Kurt Imhof (1956–2015): Universalgelehrter, Rockstar, Condottiere
Er forschte fächerübergreifend, kämpfte für Medien, die der Aufklärung verpflichtet sind, und war der bekannteste Sozialwissenschaftler der Schweiz.
Ende 1992 lud eine Forschergruppe um den Zürcher Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler zu einem kleinen Fest bei Käse und Wein in die Villa Krämerstein des Medienausbildungszentrums Luzern (MAZ). Gefeiert wurde der erfolgreiche Abschluss des Forschungsprojekts «Krise und sozialer Wandel. Untersuchung von Medienereignissen in der Schweiz 1956–1980». Zur Gruppe gehörten Kurt Imhof, Gaetano Romano und Heinz Kleger. Spiritus Rector des Projekts war aber eindeutig der damals 36-jährige Kurt Imhof, ein wissensdurstiger und an Erkenntnissen interessierter Geist.
An der Feier stiess ich zum ersten Mal auf ihn, denn die Gruppe hatte herausgefunden, dass ich das Projekt für den Nationalfonds begutachtet hatte. Ein Kollege hatte zuvor die Begutachtung mit der Begründung abgelehnt, es handle sich «weniger um ein medienwissenschaftliches als um ein sozialgeschichtliches Projekt». Genau das aber war der Reiz am Projekt und an Kurt Imhof: Ihn interessierten als Soziologe, Historiker, Philosoph und Medienforscher nicht die isolierten Medien, ihn interessierten die Langzeitvergleiche und die Quervergleiche und Fragestellungen darüber hinaus. Er tat das, was Hansjörg Siegenthaler in seiner Rede an jener Feier im MAZ eingefordert hatte: auf den Kontext achten. Kurt Imhof forschte fächerübergreifend.
Seine Laufbahn war erstaunlich: Aus einfachen Verhältnissen stammend, lernte Imhof Hochbauzeichner. Mit 25 machte er die eidgenössische Matura, mit 33 erwarb er den Doktortitel mit der Dissertation «Die Diskontinuität der Moderne. Zur Theorie des sozialen Wandels», mit 39 habilitierte er sich mit der Studie «Medienereignisse als Indikatoren sozialen Wandels», mit 42 war er Assistenzprofessor für Soziologie an der Universität Zürich, danach übernahm er eine Vertretungsprofessur für wissenschaftliche Politik an der Universität Freiburg im Breisgau, und mit 44, vor knapp fünfzehn Jahren, erhielt er die Zürcher Professur, die halb bei der Publizistikwissenschaft, halb bei der Soziologie angesiedelt ist.
Kämpfer mit Leidenschaft
In einer Zeit der Hochspezialisierung, des Gärtchendenkens und der Fachidiotie hatte er die Anmutung eines Universalgelehrten. Er beschäftigte sich mit Religionssoziologie, Öffentlichkeitstheorien, sozialem Wandel, Reputationsforschung, Migrationsforschung, öffentlicher Privatheit, mit Skandalen, Krisen und Katastrophen sowie Medienqualität. Er war unglaublich neugierig. Man hat beispielsweise erleben müssen, wie er Bundeskanzlerin Corina Casanova mit Fragen löcherte, als er sie einmal im privaten Kreis traf.
Was er tat, tat er mit Leidenschaft. Im Wort «Leidenschaft» steckt «leiden». Kurt Imhof litt daran, dass vieles nicht voranging. Er litt an der Qualität der Medien. Er litt aber auch, weil er immer wieder körperlich geplagt war und sich manchmal länger zurückziehen musste. Er war ein Kämpfer – ein Kämpfer für sozialwissenschaftlich solide Medienforschung, ein Kämpfer für den offenen wissenschaftlichen Diskurs, ein Kämpfer für Medien, die der Aufklärung verpflichtet sind. 1993 versammelte er gemeinsam mit dem Basler Anglisten Balz Engler viele SozialwissenschaftlerInnen hinter dem Forschungsantrag «Öffentlichkeit, Kultur und Medien», der beim Nationalfonds eingereicht wurde. Er scheiterte, trug aber sicherlich dazu bei, dass kurz darauf der Nationalfonds das sozialwissenschaftliche Schwerpunktprogramm «Zukunft Schweiz» auflegte, das auch Medienforschung einschloss.
1994 gründete Kurt Imhof zusammen mit MAZ-Direktor Peter Schulz das Mediensymposium Luzern, das zunächst jährlich, dann alle zwei Jahre WissenschaftlerInnen aus den deutschsprachigen Ländern zur Debatte zusammenrief. Der dem jeweiligen Thema gewidmete Eröffnungsvortrag Kurt Imhofs war jedes Mal ein Höhepunkt. Die Ergebnisse der Mediensymposien wurden jeweils in Buchform publiziert, demnächst erscheint der 13. Band unter dem Titel «Demokratisierung durch Social Media?». 1997 rief Kurt Imhof das Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög) ins Leben, dessen Analysen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sehr anerkannt sind, das aber immer wieder ums finanzielle Überleben kämpfen musste. Und seit 2010 publizierte Imhof das «Jahrbuch Qualität der Medien», das ihm bei den MedienpraktikerInnen viele Anfeindungen eintrug. Trotzdem strömten die JournalistInnen stets hin, wenn er sie rief.
Nach aussen wirkte Kurt Imhof wie ein Rockstar, meist im karierten Hemd und mit einfarbiger Jacke, wo andere in Anzug und Krawatte auftraten. Er war gefragt als Experte im Fernsehen, er wurde eifrig zitiert, er schaltete sich in viele Debatten ein, auch über Social Media. Er war der bekannteste Sozialwissenschaftler der Schweiz. Nach innen wirkte er wie ein moderner Condottiere. Es gelang ihm, eine verschworene Gemeinschaft von ihm treu ergebenen ForscherInnen um sich zu scharen. Mark Eisenegger, Patrik Ettinger, Mario Schranz und die 2014 verstorbene Esther Kamber waren mehrheitlich rund zwei Jahrzehnte mit von der Partie.
Die schöneren Ukrainerinnen
Kurt Imhof liebte das Leben. Er liebte Wein, Tabak, die Frauen. Gerne versammelte er KollegInnen an schönen Orten zum Brainstorming – etwa in Baden-Baden oder auf Malta. 1998 hielt er in Kiew am Ende eines medienwissenschaftlichen Seminars nach einem opulenten Mittagessen und nach reichlichem Alkoholgenuss spontan eine feurige Rede, die, von den Gastgebern frenetisch beklatscht, im Satz gipfelte: «Die ukrainischen Frauen sind schöner als die Schweizer Frauen!» Dass ausgerechnet er so früh vom Leben lassen musste, ist ein Jammer. Die Schweiz verliert einen anregenden Intellektuellen. Mit dem Fög und dem Jahrbuch aber hat er Bleibendes geschaffen, das seine MitstreiterInnen weiterführen werden.
Roger Blum ist emeritierter Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Bern.