befolgte er zumindest in Ansätzen die Regeln von Roth. Zurück in Zürich oder Chur, wo er abwechslungsweise wohnt, brachte er die Erlebnisse umgehend in Textform.

Keine schwere Kost

Für Perl handelt es sich beim Buch nicht nur um einen Reise-, sondern gerade auch um einen modernen Bildungsroman: «Die klassischen Bildungsromane beschreiben die Zeitspanne, in der eine Person sich in die Gesellschaft einzuordnen beginnt. War dies früher mit ungefähr zwanzig der Fall, so ist diese Grenze heute weit nach hinten gerutscht.» Natürlich besucht der Ich-Erzähler auch die Uffizien in Florenz, doch wichtiger als die Bildung sind zur Überwindung seines Gemütszustands Alkohol, die Fussballweltmeisterschaftsspiele am Fernsehen und lange Gespräche mit den Zufallsbekanntschaften, die er auf seiner Reise macht.

Auch wenn der Ich-Erzähler Roth genau wie sein Autor an der Uni Zürich studierte, aus Chur stammt und sich in einem ähnlichen Lebensabschnitt befindet, will Perl den Roman nicht autobiografisch verstanden wissen: «Viel habe ich mit Christoph Roth nicht gemeinsam, doch konnte ich mich einfacher in jemanden hineinversetzen, dessen Welt ich kenne.» Der Hintergrund des Germanisten und Kunsthistorikers Perl kommt vielmehr auf der sprachlichen Ebene und in der Erzählstruktur zum Ausdruck. An der Universität lerne man zwar, sehr genau zu lesen, doch müsse man sich immer wieder durch ausgesprochen schwerfällige Bücher quälen. Ihm, der Rapper als sprachliche Populisten bezeichnet, sei es zuwider, die LeserInnen mit schwerer Kost zuzutexten: «Ein Buch darf kein Arschloch sein. Ich möchte, dass jemand, der meinen Roman beginnt, auch Lust hat, ihn fertig zu lesen.»

Mit einer im wahrsten Sinn des Wortes süffigen Erzählweise und einem Handlungsstrang, der mit Liebe, Schmerz und Entdeckungslust die Gemütspalette der mit sich hadernden JungakademikerInnen abdeckt, ist Andri Perl dies auch gelungen.

Andri Perl: Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel. Salis Verlag. Zürich 2010. 221 Seiten. Fr. 34.80

Buchvernissage in: Zürich Exil, Hardstrasse 245, Di, 9. Februar, 20 Uhr. Weitere Lesungen: www.salisverlag.com