Philippinen: Das grosse Hoffen auf einen kleinen Wandel

Nr. 18 –

Am kommenden Montag entscheidet sich, ob sich der Inselstaat von der Präsidentschaft Gloria Macapagal-Arroyos erholen kann – oder ob er endgültig zum Armenhaus Südostasiens verkommt.


«Ich habe mich entschlossen, bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2004 nicht anzutreten. Würde ich kandidieren, erforderte das meinerseits grosse politische Anstrengungen. Da ich aber in den vergangenen zwei Jahren eine der Personen war, die für die nationale Zersplitterung und die tiefen Risse in der Gesellschaft die Hauptverantwortung trug, bedeuteten meine politischen Bemühungen eine nicht enden wollende Zersplitterung.»

Gloria Macapagal-Arroyo, Präsidentin der Philippinen, am 30. Dezember 2002

Das kleine schmucklose zweistöckige Gebäude mit der Hausnummer 531 in der Padre Faura Street in Manilas altem Stadtbezirk Ermita ist eine feine Adresse. Seit Mitte der sechziger Jahre zählt der hier untergebrachte Solidaridad Book Shop zu den bestsortierten Buchhandlungen im Megamoloch Manila. Solidaridad – das ist seitdem auch ein beliebter Treffpunkt von AutorInnen, Intellektuellen und Kunst- und Kulturschaffenden. Sie alle finden hier – wie Alkoholsüchtige im Spirituosenladen – den Stoff, nach dem ihnen der Sinn steht: Bücher von Theodor Adorno bis Emile Zola, vom Existenzialismus über den Zenbuddhismus bis zum Marxismus.

Durchschnittlichen Filipinos wird man im Solidaridad allerdings nicht begegnen, und das aus zwei Gründen: Die philippinische Gesellschaft kommuniziert vorwiegend verbal; ein «Tsismis», ein Tratsch, ist zwar zeitaufwendig, aber weitaus wichtiger als Gedrucktes. Und dann ist ein Buch einfach unerschwinglich. Wer kann dafür schon bis zu zwei Tageslöhne hinlegen? (Vgl. Text «Das Spiel mit den Zahlen» am Schluss)

Hirnlose PolitikerInnen

Im zweiten Stockwerk, eine Etage über dem Laden, residiert, wenn er nicht gerade auf Vortragsreise weilt, der mittlerweile einem in sich ruhenden Buddha ähnelnde Francisco Sionil José.

Im Dezember letzten Jahres feierte «Franky», wie er von FreundInnen und engen Bekannten genannt wird, seinen 85. Geburtstag. Als mehrfach national wie international preisgekrönter Schriftsteller – er ist Träger des Ramon Magsaysay Award for Journalism, Literature and Creative Communication Arts, der höchsten Auszeichnung dieser Art in Asien, und hat 2004 den Pablo Neruda Centennial Award zugesprochen bekommen – ist er der bekannteste zeitgenössische Literat seines Landes und meistgelesene philippinische Autor in englischer Sprache. Seine Werke wurden weltweit in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Geboren wurde Franky Sionil José 1924 als Kind einer Landarbeiterfamilie im kleinen Dorf Rosales in der nordwestlich von Manila gelegenen Provinz Pangasinan. Seinen Weg zur Literatur fand er dank der Bücher der katholischen Leihbibliothek und der einzigen Strassenlaterne im Dorf, unter der er viele Abendstunden lesend verbrachte, sofern ihm nicht Moskitoschwärme die Lektüre verdarben. Seine zahlreichen gesellschaftskritischen Schriften durchzieht die Rückbesinnung auf eigene Traditionen und Werte. Nur daraus schöpfe man die notwendige Kraft, um im Interesse der Menschen wahre Fortschritte zu erzielen. «Das ist unser Problem. Betrachten wir nur den laufenden Wahlkampf. Was da an horrenden Summen für niveaulose Shows und Plattitüden verpulvert wird», kritisiert er, «entspricht der Hirnlosigkeit von Politikern, die immer noch meinen, mit den drei Gs – Gewehren, Gaunern, Gold – öffentliche Ämter ergattern und diese zu ihrem eigenen Vorteil ausüben zu können.»

Die Amtszeit der seit Januar 2001 regierenden Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo wertet Sionil José als «verlorene Dekade». Die Tragödie ihrer Regentschaft bestehe nicht nur darin, dass Vetternwirtschaft, eine desolate Menschenrechtssituation, die staatlich geduldete Kultur der Straffreiheit für die Verantwortlichen der vielen politisch motivierten Morde, grassierende Armut und Arbeitslosigkeit sowie eine mit annähernd sechzig Milliarden US-Dollar schwer auf den Schultern der Filipinos lastende Auslandsschuld das Image des Landes ramponierten. Die eigentliche Tragik liegt nach seiner Einschätzung in der möglichen Machtübernahme durch eine Militärjunta. Eine gewagte These? «Nein», insistiert Sionil José, «2001 war es das Militär, das [dem damaligen Präsidenten Joseph] Estrada das Vertrauen entzog und es ermöglichte, dass GMA [die gängige Abkürzung des Namens der Präsidentin] als seine Vizepräsidentin das höchste Staatsamt antrat. Heute weiss das Militär, dass GMA nichts unversucht lassen wird, um sich an der Macht festzuklammern.» Schliesslich befürchtet sie bei einem Verlust ihrer diplomatischen Immunität einen Rattenschwanz von Gerichtsverfahren wegen Amtsmissbrauch und Korruption. «Deshalb bewirbt sie sich anstelle ihres Sohnes für das Abgeordnetenmandat im zweiten Distrikt in meiner Nachbarprovinz Pampanga. Einfach schamlos, jenseits jedweden Feingefühls! Nie zuvor hat ein Präsident unseres Landes nach dem Ende seiner Amtszeit ein niedrigeres politisches Amt angestrebt.» Sollten die jetzt erstmals mit elektronischen Wahlmaschinen stattfindenden Wahlen ausgesetzt, wegen Stromausfällen verschoben oder grob manipuliert werden, «wird das Militär eher selbst das Ruder übernehmen, als es GMA nochmals zu gestatten, aus politisch turbulenten Verhältnissen für sich und ihre Klientel Kapital zu schlagen».

Auf die Militärs ist der Literat also genauso wenig gut zu sprechen wie auf die scheidende Präsidentin. «Kürzlich war ich zu Vorträgen am Nationalen Verteidigungskolleg der Philippinischen Militärakademie in Baguio eingeladen. Dort sagte ich den versammelten Mannschaften: ‹Ihr kommt hauptsächlich aus einfachen, häufig armen Schichten. Euch wird eingetrichtert, der Feind sei die Neue Volksarmee›», die Guerilla der Kommunistischen Partei, «‹deren Mitglieder sich ebenfalls aus den Armen rekrutieren. Letztlich kämpfen Arme gegen Arme. Warum habt ihr nicht den eigentlichen Feind im Visier – unsere zutiefst verantwortungslose, nur auf Eigennutz fixierte Oligarchie, die seit Generationen die Masse unserer Bevölkerung ausraubt und demütigt? Und die euch mit dem Ammenmärchen füttert, es gelte die Kommunisten zu bekämpfen – im Namen der nationalen Sicherheit?›»

Die Reaktion? «Mehrere Kadetten kamen hinterher zu mir und sagten: ‹Sir, Sie haben recht!›» Selbst Offiziere, erzählt Sionil José, hätten sich unter vier Augen ähnlich geäussert. Wer so im Hinterland über die staatlichen Sicherheitskräfte redet, wäre längst als politischer Aktivist erschossen worden.

Machtrochaden in Manila

Über 50 000 KandidatInnen bewerben sich derzeit um 18 000 Posten – vom Präsidentenamt bis hinunter zu den Mandaten auf Gemeinde- und Dorfebene. Rund 50 Millionen registrierte WählerInnen der etwa 94 Millionen EinwohnerInnen der Philippinen sind aufgerufen, am kommenden Montag ihre Stimmen abzugeben. Gewinnchancen haben nach den letzten Umfrageergebnissen lediglich vier der insgesamt neun KandidatInnen für das höchste Staatsamt – acht Männer und Senatorin Maria Ana Consuelo «Jamby» Madrigal.

Die hohe Zahl der BewerberInnen weist darauf hin, wie wichtig diese Wahlen genommen werden – und doch wird sich kaum etwas ändern, wie ein Blick auf die Liste der aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten zeigt.

Mit 38 Prozent steht der fünfzigjährige Benigno «Noynoy» Aquino III auf Platz eins der Umfragen. Er ist ein Sohn der früheren Präsidentin Corazon C. Aquino (1986-1992), die im Sommer vergangenen Jahres starb und unter grosser Anteilnahme der Bevölkerung beerdigt wurde. «Tita Cory», Tante Cory, wie sie genannt wurde, gilt im Inselstaat als Ikone der Demokratiebewegung, die im Februar 1986 nach zwanzig Jahren die Diktatur unter Ferdinand Edralin Marcos zu Fall brachte. Als Kongressabgeordneter und Senator der Liberal Party blieb ihr Sohn Noynoy Aquino blass. Er ist Teileigentümer der über 6000 Hektar grossen Hacienda Luisita, die immer wieder Kontroversen auslöste, weil sie von einer Aufteilung im Rahmen einer Landreform verschont blieb und Bauernproteste blutig niedergeschlagen wurden.

Wie sein Vetter und Konkurrent Gilbert Teodoro entstammt Noynoy dem superreichen, politisch einflussreichen Cojuangco-Clan, der in zwei Lager gespalten ist. Ein Flügel, der in der Vergangenheit als Marcos-treu galt, wird heute unter anderem von Teodoro repräsentiert, während Noynoys Mutter dem reformorientierten Flügel der Grossfamilie angehörte.

Auf Platz zwei (26 Prozent) rangiert Manuel «Manny» Villar Junior (geboren 1949), der aus ärmlichen Verhältnissen stammt. Durch ein geschickt geknüpftes Netz von FreundInnen und durch die Einheirat in eine begüterte Familie gelang dem Selfmademan der Partido Nacionalista eine beispiellose wirtschaftliche und politische Karriere. Lukrative Geschäfte im Immobiliensektor und der Verkauf von Grundstücken und kostengünstigen Fertighäusern für die Mittelschicht liessen Villar im vergangenen Jahr mit einem Vermögen von umgerechnet etwa 530 Millionen US-Dollar auf Platz neun der Forbes-Liste der philippinischen Superreichen rücken. Er ist mit Abstand der reichste Vertreter der Legislative und betrieb den aufwendigsten Wahlkampf, in den er gern Grössen des Showbusiness einbezog. Als einziger Präsidentschaftskandidat verspricht er im Falle seines Sieges eine «People’s Agenda» umzusetzen – sich tatsächlich für die Belange der Armen und Marginalisierten einzusetzen. Das bewog die Hoffnungsträger der Linken, die Kongressabgeordneten Satur Ocampo und Liza Maza, auf Villars Liste für den Senat zu kandidieren.

Joseph «Erap» Estrada (geboren 1937), mit 17 Prozent als Nummer drei platziert, war in den fünfziger und sechziger Jahren als Schauspieler ein Liebling der Massen. Zu ihrer Begeisterung schoss er sich in zahlreichen Filmen durch Manilas Gassen und Gossen. Eine Woge der Euphorie trug ihn im Jahre 1998 als Präsidenten in den Malacañang-Palast. Anfang 2001 jagten ihn jedoch die Militärs wegen angeblichen Amtsmissbrauchs und Korruption aus dem Amt; Estrada wurde von seiner Vizepräsidentin beerbt: Gloria Macapagal-Arroyo. 2007 hatte ihn ein Gericht wegen Korruption und Bezügen aus illegalem Glücksspiel zu lebenslanger Haft verurteilt, die in Hausarrest umgewandelt wurde. Nur wenige Wochen nach dem Urteilsspruch begnadigte ihn die Präsidentin. Der hochgradig lernresistente Estrada ist der älteste unter allen Kandidierenden. So verkündete er während des Wahlkampfs, wie schon im Jahr 2000, militärisch gegen die Moro Nationale Befreiungsfront (MNLF), die bedeutendste muslimische Widerstandsorganisation, im Süden des Landes vorzugehen, die für Selbstbestimmung kämpft.

Der 46-jährige Gilbert «Gibo» Teodoro, seit Herbst 2009 Spitzenkandidat der derzeitigen Regierungspartei Lakas-Kampi-CMD, rangiert mit neun Prozent auf dem vierten Platz in der Gunst der WählerInnen. Obwohl «Gibo» von den Medien als klügster Kopf unter den Kandidierenden gehandelt wird (er studierte unter anderem an der US-Eliteuniversität Harvard Law School), hat er als ehemaliger Verteidigungsminister im Kabinett von GMA an Glanz eingebüsst, was seine Gewinnchancen beträchtlich schmälert.

So lärmend, schrill und inhaltsleer der Wahlkampf dieser Figuren verlief, so kämpferisch wie nie zuvor engagierten sich viele nichtstaatliche Organisationen und zivilgesellschaftliche Gruppen. Sie veranstalteten zahllose Treffen, informierten, klärten auf. Ihre Arbeit bietet eine gute Grundlage – allerdings erst für spätere Wahlen. Nach dem 10. Mai wird es keinen entscheidenden Wechsel geben. Und so werden sich die Konflikte weiter zuspitzen. Landesweit existieren annähernd 300 politische Dynastien und nach Schätzungen der Philippinischen Nationalpolizei 132 Privatarmeen mit insgesamt 10 000 bewaffneten Männern. Laut Polizeiangaben zirkulieren zudem 1,2 Millionen nicht lizenzierte Waffen. Mit diesen Arsenalen und Armeen lassen sich die bestehenden Machtverhältnisse und Pfründe gut verteidigen.



Das Spiel mit den Zahlen

Sonny Africa, Leiter der Forschungsabteilung der Ibon Foundation (eine in der Endphase der Marcos-Diktatur entstandene unabhängige Denkfabrik), beleuchtet seit Jahren kritisch die offiziellen Daten zu Wirtschaft, Wachstum und Entwicklung. «Um die Zahl der tatsächlich Armen, immerhin 69 Prozent unserer Bevölkerung, zu verschleiern, änderte die Regierung kurzerhand die Kriterien zur Bestimmung von absoluter Armut», erläutert der hagere und schnell redende Africa. «Damit unterläuft sie die international anerkannten Standards. Nur wer täglich über weniger als 41 Peso [rund einen Franken] verfügt, lebt demnach unterhalb der Armutsgrenze.» Deshalb würden Regierungszahlen bloss 33 Prozent der Bevölkerung als arm ausweisen. Für 41 Peso bekommt man gerade mal ein Kilogramm Reis; ein Liter Benzin kostet etwa 45 Peso. «Selbst nach diesem Armutskriterium ist die Zahl der Armen seit 2000 um mindestens 2,1 Millionen gestiegen», sagt Africa.

Wie schwer das Überleben für die Masse der Bevölkerung im Grossraum Manila ist, erläutert der Wirtschaftsfachmann am Beispiel des staatlich festgelegten Mindestlohns. «Dieser beträgt in Manila 382 Peso [etwas über neun Franken]. Doch laut der nationalen Statistikbehörde sind mindestens 917 Peso nötig, um das schiere Überleben einer durchschnittlich sechsköpfigen Familie zu garantieren.»

Die Ära der promovierten Ökonomin Gloria Macapagal-Arroyo war für Sonny Africa von einer rasanten Umverteilung geprägt: «Die Präsidentin hat dem internationalen Big Business und der einheimischen Oligarchie fette Jahre beschert. Nach eigenen Angaben vermochten die tausend wichtigsten Unternehmen ihre durchschnittlichen Jahresnettogewinne von 116 Milliarden Peso im Jahre 2001 auf durchschnittlich 416 Milliarden zu steigern.» Vergleich dazu werde die Regierung in diesem Jahr «pro Einwohner täglich nur 6,85 Peso für Bildung, 1,10 Peso für Gesundheit und lächerliche 16 Centavos für den Wohnungsbau ausgeben – für die Rückzahlung der Auslandsschulden indes 21,75 Peso».

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