Kinder, Krebs und Strahlung: Die Indizien sagen: Schuldig!

Nr. 41 –

In der Umgebung von Atomkraftwerken treten bei Kindern überdurchschnittlich viele Krebsfälle auf. Das zeigte eine deutsche Studie, die aber auch behauptet, das habe mit den AKWs nichts zu tun. Falsch, sagen renommierte ExpertInnen.

Die Geschichte gleicht einem Thriller: Ein gemeingefährliches Monster treibt sich herum, hinterlässt üppig Opfer, bevorzugt kleine Kinder – aber keiner kriegt es zu fassen. Ende September trafen sich auf Einladung der Gesellschaft für Strahlenschutz in Berlin einige hochkarätige WissenschaftlerInnen, die dem Monster auf die Spur kommen wollen. Im Kern ging es um die deutsche Kinderkrebsstudie (KiKK), die im letzten Dezember publiziert worden war. Eine Studie, die für viel Aufsehen und noch mehr Verwirrung gesorgt hat.

Vier Jahre lang hatten ExpertInnen des Kinderkrebsregisters in Mainz herauszufinden versucht, ob Kinder, die in der Nähe von Atomkraftwerken leben, öfter an Krebs erkranken als andere Kinder. Das Ergebnis war frappant:

Kinder, die fünf Kilometer oder näher an einem AKW leben, haben ein doppelt so hohes Risiko, an Leukämie zu erkranken, wie Kinder, die weiter weg leben.

Dieses erhöhte Risiko nimmt zwar ab, lässt sich aber bis zu einem Umkreis von fünfzig Kilometern feststellen.

Vor allem das Risiko, an Leukämie zu erkranken, ist überdurchschnittlich hoch.

Ganz kleine Kinder sind wesentlich gefährdeter als ältere Kinder.

Bernd Grosche vom deutschen Bundesamt für Strahlenschutz – es hatte die Studie in Auftrag gegeben – fasste diese Resultate an der Berliner Tagung nochmals zusammen. Und dann sagte er, sein Amt sehe keine befriedigende Erklärung: «Deshalb werden wir auch den Leuten, die nahe bei Atomkraftwerken leben, nicht empfehlen, wegzuziehen.» Beschwichtigend fügte er noch an: «Wir sehen uns einfach nicht in der Lage, aufgrund der Daten eine klare Aussage zu machen. Aber ich bin froh, dass es in Deutschland den Ausstiegsbeschluss gibt. Wir sollten dabei bleiben!»

Irrige Lehre

Die offizielle Interpretation der Studie lautet entsprechend: Man weiss zwar nicht, weshalb die Kinder in der Nähe von Atomkraftwerken so viel häufiger an Krebs erkrankten – «nach dem heutigen Wissensstand kommt aber Strahlung, die von Kernkraftwerken im Normalbetrieb ausgeht, als Ursache für die beobachtete Risikoerhöhung nicht in Betracht».

Diese Aussage löste heftigen Protest aus, hält sich aber an die noch immer gängige Lehre, die auf den Folgen der Atombombenabwürfe von Hiroschima und Nagasaki beruht: Eine gross angelegte Studie untersuchte ab 1946 die Bombenopfer und versuchte zu eruieren, welche gesundheitlichen Folgen sie davontragen. Aufgrund dieser Untersuchungen rechnet man damit, dass maximal achtzehn zusätzliche Krebstote auftreten, wenn man hundert Personen mit einem Sievert bestrahlt.

Atomkraftwerke geben im Normalbetrieb Strahlung ab. Um allerdings die vielen Kinderkrebsfälle in Deutschland zu erklären, müsste ihre Strahlenbelastung – hochgerechnet auf die Atombombendaten – beinahe um den Faktor tausend höher sein.

Eigentlich weiss man heute, dass die Hiroschima-Nagasaki-Untersuchungen unzureichend sind, um das Strahlenrisiko zu errechnen – vor allem, wenn es um niedrige Strahlendosen geht. Die Atombombenopfer waren nämlich ganz spezifischer Strahlung ausgesetzt: Diese war kurz und sehr hoch dosiert.

Inzwischen liegen diverse neue Studien vor, die viel genauer darlegen, wie niedrige Strahlendosen wirken. Der Epidemiologe Wolfgang Hoffmann von der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald zitierte eine gross angelegte Studie aus dem Jahr 2005, in die 400 000 strahlenexponierte Personen (AKW-MitarbeiterInnen oder medizinisches Personal) einbezogen worden waren. Die meisten von ihnen erhielten geringe Dosen, das heisst, Dosen, die das Gesetz erlaubt.

Falsch reparierte Zellen

Das Resultat überraschte: Ein bis zwei Prozent der Krebstodesfälle dieser Gruppe waren durch die berufliche Strahlenexposition verursacht – das waren also 1000 bis 2000 zusätzliche Todesfälle, die es eigentlich nicht geben sollte. Und es waren wesentlich mehr, als aufgrund der Hiroschima-Nagasaki-Untersuchung zu erwarten waren. Noch beunruhigender sind die Resultate einer schwedischen Studie, die Hoffmann anführte: Sie förderte zutage, dass die intellektuelle Entwicklung eines Kindes negativ beeinflusst wird, wenn das kindliche Gehirn Dosen ausgesetzt wird, wie sie etwa bei einer Computertomografie freigesetzt werden.

Es häuften sich die Indizien, fasste Hoffmann zusammen, dass auch diverse gutartige Tumore durch Strahlung ausgelöst werden könnten. «Auch gibt es keine Dosis, die keinen Krebs auslöst – jede auch noch so geringe Dosis kann Krebs verursachen.» Das hängt mit den Reparaturfähigkeiten der Zellen zusammen, wie Hoffmann erklärte: Zellen, die durch Strahlung beschädigt worden sind, reparieren sich selbst – nur reparieren sie sich manchmal falsch, wodurch das Erbgut der Zelle falsch zusammengebaut wird und sie zu wuchern beginnen kann. Selbst winzigste Strahlendosen vermögen diesen Prozess auszulösen.

Ein Erklärungsversuch

Das Resultat der Tagung brachte der Epidemiologe Eberhard Geiser von der Universität Bremen auf den Punkt: «Es kann keinesfalls ausgeschlossen werden, dass ein Zusammenhang zwischen den Krebserkrankungen und den Emissionen der in die Studie einbezogenen sechzehn Kernkraftwerke besteht.» Zwar weiss man noch nicht genau, wie die Verbindung läuft. Deswegen aber zu behaupten, es gebe sie nicht, wäre unwissenschaftlich.

Der Londoner Strahlenschutzexperte Ian Fairlie, der auch schon die britische Regierung beraten hatte, präsentierte einen Erklärungsversuch: Atomkraftwerke geben im Normalbetrieb Radionuklide ab – Tritium zum Beispiel oder Kohlenstoff-14. Diese könnten für die Krebsfälle verantwortlich sein. Tritium etwa ist mobil und gilt als aggressiv. Verbunden mit Sauerstoff sei es letztlich, so Fairlie, nichts anderes als radioaktives Wasser.

Diese radioaktiven Stoffe werden zu gewissen Spitzenzeiten konzentriert über die Kamine von AKWs freigesetzt. Es sei sehr schwierig, genaue Daten zu erhalten, wann wie viel rausgelassen werde, meinte Fairlie. Und betonte, er könne sich irren – aber es sei möglich, dass eine schwangere Frau in der Umgebung eines AKWs diese Stoffe einatme. Dadurch könne ihr Fötus erhöhten Dosen ausgesetzt sein – Dosen, die für Erwachsene nicht so gefährlich sein müssen, auf einen wachsenen Fötus aber verheerend wirken dürften.

Der Thriller ist nicht zu Ende. Keiner der anwesenden Wissenschaftler konnte definiitv beweisen, dass die AKWs die Kinderkrebsfälle verursachen. Die Unschuld der Atomkraftwerke ist aber ebenso wenig bewiesen. Es existieren zu viele Indizien, dass sie diejenigen sind, die das Monster beherbergen.



«Wir können offene Fragen klären»

WOZ: Frau Kuehni, der renommierte deutsche Experte Alfred Körblein geht davon aus, dass die Schweizer Kinderkrebsstudie – so wie sie angelegt ist – zu wenig aussagekräftige Ergebnisse liefern wird, weil die Schweiz einfach zu klein ist. Was halten Sie dem entgegen?
Claudia Kuehni: Das haben wir sehr genau angeschaut und sind zum Schluss gekommen, dass wir mit unserem Studienkonzept zu guten Ergebnissen kommen dürften. Wenn das Krebsrisiko für Kinder, die nahe von Atomkraftwerken wohnen, in der Schweiz ähnlich hoch ist wie in Deutschland, so werden wir dies in unserer Studie auch zeigen können.

Wie unterscheidet sich Ihr Studienkonzept von der deutschen Kinderkrebsstudie?
Wir sind in der Lage, genau zu bestimmen, wo die Kinder bei der Geburt gewohnt haben und wo sie lebten, als ihr Krebs ausgebrochen ist. In Deutschland lässt sich nur bestimmen, wo ein Kind lebte, als die Krebserkrankung auftrat, Daten über den Geburtsort fehlen dort. Mit unserer Methode sind wir zudem in der Lage festzustellen, ob es noch andere Ursachen für die Krebserkrankungen geben kann, zum Beispiel Radon oder Hochspannungsleitungen. Das natürlich vorkommende radioaktive Gas Radon ist übrigens in der Schweiz für etwa fünfzig Prozent der radioaktiven Belastung der Einwohner verantwortlich.

In Deutschland wird kritisiert, die Schweizer Studie werde keine vergleichbaren Daten bringen und nütze deshalb nicht viel. Wäre es nicht klüger gewesen, dieselbe Methode wie bei der deutschen Kinderkrebsstudie zu wählen, damit sich die Ergebnisse vergleichen lassen?
Da wir andere Daten zur Verfügung haben als in Deutschland, müssen wir auch ein anderes Studiendesign wählen. Die Methode, die für Deutschland gewählt wurde, war der dortigen Datenlage angepasst. Für die Schweiz wäre sie nicht optimal. Mit dem jetzigen Studienplan können wir ein paar Schritte weitergehen. In Deutschland blieben am Ende viele Fragen offen. Einige davon können wir mit dem erweiterten Studiendesign in der Schweiz nun hoffentlich klären.

Diverse Schweizer Atomanlagen liegen nahe der Grenze zu Deutschland - die AKWs Leibstadt, Beznau I und II sowie das atomare Zwischenlager in Würenlingen. Der süddeutsche Raum um Waldshut wird aber nicht in Ihre Studie einbezogen, obwohl es gerade AnwohnerInnen aus dieser Region sind, die seit Jahren eine Krebsstudie fordern. Warum lässt man die einfach aussen vor?
Falls es für Süddeutschland vergleichbar gute Daten gibt, werden wir sie selbstverständlich direkt einbeziehen. Fehlen diese Daten, werden wir wenn möglich in einem zweiten Schritt zusätzliche Analysen machen, welche die angrenzenden Länder Deutschland und Frankreich mitberücksichtigen.

In Deutschland hat die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW am Studiendesign mitgearbeitet. Das ist bei der Canupis-Studie nicht der Fall – warum nicht?
Wir haben bewusst darauf verzichtet, die eine oder andere Seite - also pro oder kontra Atomkraft - direkt in die Planung oder Durchführung der Studie einzubeziehen. Wir sind aber jederzeit offen für Anregungen und Inputs.

Claudia Kuehni ist Leiterin des Schweizer Kinderkrebsregisters und Projektleiterin der Schweizer Kinderkrebsstudie Canupis.

Die Canupis-Studie

Die Schweiz verfügt seit Jahren über ein ausgezeichnetes Krebsregister für Kinder (etwas Entsprechendes für Erwachsene existiert nicht). Aufgrund der Ergebnisse der deutschen Kinderkrebsstudie hat deshalb die Schweizerische Krebsliga zusammen mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) beim Schweizer Kinderkrebsregister die sogenannte Canupis-Studie in Auftrag gegeben. Die Studie soll herausfinden, «ob Kinder, die in der Nähe eines Schweizer Kernkraftwerkes leben oder aufgewachsen sind, ein höheres Risiko für eine Krebserkrankung und insbesondere für Leukämien haben». Sie tut es allerdings nach einer anderen Methode als die deutsche Studie. Das hat in Deutschland bereits Kritik ausgelöst, weil die Schweizer Resultate sich nicht mit den deutschen vergleichen liessen.

Die Schweizer Studie hat sich indes zum Ziel gesetzt, genauer zu untersuchen, welche Faktoren die Kinderkrebsfälle verursachen könnten – etwa ionisierende Strahlung, elektromagnetische Felder oder industrielle Immissionen. Die Krebsliga zahlt 410 000 Franken an die Studie, das BAG 210 000 Franken, und die Energiekonzerne und AKW-Besitzer Axpo respektive BKW FMB Energie AG zahlen je 100 000 Franken. Die Ergebnisse der Studie sollen bis 2011 vorliegen.

www.canupis.ch