Technikgeschichte: «Der Krieg macht nicht erfinderischer»
Die Welt unserer Grosseltern veränderte sich schneller als unsere: Der Technikhistoriker David Edgerton meint, wir sollten uns nicht für allzu clever halten.
WOZ: Ihr Buch «The Shock of the Old» beginnt mit dem Satz «Viel von dem, was über Technikgeschichte geschrieben wird, ist für Buben jeden Alters». Wie sähe eine Technikgeschichte für Erwachsene aus?
David Edgerton: Das wäre eine Geschichte der Dinge, die wir benutzen. Es wäre eine Geschichte, die Technik nicht per se als gut oder schlecht darstellte. Es wäre eine Geschichte, die eng verbunden wäre mit der Geschichte der Nationen, der Arbeit, des Geschäftemachens, des Kriegs. Es wäre eine auf Erfahrung basierte Geschichte.
Existiert diese Geschichte?
Ja, natürlich, es gibt interessante Studien. Aber Technikmuseen und Bücher über Technik sind oft so gemacht, als richteten sie sich an Vierzehnjährige. Sie haben klare moralische Botschaften.
Nämlich?
Technik wird uns befreien, sie macht uns mächtiger, sie erlaubt uns, die Probleme der Welt zu lösen. Oder die pessimistische Version: Technik wird unsere Freiheit einschränken, sie zerstört unsere Menschlichkeit, sie hält die Kinder vom Lernen ab.
Aber es gibt doch tatsächlich gute und schlechte Techniken: Malariamedikamente sind gut, die Atombombe ist schlecht.
Natürlich bin auch ich kein Freund der Atombombe. Aber zunächst einmal war die Atombombe einfach eine Maschine, die gebaut wurde, um im Kontext des Kriegs gewisse Ziele zu erfüllen – nicht anders als konventionelle Waffen.
Heraklit sagte, Krieg sei der Vater aller Dinge.
Das ist eine sehr verbreitete, aber falsche Sicht. Krieg macht nicht erfinderischer. Die Menschen erfinden, was sie haben wollen: in Friedenszeiten Techniken, die Unternehmer reicher machen oder Kranke heilen, im Krieg Techniken des Tötens.
Aber haben nicht Dinge, die unser Leben verändern, oft ihren Ursprung im Krieg – etwa der Computer?
Solche Spin-offs werden öfters benutzt, um Investitionen in Grosstechniken zu rechtfertigen. Aber alle Techniken bringen Spin-offs hervor: Das ist nichts, was die Militärtechniken auszeichnen würde. Und: Wurde der Computer tatsächlich im Zweiten Weltkrieg erfunden? Das hängt davon ab, was man genau unter einem Computer versteht. Gewiss waren Kryptografie und Ballistik wichtige frühe Anwendungen für den Computer, aber ich würde nicht sagen, dass der Computer an sich ein Produkt des Kriegs war.
Wird die Bedeutung des Kriegs überschätzt?
In diesem speziellen Fall. Oft gilt allerdings das Umgekehrte: Man spielt die militärische Herkunft gewisser Techniken herunter. Flugzeuge werden als eine zivile Technik wahrgenommen, die den Krieg verändert hat. Aber Flugzeuge waren eine Militärtechnik, und die Zivilluftfahrt ist aus historischer Sicht nur ein winziger Nebenzweig dieser Militärtechnik.
Sie sprechen in Ihrem Buch lieber von «Dingen» («things») als von «Technik» («technology»). Was ist der Unterschied?
Wenn wir «technology» sagen, tendieren wir dazu, das Neueste zu meinen. Die Technologieseiten der Zeitungen schreiben über Informationstechnik, über Unterhaltungselektronik und so weiter. Wenn man etwas über Häfen oder Fahrräder erfahren will, findet man das dort nicht. Das Wort wird einerseits also sehr eng verwendet; andererseits hat es seine breite Bedeutung behalten, und deshalb sprechen wir von etwas sehr Speziellem, als ob es von allgemeiner Bedeutung wäre. Wenn wir von «things» sprechen, dann sehen wir sofort, dass die Dinge in verschiedenen Kontexten verwendet werden, dass sie für bestimmte Zwecke entworfen wurden, dass sie in der Geschichte stehen, dass sie von Menschen kontrolliert werden. Wir denken intelligenter über die menschgemachte materielle Welt nach, wenn wir an «things» statt an «technology» denken.
Verbreitet ist die Ansicht über technische Entwicklung, dass wissenschaftliche Fortschritte zu technischer Innovation führen und Innovation zu sozialem Fortschritt. Stimmt das?
In gewissen Fällen sicher, aber nicht generell. Die Dampfmaschine beispielsweise wurde lange vor der wissenschaftlichen Theorie der Thermodynamik erfunden. Unser Denken über Technik tendiert dazu, alles auf ein lineares Entwicklungsmodell zurückführen zu wollen, aber so einfach ist die Welt nicht. Viele Naturwissenschaftler und Ingenieure beklagen den Mangel an naturwissenschaftlich-technischem Wissen in der Gesellschaft, aber viel dramatischer erscheint mir der Mangel an Verständnis für die Gesellschaft unter Naturwissenschaftlern und Ingenieuren.
Unsere Technikwahrnehmung ist also zu sehr auf Innovation fixiert?
Ich sage nicht, wir sollten nicht erfinderisch sein. Aber wir sollten sehr viel fantasievoller sein in der Art und Weise, darüber zu sprechen. Man spricht über Innovation, als gäbe es sie nur in Bio-, Nano- und Informationstechnik. Aber Innovation findet überall statt.
Informationstechnik verändert unser Leben doch tatsächlich! Teenager haben heute andere Kommunikationsformen und andere kulturelle Codes als vor einer Generation – wegen Handy, E-Mail, Facebook ...
Ich bestreite nicht, dass die IT einflussreich ist. Aber welche Veränderungen geschehen tatsächlich, und womit vergleichen wir das? Ich halte nichts von der Vorstellung, dass wir wegen der IT in einer Ära eines nie da gewesenen Wandels leben; dass die Jungen heute in einer Welt leben, die die Alten nicht mehr verstehen. Ich meine, in unserer Lebenszeit habe sich die Welt viel weniger verändert als zur Zeit unserer Gross- und Urgrosseltern.
Wirklich? Welche Techniken haben denn die Welt unserer Grosseltern so sehr verändert?
Im reichen Teil der Welt: zum Beispiel medizinische Neuerungen. Penicillin war ungeheuer wichtig. Die Elektrifizierung. Die Landflucht, die stattfand, weil erstmals sehr wenige Arbeitskräfte sehr viel Nahrung produzieren konnten. Man vergisst leicht, wie reich die Welt früher schon war. Man denkt: Früher gab es keine Computer, und dann denkt man daran, was mit Computern alles gemacht wird. Aber das meiste davon wurde früher auch schon gemacht, einfach anders. Zeitungen wurden ohne Computer gemacht, Nachrichten wurden ohne Computer um die ganze Welt verschickt, Flugzeuge ohne Computer entwickelt.
Haben wir angesichts des technischen Wandels eigentlich noch die Wahl, welche Techniken wir haben wollen und welche nicht?
Ja, wir akzeptieren ja nicht alles – weder als Einzelpersonen noch als Gesellschaft.
Aber verbauen wir uns nicht die Wahl in vielen Fällen? Angenommen, man würde morgen herausfinden, dass Handystrahlen schädlich sind: Wir könnten doch längst nicht mehr aus der Mobiltelefonie aussteigen!
Doch. Man kann Mobiltelefone verbieten. Das könnte sehr schnell geschehen.
Sind wir denn nicht abhängig von dieser Technik?
Nein ... nun, vielleicht. Aber wir könnten diese Abhängigkeit aufgeben. Das wäre wie mit Rauchen aufzuhören. Das ist nicht einfach, aber es geht.
David Edgerton
Der 1959 in Montevideo, Uruguay, geborene David Edgerton gilt als einer der führenden Technikhistoriker. Er ist Professor am Imperial College in London. Dort hat er das Zentrum für Wissenschafts-, Technik- und Medizingeschichte mit aufgebaut. In seinem Buch «The Shock of the Old» plädiert er dafür, die Geschichte der Technik in erster Linie als eine Geschichte der Verwendung der Dinge zu betrachten und nicht als eine Geschichte der Innovationen. Und er verweist darauf, dass ein übertriebener Glaube an Innovationen das Gegenteil von fortschrittlich sein kann: Die Idee, die Technik werde es schon richten, werde etwa in der Klimadebatte gegen die Notwendigkeit sozialen Wandels ausgespielt.
David Edgerton: «The Shock of the Old. Technology and Global History since 1900». London 2007. 288 Seiten.