Kubin-Roman: Ein genialer Wurf

Nr. 31 –


1909 ist «Die andere Seite», der «phantastische Roman» des grossen österreichischen Zeichners und Dichters Alfred Kubin (1877–1959), erschienen. Hundert Jahre später gibt ihn der Suhrkamp-Verlag erneut heraus. Völlig zu Recht, denn dieses Buch hat nichts von seiner Faszination und Aktualität eingebüsst. Ein genialer Wurf. Es geht um ein Traumreich, von dem in Europa nichts Genaues bekannt ist: Irgendwo hinter Zentralasien, unzugänglich, abgeschottet, wird es immer dann ein Thema, wenn wieder einmal ein prominenter Zeitgenosse plötzlich verschwindet und unauffindbar bleibt.

Der Ich-Erzähler ist wie Kubin ein Zeichner und Illustrator. Mit seiner Frau gelangt er nach längerer Wartezeit ins sagenhafte Reich, das ein ehemaliger Schulkollege, der geheimnisvolle Patera, gegründet hat. Die erste Überraschung der Neuankömmlinge ist, dass es im «Traumland» ausgesprochen altmodisch zu und hergeht; überall riecht’s nach Mief, der Himmel ist stets bedeckt, die Sonne nie direkt erkennbar. Die BewohnerInnen der mit Ausnahme des riesigen Herrscherpalastes sehr kleinstädtisch wirkenden Kapitale sind kleinherzig, von Neid, Habgier und Ängstlichkeit geprägt. Alles andere als eine offene Gesellschaft.

Im unwegsamen Hinterland lauert Bedrohung in Gestalt der «Blauäugigen» – der unbekannt gebliebenen UreinwohnerInnen. Der Herrscher selber ist nie anzutreffen. Er bekommt plötzlich einen Gegenspieler in Gestalt eines eingewanderten US-Amerikaners, der alles umkrempeln will. Am Schluss geht Pateras Reich in Schutt und Asche unter. Wie aus einem sehr finsteren, bösen Traum kann der Ich-Erzähler entkommen – in eine deutsche Heilanstalt.

Die 52 Zeichnungen von Kubin sind weit mehr als eine Illustration. Sie verdeutlichen die Stimmung des banalen Unheimlichen, die das «Traumwerk» trägt.

Alfred Kubin: Die andere Seite. Mit 51 Zeichnungen und einem Plan. Mit einem Nachwort von Josef Winkler. Grossformat. Bibliothek Suhrkamp. Berlin 2009. 308 Seiten. Fr. 37.90

Das ist der letzte Text, den Paul L. Walser kurz vor seinem Tod der WOZ für die Rubrik «Immer und ewig» zugestellt hat. Kubins Roman lag ihm besonders am Herzen, weil er Zeichnung und Text verbindet und das Unheimliche hinter dem Banalen sichtbar macht.