Literatur: Stille Gewalt

Nr. 44 –

Der Roman «Streulicht» von Deniz Ohde wirft einen verstörenden Blick auf das Bildungssystems.

In ihrem Roman geht es um die Bemächtigung von Erfahrungen in einer Sprache, die nicht vorgesehen war: Schriftstellerin Ohde Deniz. Foto: Heike Steinweg

Im produzierenden Hinterland einer deutschen Grossstadt erzählt eine junge Frau. Mehrmals spricht sie von einem geheimen Namen, der sie mit der Mutter verbindet, und von einem anderen Namen, den sie in der Schule verwendet. Ihren besten FreundInnen verbietet sie, ihren «geheimen Namen zu benutzen. Ich glaubte, er würde mein Gesicht in hartes Scheinwerferlicht tauchen.»

Wie diese Namen genau lauten, erfahren wir nicht. Das Scheinwerferlicht geht nicht an. In sehr viel feineren Tönen leuchtet Deniz Ohde in «Streulicht» private und öffentliche Räume aus. Sie benennt Details einer Kücheneinrichtung, eines Industrieparks oder eines verfallenen Hauses. Mit jedem neuen Anblick, den sie eröffnet, wird die Stimme fester, auch wenn sie von gefährlichen Zonen erzählt. Draussen «stehen wir unter Beobachtung», hatte der Vater früh gewarnt. Warum genau, wurde dem Kind nicht erklärt. In der nachträglichen Analyse von Worten, die es nicht verstand, wird ein Kraftfeld deutlich, in dem sich die türkische Herkunft der Mutter als starker Vektor herausstellt.

«Aussieben» und «einebnen»

Gefährlich ist auch die eigene Wohnung. Hier gilt es, jene Zeichen zu deuten, die den Gewaltausbrüchen des Vaters vorausgehen. Er stammt zwar aus der Stadt, in der sie wohnen, grüsst aber niemanden in den Strassen. Von Anfang an scheint er sich in Dinge zurückzuziehen, die nicht weggeworfen werden dürfen. Umso mehr, als die Mutter verschwindet.

Dem Kind haben sich einige Wörter besonders eingeprägt. In der Schule: «Aussieben». Auf dem Friedhof: Gräber «einebnen». Fast genauso unheimlich klingt ein Ausdruck, den die Erzählerin selbst oft verwendet: Sie ist «von der Schule abgegangen». Was beim Lesen an eine Anweisung im Theater erinnert: «… geht ab». Verschwindet von der Bühne.

In ruhiger Präzision schildert Deniz Ohde eine Schule. Sie verspricht Befreiung aus der häuslichen Misere und verstellt sie gleichzeitig. Noch schwieriger zu begreifen als eine rassistische Schlägerattacke auf dem Schulhof ist ein Lehrer, der sich beim Elterngespräch nicht mehr erinnert, wer das Kind ist, über das er sprechen sollte. Es ist eine Schülerin, die sich Mühe gibt und sich im Rückblick immer wieder erklären soll, sich auch vor sich selber verteidigt. Die Stimmen, die sie bedrängen, «wissen nicht, dass ich alles aus Angst lernte, dass ich mich aus Angst nicht gewehrt habe (wogegen genau).»

Es gehört zu der unaufgeregten Brutalität des «Aussiebens», dass sich die Erzählerin unter GymnasiastInnen durch ihr Bemühen verdächtig macht. Das Wort «Beflissenheit», als Vorwurf, erhält einen grellen Klang. Es verbindet sich mit Details aus den Ablagen der eigenen Wohnung. In einem Versuch, dem Kind zu helfen, haben die Eltern den Band «Bildung. Alles, was man wissen muss» gekauft. Aber es hilft nicht, immer wieder bei den alten Griechen anzufangen. Einen echten Erfolg landet die Erzählerin an der Abendschule, wo sie sich nach dem Abgang vom Gymnasium und einer unbestimmten, verdösten Zeit einschreibt. Sie schliesst ein SchülerInnenabonnement der Wochenzeitung «Zeit» ab. Als Willkommensgeschenk erhält sie eine Schultasche mit Aufdruck. Damit entlockt sie der neuen Lehrerin ein anerkennendes Lächeln. Jetzt wird sie gesehen. Und sie legt sich Sprüche zu, um im Kreis der alten FreundInnen nicht unterzugehen: «‹Ich stehe ja am Rande der Gesellschaft›, sagte ich und lachte in die Runde.»

Im Roman wird zwar deutlich, dass die junge Frau gerne liest, aber die Bücher, die ihr etwas bedeuten, bleiben geheim – wie der Vorname, der von der Mutter kommt. Aus dem Off wird hier erzählt, nicht auf der beleuchteten Bühne. Und so erscheint die Welt der Kunst, des Theaters und der Literatur, um die man sich in diesem Herbst 2020 so viele Sorgen machen muss, als vermintes Gelände. Wem der Zugang dazu nicht selbstverständlich ist, der begegnet in fragenden Blicken, verächtlichen Bemerkungen und schlichtem Übersehen einer feindlichen Wucht. Einer geballten, systematischen Abgrenzung gegen «unten» oder «aussen».

Eigene Erinnerungen zersplittern

Irgendwo anders, nicht in einer Schule, die ängstlich abzuleisten ist, gedeiht aber Literatur: die Bemächtigung der Erfahrung in einer Sprache, die nicht vorgesehen war. Aus einer einzigartigen Warte beschreibt Deniz Ohde eine deutsche Stadt. Aus dem sachlich-verstörenden Grundton ihres Romans ragen mythisch anmutende Episoden heraus: wenn sich die Tochter vorstellt, was die Mutter als Kind in der Türkei erlebt hat.

An anderen Stellen zersplittern die eigenen Erinnerungen und vermengen sich mit der Geschichte der Mutter. Manchmal macht sich die Erzählerin Luft in schnellen Aufzählungen. Und hinter allem steht dieser Industriepark: «Bei Dunkelheit glüht [er] wie eine riesige gestrandete Untertasse, orangeweisses Streulicht erfüllt den Nachthimmel, gespeist von den Neonröhren, die jedes Stockwerk der Türme ausleuchten, und von den Markierungen der Schornsteinspitzen für den Flugverkehr, obwohl der Luftraum über dem Park gesperrt ist, denn bei einem Absturz droht eine Chemiekatastrophe.»

Deniz Ohde: Streulicht. Suhrkamp Verlag. Berlin 2020. 284 Seiten. 32 Franken