Die inneren Widersprüche der Hamas
Der Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober wurde unter den verschiedensten Aspekten analysiert. Darunter hat einer relativ wenig Aufmerksamkeit erfahren: die geografische Lage.
Fast zehn Jahre lang wurde der Gazastreifen nicht als wichtiges Kampfterrain für den palästinensischen Widerstand wahrgenommen. Die Hamas war durch die wiederholten Einfälle der israelischen Armee (IDF) auf eine defensive Strategie zurückgeworfen, zuletzt durch die fast zwei Monate andauernde Operation „Protective Edge“ vom Sommer 2014. Seitdem hat Israel sein Raketenabwehrsystem derart ausgebaut, dass die Geschosse der Hamas aus dem Gazastreifen weitgehend wirkungslos blieben. Hinzu kam die umfassende Blockade, die das palästinensische Territorium an der Mittelmeerküste vom Rest der Welt isoliert hat.
Die weitaus näher liegende Konfliktzone war das Westjordanland. Die internationalen Medien schenkten diesem besetzten Gebiet mehr Aufmerksamkeit als dem Gazastreifen, nicht zuletzt wegen der ständigen Ausweitung der israelischen Siedlungen und der häufigen Übergriffe israelischer Soldaten und Siedler auf palästinensische Dörfer. Auch deshalb schien das Westjordanland aus Sicht der Hamas und anderer militanter Gruppen besser als Ausgangsbasis für den bewaffneten Widerstand geeignet.
Das hat offenbar auch die andere Seite so gesehen. Unmittelbar vor dem 7. Oktober waren die israelischen Sicherheitskräfte vornehmlich damit beschäftigt, die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland in Schach zu halten – unter der Annahme, dass von Gaza – abgesehen von dem sporadischen Raketenbeschuss – keine größere Bedrohung ausgehe.
Diese Einschätzung hat die Hamas am 7. Oktober radikal widerlegt. Bei ihrem mörderischen Überfall im Morgengrauen hat ihr militärischer Arm den Grenzübergang bei Erez in die Luft gesprengt und die israelischen Sicherheitsbarrieren an zahlreichen Stellen durchbrochen. Die Ermordung von fast 1200 Israelis und die Entführung von mehr als 240 Geiseln war eindeutig darauf angelegt, eine umfangreiche militärische Reaktion gegen den Gazastreifen zu provozieren.
Dieser Erwartung hat das israelische Militär mit seiner beispiellos brutalen Luft- und Bodenoffensive entsprochen. Die bis Anfang Januar 22 600 palästinensischen Todesopfer und die auf dem gesamten Territorium angerichteten Zerstörungen beschäftigen seit Wochen die Regierungen in aller Welt und dominieren die Berichterstattung der internationalen Medien. Der Gazastreifen ist erneut ins Zentrum der Konfrontation zwischen Israelis und Palästinensern gerückt.
Das macht die Frage umso wichtiger, wer in der Hamas-Führung das Sagen hat. Früher hatte man angenommen, dass die Organisation maßgeblich von außen geleitet wird, also von ihren in Amman, Damaskus und Doha ansässigen Führern. Doch diese Einschätzung ist längst überholt. Spätestens seit Februar 2017 haben sich die Machtverhältnisse innerhalb der Hamas verschoben: Mit der Wahl von Yahya Sinwar zum Leiter der Organisation im Gazastreifen erlangte das Territorium eine größere Autonomie gegenüber der im Ausland sitzenden Führung.
Unter Sinwar vollzog die Gaza-Hamas eine strategische Neuausrichtung. Zum einen unternahm sie, als Organisation des bewaffneten Kampfes, mehr offensive Aktionen gegen Israel, zum anderen bemühte sie sich um eine engere Einbindung in den politischen Kampf der Palästinenser insgesamt. Mit dieser Strategie reagierte Sinwar auf die wachsenden Spannungen im Westjordanland und in Jerusalem, wie sie etwa in dem Dauerstreit um die Al-Aksa-Moschee1 zum Ausdruck kamen.
Doktrin der offensiven Gewalt
Die israelische Blockade des Gazastreifens hatte ein paradoxes Resultat: Statt das Territorium zu isolieren, rückte sie die Problemzone Gaza erneut ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit.
Die heutige Hamas hat, als politische und militärische Organisation, vier Machtzentren: Gaza, das Westjordanland, die israelischen Gefängnisse, in denen viele der Hamas-Führungsfiguren jahrelang einsaßen, und die „äußere“ Führung. In diesem Machtgefüge hatte die Auslandsführung, die das „Politbüro“ der Hamas leitet, bei strategischen Fragen in der Regel das letzte Wort.
Als die Israelis während der ersten Intifada ab 1989 gegen die kurz zuvor gegründete Hamas vorgingen, mussten deren Führer nach Jordanien, Libanon und Syrien fliehen. Um die Jahrtausendwende etablierte sich die Hamas-Zentrale in Damaskus. Von dort aus kontrollierten die Hamas-Führer weiterhin den militärischen Flügel in Gaza, die Kassam-Brigaden. Zudem unterhielten sie diplomatische Kontakte auf internationaler Ebene und organisierten die Unterstützung durch ausländische Geldgeber, zu denen auch humanitäre Hilfsorganisationen und private Sponsoren zählten. Seit Beginn des Oslo-Friedensprozesses gehörte auch Iran zu den Unterstützern.
Zu dieser Zeit hatten also die Hamas-Führer im Ausland das Sagen, von denen einige – wie der Politbüro-Chef Chaled Meschal – sogar im Exil aufgewachsen waren. Von Amman und später von Damaskus aus trafen Meschal und die anderen Hamas-Führer die Entscheidung über Krieg oder Frieden. Die Kassam-Brigaden in den palästinensischen Gebieten hatten sich daran zu halten, auch wenn sie mit den Befehlen aus der Ferne nicht einverstanden waren.
Doch das Primat der Auslandsführung wurde immer stärker angezweifelt, nachdem die Israelis 2004 Scheich Ahmad Yasin, das spirituelle Oberhaupt der Organisation, durch einen Raketenangriff in Gaza gezielt getötet hatten. Die Gaza-Hamas konnte ihren Einfluss immer mehr ausbauen, und das lag an mehreren Faktoren: Zum einen war es der Sieg der Hamas bei den Wahlen von 2006 und die darauf folgende Übernahme der Macht im Gazastreifen im Juni 2007. Der zweite Faktor war die ständige Verschärfung der israelischen Blockade, die es der Gaza-Führung ermöglichte, durch Handel über ihr unterirdisches Tunnelsystem finanzielle Einnahmen zu generieren. Damit war die Gaza-Organisation nicht mehr so stark abhängig von der wirtschaftlichen Unterstützung durch die Diaspora.
Ein dritter Faktor war der Arabische Frühling, wobei insbesondere der Aufstand in Syrien die Machtverschiebung in Richtung Gaza beschleunigt hat. Zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs versuchten die in Damaskus residierenden Hamas-Führer noch zwischen dem Assad-Regime und den sunnitischen Aufständischen zu vermitteln. Doch als sie dann von Teheran aufgefordert wurden, den syrischen Präsidenten bedingungslos zu unterstützen, widersetzten sie sich und zogen im Februar 2012 aus Damaskus ab.
Mousa Abu Marzouk, die Nummer zwei der Hamas, ließ sich in Kairo nieder; Meschal in der katarischen Hauptstadt Doha, von wo aus er Iran und die Hisbollah wegen ihrer Unterstützung des Assad-Regimes scharf kritisierte. Daraufhin kappte Teheran die Zahlungen an die Hamas in zwei Etappen: zunächst im Sommer 2012 und nochmals im Mai 2013, als die Kassam-Brigaden sich am Kampf gegen die syrische Armee und die Hisbollah beteiligten. In der Folge ging die iranische Finanzhilfe für die Hamas um die Hälfte zurück, von jährlich 150 Millionen auf 75 Millionen Dollar.
Diese Spannungen mit Iran bedeuteten eine Schwächung der Auslands-Hamas, wozu auch die Aufspaltung ihrer Führung zwischen Katar und Ägypten beitrug. „Der Abzug aus Syrien kam der Führung in Gaza sehr zustatten“, sagte Ghazi Hamad, ein führender Hamas-Vertreter, als ich ihn im Mai 2013 ihn Gaza interviewte. „Ich sage nicht, dass Gaza mehr Einfluss hat als die Führer im Ausland, aber jetzt herrscht zwischen beiden ein größeres Gleichgewicht.“
Bemerkenswert ist dabei, dass die Führung in Gaza, trotz des Bruchs mit dem syrischen Regime, ihre intensive Verbindung mit Teheran aufrechterhalten konnte. Das gilt insbesondere für die höheren Ränge der Kassam-Brigaden, deren stellvertretender Kommandeur in Gaza, Marwan Issa, oft nach Teheran reiste.
Die größere Autonomie des militärischen Hamas-Flügels zeigte sich auch im Fall Gilad Schalit. Der israelische Soldat war im Juni 2006 auf israelischem Territorium entführt und nach Gaza verschleppt worden. Angeordnet hatte die Aktion Ahmed al-Dschabari, der damalige Chef der Kassam-Brigaden. Er war es auch, der zusammen mit Hamad 2011 die Vereinbarung zur Freilassung von Schalit aushandelte. Als Gegenleistung entließ Israel 1027 palästinensische Gefangene, was viele Palästinenser als großen Sieg der Gaza-Hamas betrachten. Al-Dschabari wurde ein Jahr später durch einen gezielten Drohnenangriff getötet, mit dem Israel seine Offensive „Pillar of Defense“ gegen den Gazastreifen eröffnete.2
Die wiederholten israelischen Militäroperationen in Gaza trugen dazu bei, den Einfluss der Kassam-Brigaden zu verstärken. Deren Kämpfer konnten damit punkten, dass sie an der Gaza-Front einen zentralen Beitrag zum Kampf gegen Israel leisteten – im Gegensatz zur Auslandsführung der Hamas, die zunehmend an den Rand gedrängt wurde. Die gesteigerte Bedeutung der Brigaden zeigte sich auch darin, dass 2013 drei ihrer Mitglieder ins Hamas-Politbüro aufgenommen wurden. Damit erhielt der bewaffnete Arm eine neue und direkte Rolle im politischen Entscheidungsprozess.
Je länger die Blockade des Gazastreifens andauerte, desto mehr gewann das Territorium an symbolischer Bedeutung. Das musste auch die politische Hamas-Führung anerkennen, wenn sie nicht ihre Legitimität einbüßen wollte. Bezeichnend ist, dass Chaled Meschal im Dezember 2012 aus Anlass des 25. Jahrestags der Hamas-Gründung zum ersten Mal den Gazastreifen besuchte. In einer Rede würdigte der Vorsitzende des Politbüros, der gerade seine Wiederwahl betrieb, das „Blut der Märtyrer“ und die Opfer für das „ewige Gaza“.
Zentrale Bedeutung für die Hamas-Führung gewann Gaza allerdings erst nach der Ablösung von Meschal. Im Mai 2017 wurde Ismail Hanija, bis dahin Chef der Hamas in Gaza, zum neuen Vorsitzenden des Politbüros gewählt. Dieser Wechsel ermöglichte bessere Beziehungen zu Teheran, das jetzt direkt mit der Hamas in Gaza verhandelte.
Im Dezember 2019 verlegte Hanija seinen Amtssitz jedoch nach Doha, was unter anderem damit zu tun hatte, dass Reisen von Gaza ins Ausland vom guten Willen der ägyptischen Regierung abhingen. Der Abschied Hanijas aus Gaza signalisierte jedoch auch dessen Machtverlust gegenüber Yahya Sinwar, seinem Nachfolger als Führer der Gaza-Hamas. Sinwar hatte beim Aufbau des militärischen Flügels der Hamas in den 1980er Jahren eine entscheidende Rolle gespielt, danach aber 22 Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht. Im Oktober 2011 wurde er im Zuge des Schalit-Deals freigelassen.
Sinwars Vorstellung vom bewaffneten Kampf der Palästinenser war eine proaktive: Für ihn war offensive Gewalt das einzige Mittel, um den Weg zu Verhandlungen mit Israel frei zu machen. Sobald Sinwar zum starken Mann der Hamas in Gaza aufgestiegen war, begann er seine Ideen umzusetzen. Er wollte die Hamas-Herrschaft über das Territorium nutzen, um Israel weitere Zugeständnisse abzuringen. Auch führte er die Verstärkung der Kassam-Brigaden fort, die nach Schätzungen von Experten bereits zwischen 2000 und 2010 von 10 000 auf mindestens 30 000 Kämpfer aufgestockt worden waren.
Offizielle Bedenken gegen die Ernennung von Sinwar zum neuen Chef in Gaza äußerte innerhalb der politischen Hamas-Führung nur Ahmed Yousef, ein früherer Berater von Sinwars Vorgänger Ismail Hanija. Er wollte das Primat der Auslandsführung bewahren und befürchtete, Israel könnte die enge Verbindung Sinwars zu den Kassam-Brigaden als weiteren Vorwand nehmen, um den Gazastreifen als Brutstätte islamistischen Terrors zu behandeln.
Sinwar konnte jedoch sehr rasch Erfolge präsentieren. 2018 und 2019 erreichte er, dass die israelische Blockade abgemildert wurde, nachdem er Protestmärsche zum Gaza-Grenzzaun organisiert hatte. An diesen allwöchentlichen Demonstrationen beteiligten sich zehntausende Menschen, während die Hamas gleichzeitig Raketen und Ballons mit Brandsätzen in Richtung Israel schickte.
Die Regierung in Tel Aviv gab diesem Druck schließlich nach und war zu einer Reihe von Vereinbarungen bereit. Die sahen zum einen die teilweise Öffnung mehrerer Grenzübergänge vor, zum anderen die Erlaubnis für weitere Geldzuwendungen aus Katar, mit denen die öffentlichen Bediensteten im Gazastreifen bezahlt wurden.
Dennoch blieben viele Palästinenser und Palästinenserinnen in Gaza wie im Westjordanland skeptisch gegenüber der Hamas. Man warf ihr vor, sie wolle mit den Märschen nur von der wachsenden Kritik an ihrer Herrschaft in Gaza ablenken und mit der Ausweitung von Gewaltaktionen nur ihre machtpolitischen Interessen verteidigen.
Im Mai 2021 bot sich Sinwar die Chance, auf die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Hamas zu reagieren. Damals waren israelische Sicherheitskräfte gewaltsam gegen palästinensische Demonstranten vorgegangen, die gegen die Vertreibung palästinensischer Familien aus ihren Häusern im Ostjerusalemer Viertel Scheich Dscharrah protestierten.
Am 10. Mai feuerten die Kassam-Brigaden – nach einem Ultimatum – mehr als 4000 Raketen in Richtung Israel. In vielen israelischen Städten demonstrierten arabische Israelis ihre Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung von Jerusalem. Damit konnte sich die Hamas als Beschützerin der heiligen Stätten darstellen und neue Kontakte mit Palästinensern jenseits des Gazastreifens herstellen. Seit Mai 2021 war jede palästinensische Protestaktion in Jerusalem oder im Westjordanland von Hochrufen auf Abu Obaida, den Sprecher der Kassam-Brigaden, begleitet.
Die Gaza-Hamas verstärkte ihre Bemühungen, die palästinensische Bevölkerung jenseits ihres Territoriums zu beeinflussen, bezeichnenderweise kurz nachdem Bahrain, Marokko und die Vereinigten Arabischen Emirate diplomatische Beziehungen mit Israel aufgenommen hatten. Mit diesem historischen Schritt – der auf der Grundlage der von Washington vermittelten Abraham Accords Declaration erfolgte – zeigten diese Staaten, dass sie die drohende Perspektive einer israelischen Annexion des Westjordanlands nicht als Hindernis für eine Normalisierung der Beziehungen mit Israel betrachteten.
Für eine überwältigende Mehrheit der Palästinenser war dies ein glatter Verrat: Arabische Staaten signalisierten, dass sie die palästinensische Sache nicht mehr verteidigen würden. Für die Hamas war dies der ideale Zeitpunkt um als Verteidigerin des Westjordanlands und Jerusalems aufzutreten.
Ebenfalls seit 2021 demonstriert die Hamas Solidarität angesichts der israelischen Drohungen gegen die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem, die als palästinensisches Nationalsymbol gilt. Der Angriff der Hamas vom 7. Oktober – dem sie den Namen „Al-Aksa-Flut“ gegeben hat – entspricht also ganz der Logik, die auf offensive Gewalt setzt, um die palästinensischen Gebiete insgesamt zu verteidigen. Bemerkenswert ist dabei, dass der Angriff offenbar von der Hamas in Gaza beschlossen wurde, ohne die Auslandsführung einzubinden.
Seit Beginn des israelischen Gaza-Feldzugs betreibt die Hamas auch eine konzertierte Medienstrategie, die auf die zentrale Bedeutung von Gaza für den palästinensischen Kampf abhebt. Trotz der intensiven israelischen Luftangriffe, der Zerstörung der Telekommunikationsinfrastruktur und des zeitweisen Internetausfalls ist es der Hamas gelungen, Informationen aus den Kampfzonen zu übermitteln und laufend ein Gegen-Narrativ zur offiziellen israelischen Kriegsberichterstattung zu bieten. Die Kassam-Brigaden und die Hamas in Gaza veröffentlichen fast täglich Videos von zerstörten israelischen Panzern oder auch Material, das die von israelischer Seite behauptete militärische Nutzung von Krankenhäusern widerlegen soll.
Die Hamas-Führer in Doha sind in diese Informationskampagne, die von Gaza aus geleitet wird, offenbar nicht involviert. Der Lauf der Dinge wird heute also – anders als während der israelischen Gaza-Offensiven von 2008 und 2009 (Operation Cast Lead) – nicht mehr vom Vorsitzenden des Hamas-Politbüros, also vom fernen Ausland aus kommentiert, sondern von Kassam-Sprecher Abu Obaida.
Tatsächlich zeigt sich immer klarer, dass Sinwar und die gesamte Gaza-Hamas die Exilführung in Doha, deren Mitglieder in bequemer und luxuriöser Distanz vom Konfliktgeschehen leben, zutiefst verachten.
Dagegen spielen die Hamas-Vertreter im Libanon im aktuellen Informationskrieg eine wichtige Rolle. Einer von ihnen, Saleh al-Aruri, ein führender Kommandeur und Verbindungsmann zur Hisbollah, wurde am 2. Januar bei einem Anschlag in Beirut getötet. Osama Hamdan, eine der prominentesten Figuren des Politbüros, hält in Beirut regelmäßig Pressekonferenzen ab, in denen er die israelische Darstellung des Krieges anzweifelt.
Im Gegensatz zu anderen Hamas-Größen, die befürchten, dass Sinwar zu eng mit den Kassam-Brigaden verquickt ist, hält Hamdan das Zusammengehen des zivilen und des militärischen Flügels der Hamas für völlig logisch. Und er teilt auch die Ansicht Sinwars, dass nur der Einsatz von Gewalt die palästinensische Sache voranbringe. Als ich Hamdan 2017 in Beirut interviewte, zog er eine interessante Parallele: „Auch Israels politische Führer – ob Netanjahu, Rabin, Barak oder Peres – waren alle Militärs, ehe sie politische Verantwortung übernommen haben.“
Heute beschreibt Hamdan den Krieg nicht als ein Unterfangen der Hamas, sondern allgemeiner als Kampf um die Befreiung Palästinas. Auf dieser Grundlage fordert er weltweite Unterstützung für die Palästinenser gegen das „amerikanisch-zionistische imperialistische Projekt“, wie er es nennt.
Aus der Sicht Hamdans hat der Hamas-Angriff vom 7. Oktober den Palästinensern mehrere Erfolge verschafft: Er hat zur Befreiung palästinensischer Häftlinge geführt; er hat die israelische Armee auf dem Schlachtfeld Gaza in eine schwierige Lage gebracht; und er hat die teilweise Evakuierung der israelischen Bevölkerung aus Städten nahe der Grenze zum Libanon und des Gazastreifens erzwungen.
Zudem, so behauptet Hamdan, seien die wachsenden Probleme der israelischen Armee bei ihrer Bodenoffensive in Gaza der Grund gewesen, warum Israel in eine Kampfpause und in den Austausch palästinensischer Gefangener gegen einige der israelischen Geiseln eingewilligt habe. Die Tatsache wiederum, dass die Israelis ihre militärischen Operationen am 24. November fortgesetzt haben, ist für Hamdan der Beweis dafür, dass sie ihre Ziele in der ersten Phase der Kämpfe nicht erreicht haben.
Diese Erzählung der Hamas wird zwar in den arabischen Medien angezweifelt, insbesondere im notorisch hamasfeindlichen Saudi-Arabien, doch bei der palästinensischen Bevölkerung erzielen Behauptungen wie die von Abu Obaida und Hamdan erhebliche Wirkung. Und auch in den arabischen Nachbarländern dürften die Sympathien für die Hamas heute größer sein als vor dem Krieg. In den Augen vieler hat die Hamas gezeigt, dass Israel nicht unbesiegbar ist. Die PLO dagegen hat nach allgemeinem Empfinden kaum etwas für die palästinensische Sache getan.
Für viele Palästinenser hat die Hamas mit ihrem Angriff vom 7. Oktober das Versprechen der Befreiung konkret gemacht – wenngleich zu einem hohen Preis. Darüber hat sie, indem sie Israel zur Tötung von mehr als 20 000 Menschen provoziert hat, die Aufmerksamkeit der Welt auf die Brutalität der israelischen Besatzung und deren Herrschaft über die Palästinensergebiete gelenkt.
In den ersten Wochen nach dem 7. Oktober konzentrierte sich die internationale Berichterstattung hauptsächlich auf das brutale Massaker an israelischen Zivilisten. Weit weniger Aufmerksamkeit fand, was der Überfall über das strategische Umdenken der Hamas verrät: Indem Israel gezwungen wurde, eine riesige Kriegsoperation zu starten, wurde ihr bisheriges Narrativ über den Gazastreifen umgestürzt, wonach das Territorium seit 2005 von der israelischen Okkupation befreit sei und auf unbestimmte Zeit als abgeschottete Enklave weiter existieren könne.
Für die palästinensische Bevölkerung wiederum hatte der Krieg noch eine weitere Wirkung: Er verknüpft das Schicksal von Gaza erneut mit den zentralen Traumata ihrer historischen Erfahrung. Was Israel als humanitäre Maßnahme ausgibt, nämlich die De-facto-Vertreibung der Bevölkerung aus dem Norden des Gazastreifens, stellt das gegenwärtige Geschehen in den größeren historischen Rahmen der Nakba(deutsch: Katastrophe), der Vertreibung der Palästinenser 1948. Dasselbe gilt für Pläne, die Palästinenser des Gazastreifens in die Sinai-Wüste umzusiedeln, die innerhalb der Netanjahu-Regierung erwogen werden.
Die meisten Betroffenen in Gaza kommen aus Familien, die bereits im Krieg von 1948 zu Flüchtlingen wurden. Viele dieser Menschen durchleben heute eine Wiederholung der früheren Entwurzelung. Aus ihrer Sicht gibt es nur einen Weg, einer zweiten Nakbazu entgehen: Man muss in Gaza bleiben, egal wie groß die Zerstörungen sind.
Wie sehen die Vorstellungen für den „Tag danach“ in Gaza aus? Israel und die USA diskutieren verschiedene Szenarien. Bei vielen Fragen sind sie uneinig, auch was die Möglichkeit betrifft, dass der Gazastreifen von der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Mahmud Abbas regiert wird, was Israel ablehnt. Beide bestehen jedoch auf die vollständige „Vernichtung“ der Hamas. Aber dieser Begriff beruht womöglich auf einer falschen Vorstellung von dem, was die Organisation heute ist.
Es scheint eher unwahrscheinlich, dass die Gaza-Hamas vernichtet werden kann – trotz wochenlanger Angriffe einer der stärksten Armeen der Welt. Am 25. Dezember meldete sich Sinwar erstmals seit Beginn des Krieges öffentlich zu Wort. In einem Brief an Politbürochef Hanija drang Sinwar auf die Fortsetzung der Kämpfe. Er behauptete, die Kassam-Brigaden seien auf dem Weg, die IDF zu schlagen, und hätten bereits 1700 israelische Soldaten getötet – etwa zehnmal so viele wie nach Angaben des israelischen Militärs.
Solche unüberprüfbaren Behauptungen mögen zur normalen Propaganda in Zeiten des Krieges gehören. Aber sie können auch als Bemühen Sinwars gelesen werden, den eigenen Einfluss gegenüber der Auslandsführung der Hamas zu betonen. Zumal zum gleichen Zeitpunkt eine Hamas-Delegation in Kairo über einen ägyptischen Vorschlag zur Beendigung des Krieges beriet.
Manche Berichte legen nahe, dass die Auslandsführung der Hamas – hinter dem Rücken Sinwars – bereits über die Frage verhandelt, wie der Gazastreifen nach Ende des Krieges regiert werden soll. Doch solange die Gaza-Hamas sich als eine Kraft behaupten kann, die über eine komplexe Führungsstruktur, über eine Medienpräsenz und über ein Unterstützer-Netzwerk verfügt, wird sie es nicht hinnehmen, von einer zukünftigen Regelung ausgeschlossen zu werden.
Das israelische Militär, das seine Ziele in Gaza noch nicht erreicht hat, weitet seine Operationen im Westjordanland fortlaufend aus. Dabei erhöhen die täglichen Übergriffe, Massenverhaftungen und pauschalen Razzien nicht nur die Wahrscheinlichkeit eines Zweifrontenkriegs – sie können darüber hinaus womöglich dazu beitragen, dass die Hamas ihr Ziel erreicht, den Krieg im Gazastreifen mit dem allgemeinen palästinensischen Befreiungskampf zu verbinden.
Angesichts der Tatsache, dass Israel seit Jahren bemüht ist, die besetzten Gebiete im Westjordanland und im Gazastreifen voneinander zu trennen, wäre dies eine höchst paradoxe Entwicklung.
1 Jakob Farah, „Der Berg ruft. Rechte Aktivisten in Israel kämpfen für mehr Kontrolle über den Tempelberg“, LMd, Februar 2017.
2 Siehe Adam Shatz, „Der ewige Gazakrieg“, LMd, Januar 2013.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Leila Seurat ist Forscherin am Arab Center for Research and Policy Studies (CAREP-Paris)und Autorin von „The Foreign Policy of Hamas: Ideology, Decision Making, and Political Supremacy“, London (I.B. Tauris) 2022. Dieser Text erschien zuerst in Foreign Affairs am 11. Dezember 2023 unter dem Titel: „Hamas’s goal in Gaza“.