Personenrätsel: Der Konsequente

Nr. 23 –

1870 sass er das erste Mal im Gefängnis, weil er gegen die junge Monarchie opponierte. Damals war er siebzehn und ein glühender Republikaner. Dann begann der Süditaliener, sich intensiver mit den Gesellschaftssystemen auseinanderzusetzen, und erkannte bald keinen Unterschied mehr: Weder in den USA noch im republikanischen Frankreich sah er seine Ideale verwirklicht, und sogar die «freien Schweizer Bürger verschachern ihre Stimme für ein paar Gläser Bier!» Republik und Monarchie, so sein Fazit, verteidigten nur die vorhandenen Privilegien und zementierten die Ungleichheit. Er wurde Sozialist. Für den jungen Mann, der eigentlich Arzt werden sollte, begann ein unruhiges Leben.

Insgesamt verbrachte er über 10 Jahre im Gefängnis, über 35 auf der Flucht und im Exil. Lange Zeit lebte er im Londoner Armenviertel Islington; nach seinem Beruf befragt, antwortete er vor Gericht: «Schlosser, Mechaniker, Chemiker, Revolutionär, wie es euch beliebt; von allem ein wenig.» Seinen Verfolgern war der unbequeme, aber ungeheuer beliebte Anarchist so oft entkommen, dass Scotland Yard ihn «den Mann mit den neun Leben» nannte. Als er aus England ausgewiesen werden sollte, kam es dort zu Massenprotesten.

Auch die italienische Regierung versuchte ihn fernzuhalten, doch in den entscheidenden Momenten – etwa 1914 beim Generalstreik in Ancona – war er zur Stelle. Als er 1919 endgültig aus dem Exil zurückkehrte, feierten ihn seine Landsleute als «Lenin Italiens» (was ihm gar nicht behagte). Der rührige Vortragsreisende und Streikorganisator gründete trotz herrschender Zensur noch zwei anarchistische Publikationen, dann stellten ihn die Faschisten bis zu seinem Tod 1932 unter strengste Polizeiüberwachung. Wer war der sympathische Antiparlamentarist, der fest daran glaubte, dass das Fundament einer menschlichen Gesellschaft Liebe und Solidarität sind?

Wir fragten nach dem italienischen Anarchisten Errico Malatesta (1853–1932). Er war der Begründer der «Umanità Nova», der ersten anarchistischen Tageszeitung, die seit 1945 wöchentlich erscheint, und gab nach deren Verbot bis 1926 die Zeitschrift «Pensiero e Volontà» heraus. 1872 war er jüngster Delegierter auf dem gegen Karl Marx gerichteten Antiautoritären Kongress der Internationalen Arbeiter-Association in Saint-Imier. In Italien 1884 wegen «Verschwörung gegen die Sicherheit des Staates» verurteilt, floh er nach Südamerika und arbeitete dort beim Aufbau der ersten argentinischen Gewerkschaft mit. Für eine Welt ohne wirtschaftliche und politische Unterdrückung setzte er sich unter anderem auch in Spanien und Ägypten ein. Individuellen Terror lehnte Malatesta ab, ebenso die ­Diktatur, die der Russischen Revolution folgte.