Naher Osten: «Europäische Front eröffnet»

Nr. 22 –

So wird Israel die Hamas-Regierung nicht los.


Wie in vielen arabischen Städten demonstrierten am Montag auch in Beirut mehrere Tausend Menschen gegen die israelische «Piraterie» vor Gaza. Normalerweise mobilisieren im Libanon solche Themen vor allem die palästinensischen Flüchtlinge aus den Lagern. Diesmal waren jedoch auch viele LibanesInnen auf der Strasse. Neben zahlreichen improvisierten antiisraelischen Transparenten und palästinensischen Fahnen trugen sie eine riesige türkische Flagge mit sich. Hier, wie in der ganzen arabischen Welt, wird die «Free-Gaza»-Flotte mit Hilfsgütern für die Bevölkerung des Gazastreifens vorab als türkische Aktion gesehen.

«Taufe für die Türkei» betitelte denn auch die libanesische Zeitung «al-Achbar» ihren seitenlangen Bericht über das «Blutbad auf hoher See». Die Türkei sei vom Vermittler im regionalen Konflikt zwischen den arabischen Staaten und Israel zu dessen Opfer geworden. Die Website des Hisbollah-Fernsehens al-Manar schrieb: «Die israelischen Massaker werden international.»

Lavierender Abbas

In der ganzen Region ist die Hoffnung zu spüren, dass jetzt die westlichen Regierungen entschiedener als sonst die israelische Militäraktion verurteilen. Schliesslich wurden auch europäische BürgerInnen in Mitleidenschaft gezogen und nicht nur die weitgehend von Europa bezahlte Infrastruktur in den besetzten Gebieten zerstört.

Ungemütlich ist derweil die Lage der Palästinensischen Autonomiebehörde von Mahmud Abbas. Sie hat zwar dreitägige Staatstrauer angeordnet, musste aber gleichzeitig ihre Ordnungskräfte losschicken, um die Demonstrationen der empörten Bevölkerung vor israelischen Checkpoints und Militärposten unter Kontrolle zu halten. Weitere Gewalt soll verhindert werden. Abbas will trotz der jüngsten israelischen Militäraktion die indirekten Friedensgespräche mit Israel fortsetzen. Eine Mehrheit innerhalb der palästinensischen Regierungskoalition lehnt dies jedoch ab. Die Gespräche wurden erst im Mai wieder aufgenommen. Die USA hatten versprochen, dass es vonseiten Israels zu keinen weiteren «Provokationen» kommen werde. Im März war der erste Versuch eines Dialogs abgebrochen worden, nachdem Israel den Bau von neuen Siedlungen in der Westbank angekündigt hatte.

«Keine Notlage»

Israel kann die seit fast vier Jahren andauernde Blockade des Gazastreifens nur noch schwer aufrechterhalten. Aufgrund des ständigen Drucks erlaubte Israel schon in den vergangenen Wochen zunehmend die Einfuhr von humanitären Gütern in die belagerte Zone – nicht ohne eine Notlage in Gaza zu bestreiten. Doch laut Uno-Angaben bringen die Lastwagen nur etwa ein Viertel dessen über die Grenze, was vor der Schliessung geliefert worden ist – längst nicht genug, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu decken. Die Uno fordert deshalb bei jeder Gelegenheit die Aufhebung der Blockade. Catherine Ashton, die Aussenpolitikbeauftragte der Europäischen Union, verlangte dies schon bei ihrem Gazabesuch im März und erneuerte die Forderung, als die Solidaritätsschiffe in See stachen. Nach dem Massaker versprach sie, die EU wolle sich stärker für eine Öffnung einsetzen. Ägypten, das sich bisher entgegen aller Kritik aus der islamischen Welt an der Blockade beteiligte, hat seine Grenze zum Gazastreifen jedenfalls «bis auf weiteres» geöffnet.

Mit der Blockade wollte Israel die Hamasregierung im Gazastreifen zu Fall bringen. Davon ist die Regierung in Tel Aviv nach vier Jahren weiter entfernt denn je, wie auch israelische KommentatorInnen feststellen. Ari Shavit bezeichnet in der Zeitung «Haaretz» die Passagiere der «Mavi Marmara» zwar als Provokateure, erkennt aber: «Mit einer einzigen törichten Aktion hat Israel den Interessen von Hamas besser gedient, als diese es selber je tun konnte, und hat damit eine europäische, türkische Front eröffnet.» Hamas-Regierungschef Ismail Hanyeh hat jedenfalls die Toten des Überfalls auf hoher See schon mal zu Märtyrern erklärt.