Wirtschaftsjournalismus: Lemminge statt Wachhunde

Nr. 13 –

Hätten die Medien angesichts der tief greifenden Folgen der Finanzkrise nicht alles früher und besser wissen müssen? Die Medienwissenschaftler Kurt Imhof und Mario Schranz üben Kritik.


Medienqualität ist unabdingbar mit der demokratischen Qualität einer sich selbst regulierenden Gesellschaft verknüpft. Nur die medienvermittelte, öffentliche Kommunikation ermöglicht uns die Wahrnehmung und Diskussion der allgemein zu lösenden Probleme. Den Medien kommt also eine seismografische Funktion zu, die zum Ziel hat, Probleme frühzeitig zu erkennen und auf Fehlentwicklungen hinzuweisen. In Bezug auf die aktuelle Krise lassen sich hinsichtlich der Qualität der Wirtschaftsberichterstattung folgende Fragen stellen:

Haben die Medien ihre Frühwarnfunktion im Vorfeld der Krise erfüllt? Wurde genügend früh auf die Blasenbildung (im US-Immobilienmarkt) hingewiesen?

Wurden die Konsequenzen der Blasenbildung richtig eingeschätzt? Hat man insbesondere die Reichweite der Krise bis hin zu den systemgefährdenden Folgen erkannt?

War die Berichterstattung während der Krise nachhaltig und reflektiert? Ging sie über eine episodische und punktuelle Darstellung von Ereignissen hinaus?

Medienberichterstattung während der Finanzmarktkrise

Ein langfristiges Monitoring der Schweizer Qualitätsmedien erlaubt einige Antworten auf diese Fragen. Die seismografische Funktion, frühzeitig vor der Krise zu warnen, wurde von den Medien nicht erfüllt. Zwar wiesen einige Medien sehr vereinzelt bereits vor der Krise auf die Blasenbildung im US-Immobilienmarkt hin, etwa die NZZ oder die «NZZ am Sonntag» («Gefährliche Bonanza am Immobilienmarkt», 7. Juni 2005) und auch die SonntagsZeitung («Platzt die Immobilienblase?», 26. Juni 2005). Diese Interpretation blieb jedoch peripher. Die Krise wurde erst sehr spät, das heisst ab der zweiten Hälfte 2007, als solche erkannt – zu einem Zeitpunkt, als bereits bekannt war, dass Hypothekenbanken schwerwiegende Probleme haben und dass Hedgefonds von Grossbanken (zum Beispiel UBS Dillon Read) katastrophale Verluste verzeichneten. Während im US-amerikanischen Subprime-Sektor eine gewaltige Blase heranwuchs, beherrschten die Umsatz- und Gewinnerfolge der Grossbanken einerseits und die Skandalisierung der Managerlöhne andererseits die Schlagzeilen der Schweizer Medien. Die stark ereignisbestimmte Wirtschaftsberichterstattung mit einer ausgeprägten Personalisierung der Unternehmen über ihre CEOs hat die Verwandlung einer Dienstleistungsbranche zu einer globalen Finanzindustrie und die damit verbundenen Folgen für die Stabilität wirtschaftlicher Entwicklung nicht erkannt.

Erst nach dem Beinahezusammenbruch dieser Finanzindustrie werden systemische Effekte thematisiert. Ein Beispiel hierfür ist die Abzockerdebatte: Erst nach dem Fall der US-Investmentbank Bear Stearns wurde die Bonuskultur, die zuvor nur moralisch skandalisiert worden war, als grundsätzlich dysfunktional für die Wirtschaft erkannt.

Der genannte Befund kann jedoch nicht nur auf die Medien eingeschränkt werden. Noch viel ausgeprägter als der politischen Berichterstattung ermangelt es der Wirtschaftsberichterstattung einer wissenschaftlichen ExpertInnenkultur, die eine kritisch-distanzierte Beobachtung des Wirtschaftsgeschehens betreibt. Die herangezogene und reputierte ökonomische Expertise dient ebenfalls einer stark ereignis- und unternehmensorientierten Betrachtung, und die ExpertInnen sind grossmehrheitlich durch das neoklassische Paradigma geprägt. Darüber hinaus ist die Vielfalt der resonanzreichen politischen AkteurInnen in der Wirtschaftsberichterstattung beschränkter als in anderen Politikfeldern.

Erst mit der dramatischen Verschärfung der Krise – dem Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers und der Rettung der UBS – findet auch in den Medien ab Herbst 2008 eine starke Intensivierung der Berichterstattung statt. Erst jetzt springen auch die elektronischen Medien und die Boulevardpresse auf das Thema auf. Doch der späten Inflation der Krisenthematisierung folgt dann eine noch raschere Deflation. Parallel zur Rückkehr der ersten Quartalserfolge von Grossbanken und dem Anziehen der Börsenwerte im Frühjahr 2009 ist auch ein starker Rückgang der Krisenberichterstattung zu beobachten, obwohl die grundlegenden Probleme nicht gelöst sind.

Grundlegender Wandel der Wirtschaftsberichterstattung

Um die Wirtschaftsberichterstattung in der Finanzkrise verstehen zu können, muss man sich mit ihrer Entwicklung auseinandersetzen. Die Wirtschaft hat in der Medienberichterstattung stark an Bedeutung gewonnen. Vor allem in den neunziger Jahren bauten die Medien die Wirtschaftsressorts beziehungsweise die Wirtschaftsberichterstattung massiv aus. Dieses Grössenwachstum geht gleichzeitig mit einer Verschiebung der thematischen Schwergewichte einher. Bis zu den siebziger Jahren beschäftigte sich die Wirtschaftsberichterstattung mit einer Mischung aus Verlautbarungsjournalismus bedeutender Unternehmen einerseits, mit Branchenbetrachtungen, volks- und exportwirtschaftlichen Reflexionen andererseits. Das heisst, die Wirtschaftsberichterstattung war das Produkt einer journalistischen ExpertInnenkultur über bedeutende Unternehmen, die Volks- und die Exportwirtschaft. Mithin eine Berichterstattung auf der Ebene von Unternehmen, Branchen und des Wirtschaftssystems. Seit den ausgehenden achtziger Jahren verschiebt sich dieser Aufmerksamkeitsfokus auf Unternehmen und Personen sowie auf einen Dienstleistungsjournalismus für gegenwärtige und künftige StakeholderInnen. Die Beachtung der Finanzbranche und vor allem der Grossbanken hat im Rahmen dieser Entwicklung auf Kosten der Industrie stark zugenommen.

Insbesondere seit den neunziger Jahren hat in der Wirtschaftsberichterstattung eine Angleichung der Selektions-, Interpretations- und Inszenierungslogiken an die Politikberichterstattung stattgefunden. Die neuen, auf Maximierung der Aufmerksamkeit der MedienkonsumentInnen ausgerichteten Medienlogiken konstruieren den Lauf der Dinge strikt entlang aktueller Ereignisketten und – wie die alte Geschichtsschreibung – als Produkt von HeldInnen und VersagerInnen, also als Ergebnis von Menschen und Taten und nicht von Verhältnissen, welche die Menschen, ihre Taten und deren Wirkungen jenseits blosser Fähigkeits- und Charakterurteile beschreiben können. Auf dieser Ebene erlahmte auch der publizistisch-politische Konflikt um die Bewertung von Ereignissen. Dies führte zu einer weitgehenden Gleichförmigkeit der Themen in der Wirtschaftsberichterstattung.

Diese mangelnde Auseinandersetzung auf der Makroebene, also auf der Ebene der Wirtschaftpolitik, um das richtige Verhältnis von politischer Regulation und Markt ist auch darauf zurückzuführen, dass das führende Personal des Wirtschaftsjournalismus in dieser Wachstumsphase in seiner überwiegenden Mehrheit in ökonomischen Studiengängen sozialisiert wurde, in denen die Neoklassik zur alleinigen Wirtschaftstheorie erklärt wurde. Mit anderen Worten: Die Spezies der WirtschaftsjournalistInnen ist grossmehrheitlich konditioniert im Paradigma der unfehlbaren Selektions- und Entdeckungsfunktion des Marktes. Dieser Unfehlbarkeitsanspruch hat in den Wirtschaftswissenschaften der neunziger Jahre den Status einer weltanschaulichen Position zugunsten einer Wahrheitsaussage verloren.

Die massiv gewachsenen Wirtschaftsressorts wurden gerade nicht das, was sie sein müssten: publizistische Sphären der Auseinandersetzung über Probleme und Chancen der modernen Ökonomien.



Wirtschaftsjournalismus in der Krise

In der Wirtschaftskrise haben die Massenmedien im deutschsprachigen Raum eine zweifelhafte Rolle gespielt. Das hat Hans-Jürgen Arlt, ehemaliger Journalist und Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut in Berlin, und Wolfgang Storz, WOZ-Autor und Lehrbeauftragter an den Universitäten Kassel und Frankfurt, dazu veranlasst, eine Studie zur Rolle der deutschen Medien in der Krise zu verfassen. Arlt und Storz untersuchten Artikel aus dem Zeitraum von 1999 bis 2009 aus verschiedenen überregionalen deutschen Zeitungen, von der deutschen Nachrichtenagentur DPA sowie aus zwei Nachrichtensendungen der ARD anhand von sechzehn Ereignissen, die sie in vier Phasen teilten. Zudem führten die Autoren Intensivinterviews mit leitenden Redaktoren der untersuchten Medien.

Die Erkenntnisse über die deutsche Medienlandschaft, die Arlt und Storz kürzlich präsentierten, sind vernichtend. «Der tagesaktuelle deutsche Wirtschaftsjournalismus hat als Beobachter, Berichterstatter und Kommentator des Finanzmarktes und der Finanzmarktpolitik bis zum offenen Ausbruch der globalen Finanzmarktkrise schlecht gearbeitet; Pfusch am Bau nennt man das im Handwerk», schreiben die beiden. Die besten Tageszeitungen Deutschlands seien erst mit dem Crash im Herbst 2008 aufgerüttelt worden. Noch schlechter fällt ihr Fazit für die ARD-Fernsehsendungen «Tagesschau» und «Tagesthemen», sowie für die Nachrichtenagentur DPA aus, die selbst nach dem grossen Krach nicht erwachten: «DPA und ARD-aktuell machten auch dann in ihrer handwerklich schlechten Alltagsroutine einfach weiter wie bisher.»

Die Studie wie auch eine Zusammenfassung kann auf der Website der Otto-Brenner-Stiftung heruntergeladen werden: www.otto-brenner-stiftung.de


Die Autoren

Kurt Imhof (54) ist Leiter des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) am soziologischen Institut der Universität Zürich. Mario Schranz (39) ist im selben Institut wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter.

Ihrem WOZ-Beitrag liegt ein langfristig angelegtes Monitoring von Schweizer Medien zugrunde, das die Qualität der Medienberichterstattung analysiert. Die vollständige Untersuchung des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft erscheint demnächst im Schwabe-Verlag: «Jahrbuch Qualität der Medien 2010. Schweiz, Suisse, Svizzera» (fög – Universität Zürich 2010).