Mobilfunkstrahlung: Mehr weiss man erst zu spät

Nr. 10 –

Die Frage, ob Handys die Gesundheit gefährden, wird kontrovers diskutiert. Im Hintergrund wirkt die Mobilfunkindustrie nach Kräften mit.

Andrea M. Boland sitzt als Vertreterin der Demokraten im Repräsentantenhaus des US-Bundesstaats Maine. Vor kurzem hat sie einen Gesetzesantrag eingereicht: Handyhersteller sollen dazu verpflichtet werden, sowohl die Mobilfunkgeräte als auch die Verpackungen mit einem Warnhinweis wie auf Zigarettenpackungen zu versehen: «Dieses Gerät sendet elektromagnetische Strahlung aus, die, wenn man ihr ausgesetzt ist, Gehirnkrebs verursachen kann. Die Benutzer, insbesondere Kinder und schwangere Frauen, sollten das Gerät vom Kopf und vom Körper fernhalten.»

Aufgeschreckt vom Report «Mobiltelefone und Gehirntumoren – 15 Gründe zur Besorgnis» will Boland den ultimativen Beweis der Stimmigkeit dieser Warnung nicht abwarten. Der Report ist im vergangenen August von mobilfunkkritischen Organisationen publiziert worden und fasst den Stand der Forschung zusammen. Demnach schädigt Mobilfunkstrahlung die Erbsubstanz und erhöht das Risiko, an Gehirnkrebs zu erkranken. Das höchste Risiko tragen Kinder – und je jünger ein Kind ist, wenn es beginnt, ein Handy zu benutzen, umso höher ist sein Risiko, einen Hirntumor zu entwickeln.

Was die Industrie hören möchte

Die Anhörung in Maine soll Anfang März stattfinden. «Eine Armee von Lobbyisten arbeitet gegen uns», so Boland gegenüber der WOZ. «Aber wir sind zuversichtlich, dass wir gewinnen. Unsere Argumente sind sehr schlüssig.» Diejenigen, die keine Gefahren durch die Mobilfunkstrahlung sehen, bringen gerne vor, dass die Strahlung zu wenig Energie hätte, um Zellen respektive deren Erbgut zu schädigen. «Dieses Argument ist ohne Substanz», widerspricht der Wiener Mobilfunkforscher und Medizinprofessor Hugo Rüdiger. «Denn die nachgewiesenen zellschädigenden Wirkungen kommen auf indirektem Wege zustande. Sie sind mit etlicher Wahrscheinlichkeit auf eine unmittelbar nach Beginn der Bestrahlung einsetzende Radikalbildung in der Zelle zurückzuführen.» Diskutiert wird auch, dass die Mobilfunkstrahlung die Reparaturmechanismen der Zellen stört und dadurch letztlich das Erbgut Schäden davonträgt. Das zeigte auch eine chinesische Studie, die im Oktober 2009 in «Mutation Research» erschien.

In vielen Untersuchungen werden keine schädigenden Effekte von Mobilfunkstrahlen beobachtet. Dabei ist allerdings zu bedenken, was Henry Lai, Strahlenforscher der University of Washington, im Jahr 2006 herausfand. Er sammelte alle Studien zur Frage, ob Mobilfunkstrahlen Zellschäden verursachen können, und glich deren Ergebnisse mit der Herkunft der Forschungsgelder ab. 43 der insgesamt 85 Arbeiten zogen das Fazit, dass elektromagnetische Mobilfunkstrahlung einen «biologischen» Effekt auf das Erbgut hat, 42 Arbeiten fanden keinen solchen Effekt. Das eigentlich interessante Ergebnis von Lais Untersuchung aber ist: Rund vier von fünf Studien, die elektromagnetische Strahlung als unbedenklich einstuften, waren von der Industrie finanziert. Im Gegensatz dazu hatte die Wirtschaft nur gerade sieben Prozent jener Arbeiten, in denen ein biologischer Effekt der Strahlung gefunden worden war, gesponsert. Und von diesen drei Studien wurde eine nur deshalb publiziert, weil sich der Forscher Jerry Phillips gegen den Mobilfunkriesen Motorola durchsetzen konnte: Motorola hatte die Studie in Auftrag gegeben und dann versucht, die Veröffentlichung ihrer Resultate zu verhindern.

Das Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern kam in einer Analyse zu demselben Ergebnis wie Lai: Arbeiten, an deren Finanzierung die Industrie nicht beteiligt war, fanden zehnmal häufiger statistisch signifikante Effekte der Mobilfunkstrahlung als Untersuchungen, die im Auftrag der Industrie durchgeführt worden waren. Für den Medizinprofessor Matthias Egger, der an der Analyse beteiligt war, ist klar: Diese Unterschiede können nur auf die jeweilige Finanzierungsart zurückgeführt werden.

Der bezahlte Kronzeuge

Die Massenmedien berichten nur vereinzelt über mögliche Gefahren von Mobilfunkstrahlung. Das ist kein Zufall, wie die Fachzeitschrift «Message» im Jahr 2007 anhand zahlreicher Beispiele aus Deutschland dokumentiert hat. Nicht allein die Marktmacht der Mobilfunkindustrie sei beeindruckend, sondern auch das Anzeigenvolumen, das sie zu verteilen habe: Zwischen 582 und 820 Millionen Euro jährlich habe die Telekommunikationsbranche in den vergangenen fünf Jahren für Werbung ausgegeben. Das hat, wie «Message» zeigt, verschiedene Redaktionen mundtot gemacht.

Die Mobilfunkindustrie und ihr nahestehende WissenschaftlerInnen scheinen auch nicht davor zurückzuschrecken, Skandale zu inszenieren, um kritische Forscher als unseriös zu brandmarken. Diesen Verdacht hat der deutsche Medizinprofessor Franz Adlkofer Ende November 2009 in der österreichischen Zeitschrift «Profil» geäussert. «Profil» hatte 2008 den sogenannten Wiener Handystudienskandal eingehend untersucht. Damals gerieten zwei Studien der Medizinischen Universität Wien unter Fälschungsverdacht. Beide hatten aufgezeigt, dass UMTS- und GSM-Strahlung (vgl. Kasten) in Zellkulturen erbgutschädigend wirken und damit auch ein krebserregendes Potenzial besitzen. «Beim Tricksen ertappt», titelte der «Spiegel» im ersten von zwei Beiträgen im Mai 2008 und suggerierte damit, es lägen eindeutige Beweise dafür vor, dass manipuliert worden war. Bezichtigt wurden eine Laborantin sowie die beiden Leiter der Studien, Hugo Rüdiger und Franz Adlkofer. Die Verdächtigung zog weite Kreise: Nebst dem «Spiegel» und anderen Massenmedien berichteten auch Fachmagazine wie «Nature» und «Science» darüber.

Als Kronzeuge diente dem «Spiegel» Alexander Lerchl, Biologieprofessor an der Jacobs-Universität in Bremen. Lerchl war mit seinem Vorwurf an die Medizinische Universität Wien herangetreten. Daraufhin wurde auf Betreiben von Wolfgang Schütz, dem Rektor der Universität, ein Rat für Wissenschaftsethik eingesetzt. Dieser kam zu dem Schluss, dass die Publikationen wegen des Verdachts der Datenmanipulation zurückgezogen werden müssten.

Kurze Zeit später sollte sich herausstellen, dass der vom Rektor berufene Vorsitzende des dreiköpfigen Rats für Wissenschaftsethik als Jurist bei einem Unternehmen der Mobilfunkindustrie beschäftigt war. Dadurch war das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Kommission zerstört. Ungeachtet dessen setzte Schütz unter Berufung auf Geständnisse, die es nachweislich nie gegeben hat, mit einer Pressemitteilung die Vermutung in Umlauf, die Arbeiten aus Wien seien gefälscht.

Derweil setzte der Rat für Wissenschaftsethik erneut eine Untersuchung in Gang – unter einem neutralen Vorsitzenden. Ergebnis: Es gibt keine Beweise für den Fälschungsvorwurf. Auch die beiden Magazine «Mutation Research» und «International Archives of Occupational and Environmental Health», in denen die Studien von Rüdiger und Adlkofer veröffentlicht worden waren, weigerten sich, diese zurückzuziehen, da sie keinen Beweis für eine Fälschung sahen.

Wie wars damals beim Asbest?

Lerchl, der mittlerweile Mitglied der bundesdeutschen Strahlenschutzkommission ist und dort den Ausschuss «Nichtionisierende Strahlung» leitet, wird dennoch nicht müde, an seinen Fälschungsvorwürfen festzuhalten. Vor wenigen Wochen hat er in einem Artikel im «Mutation Research» seine Attacken erneut vorgetragen. Doch wirklich überzeugen kann auch dieser Angriff nicht. Nicht zuletzt, weil Lerchl seine Argumentation nach wie vor auf die «haltlose Pressemitteilung» des Rektors der Medizinischen Universität stützt, wie Adlkofer in einer Replik in derselben Ausgabe der Fachzeitschrift anmerkt.

Die Verve, mit der Lerchl an den Fälschungsvorwürfen festhält, bekommt im Übrigen einen schalen Beigeschmack, wenn man berücksichtigt, dass der Mobilfunkkonzern Vodafone eng mit Lerchls Arbeitgeber, der Jacobs University in Bremen, kooperiert. Zudem nennt Lerchl die Forschungsgemeinschaft Funk als Financier seines Wirkens – eine Organisation, deren Vorstand zur Hälfte aus Vertretern der vier Mobilfunkriesen T-Mobile, Vodafone, E-Plus und Ericsson besteht.

Kürzlich sind Studien einer italienischen und einer chinesischen Arbeitsgruppe erschienen, die ein erbgut- und mitochondrienschädigendes und damit krebserregendes Potenzial von Mobilfunkstrahlen fanden. Damit weisen sie in dieselbe Richtung wie die attackierten Studien aus Wien. Dies macht die Fälschungsvorwürfe noch weniger nachvollziehbar. Denn mit den Manipulationsanwürfen soll ja – wie gerade Lerchl betont – auch zum Ausdruck gebracht werden, dass in den Wiener Studien Ergebnisse hinkonstruiert wurden, die ohne aktives Fälschen gar nicht hätten wissenschaftlich erzielt werden können. Das ist so nicht länger haltbar.

Gehirntumoren oder überhaupt Krebsgeschwüre benötigen in der Regel Jahrzehnte, um sich zu manifestieren. Handys werden im grösseren Stil aber erst seit Mitte der neunziger Jahre verwendet. Sollte Mobilfunkstrahlung wirklich ein krebserregendes Potenzial besitzen, so kommt das dicke Ende erst noch. In diesem Fall würde sich bei Handystrahlen dasselbe abspielen, was sich bereits beim Tabakrauch, beim Blei oder auch beim Asbest zugetragen hat: ein jahrzehntelanges Verharmlosen kanzerogener Substanzen. Beim Asbest etwa gab es schon sehr früh – um 1900 – erste Hinweise auf eine krebserregende Wirkung. «In den dreissiger Jahren wurden dann Studien publiziert, die die krebserregende Wirkung von Asbest aufzeigten», so Hugo Rüdiger. «Aber auch das wurde ignoriert, und Asbest wurde – wie wir alle wissen – erst rund fünfzig Jahre später verboten. Wer hier keine Analogien erkennt, der will sie wohl nicht sehen.»


UMTS und GSM

Universal Mobile Telecommunications System, kurz UMTS, steht für den Mobilfunkstandard der dritten Generation, mit dem deutlich höhere Datenübertragungsraten möglich sind als mit dem Mobilfunkstandard der zweiten Generation, dem Global System for Mobile Communications (GSM). Beide Standards arbeiten mit elektromagnetischen Strahlen im Megahertzbereich, also mit einer Million Schwingungen pro Sekunde. Daher wird der Mobilfunk allgemein den hochfrequenten Feldern zugerechnet. Doch Mobiltelefone benutzen auch alle möglichen niedrigen Frequenzen, etwa um die Signalübertragung zu optimieren. Das nennt man Modulation. Dabei wird das zu übertragende Signal – Bilder, Text oder Ton – von dem hochfrequenten Trägersignal quasi «huckepack» transportiert. Manche ExpertInnen vermuten, dass gerade diese Modulation für die bei Mobilfunkstrahlen beobachteten schädlichen Effekte verantwortlich zeichnet.