Digitaler Kapitalismus: «Ich lasse mich gern als Breitbandkommunisten bezeichnen»

Nr. 7 –

Der britische Medientheoretiker Richard Barbrook ist ein Pionier der Silicon-Valley-Kritik. Im Interview erklärt er, warum Aufstände im Netz ein Hype sind, die umwälzende Wirkung des Computers überschätzt wird und Linke mehr Brettspiele spielen sollten.

Manchmal brauche es nur ein wenig Geduld, sagt Richard Barbrook. Der britische Medientheoretiker erzählt, wie er zum 20. Jubiläum seiner Silicon-Valley-Kritik «Die kalifornische Ideologie» aus dem Jahr 1995 an die Universität San Diego eingeladen – und von den Studierenden euphorisch empfangen wurde. «Inzwischen steht mein Aufsatz dort auf der Leseliste, ich darf also endlich als ehrbarer Kalifornier gelten», sagt der 65-Jährige amüsiert. Auf den Titel für seinen einflussreichen Essay kam er, als er in seinem Bücherregal Karl Marx’ «Die deutsche Ideologie» entdeckte.

Barbrook, der im zweistündigen Gespräch mit der WOZ wie ein Wasserfall redet und gerne über seine eigenen Witze lacht, zählt zu den wichtigsten KritikerInnen des digitalen Kapitalismus. 1999 publizierte er ein Manifest zum Cyberkommunismus, 2007 das Buch «Imaginary Futures» über die Entstehung des Computerzeitalters. In den Achtzigern hatte sich der Brite, der sich der Punkbewegung zugehörig fühlt, in der Piratenradioszene engagiert, vor einigen Jahren beriet er den Labour-Politiker Jeremy Corbyn in digitalen Fragen. Daraus entstand auch das «Digital Democracy Manifesto», in dem die Parteilinke festhält, wie sie dem Techkapitalismus begegnen will.

WOZ: Richard Barbrook, kürzlich haben sich ein paar Hobbyanleger über eine Onlineplattform vernetzt, um gegen grosse Hedgefonds zu spekulieren. Einige fanden das ziemlich subversiv, andere …
Richard Barbrook: In erster Linie war das doch verdammt lustig!

Lustig ja, aber immerhin haben sich da Leute organisiert, um etablierte Strukturen anzugreifen.
Worauf Sie hinauswollen, ist eben die «kalifornische Ideologie»: die Vorstellung, man könne übers Internet das Finanzwesen demokratisieren, sich gegen die böse Wallstreet zusammenschliessen. Ich sehe schon den entsprechenden Artikel im US-Techmagazin «Wired» vor meinem geistigen Auge. Das ist offensichtlich Schwachsinn! Ich erinnere mich noch daran, wie Margaret Thatcher ihre Privatisierungspolitik als «Demokratisierung von Vermögenswerten» verkaufte; das glaubten damals auch viele.

An Fahrt aufgenommen hat dieser euphorische Diskurs über neue Organisationsmöglichkeiten im Internet ja vor allem nach dem Arabischen Frühling. Steckt da nicht auch ein wahrer Kern drin?
Revolutionen gibt es seit dem 17. Jahrhundert, das Internet als Massenmedium aber erst seit den Neunzigern. Wir stürzten in der englischen Revolution unseren König und brauchten dafür ja auch nicht das Internet. Damals lief es übrigens genau andersherum: Nachdem sich der König mit dem Parlament überworfen und ein empörter Mob ihn aus London verjagt hatte, setzte die Zensur sein – was wiederum eine «publishing revolution» auslöste. Plötzlich kursierten überall Pamphlete, Almanache und Predigten. Die politische Umwälzung verhalf hier also neuen Medien zur Durchsetzung.

Aber nehmen wir rechte Aufstände wie den Angriff aufs US-Kapitol im Januar: Sehen Sie keinen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg von Leuten wie Trump und den neuen Medien?
Donald Trump wusste sie jedenfalls zu gebrauchen. Es war ein wundervoll ironischer Moment, als sein Twitter-Account gesperrt wurde, er aber immer noch Zugang zu mehr als genug Atombomben hatte, um den ganzen Planeten in die Luft zu jagen! Twitter hat viel Geld mit Trump verdient – und ihm ermöglicht, allen möglichen Unsinn zu verbreiten. Bei Hitler meinte man allerdings auch schon, er sei durch das Radio erschaffen worden; bei Mussolini, dass er ein Produkt des Zeitungsjournalismus sei. Man konnte also schon damals argumentieren, die Medien hätten die Hauptrolle gespielt.

Also sollte man die Rolle der neuen Medien bei den Zerwürfnissen der US-Gesellschaft nicht überbewerten?
Auch hier lohnt sich ein Blick in die Geschichte: auf die historische Spaltung der Arbeiterklasse. 1676 gab es in Virginia eine gemeinsame Rebellion europäischer Arbeiter in Schuldknechtschaft und aus Afrika verschleppter Sklaven, die sich gegen die Landoligarchie erhoben. Zwar wollten die Rebellen vor allem das Land der Indigenen, aber es war eine Allianz aus Schwarz und Weiss – und das machte den Eliten eine Heidenangst. Das war der Beginn der Einführung von Gesetzen zur «Rassentrennung», dem Kern der US-Politik seit jeher. Man darf nicht vergessen, dass im Bürgerkrieg 750 000 Menschen starben, so sehr hat die Trennung von Schwarz und Weiss die Gesellschaft destabilisiert. Es ist also eine sehr bequeme Erklärung, den sozialen Medien die Schuld an den aktuellen Entwicklungen zuzuschieben.

Apropos einfache Erklärungen: In Ihrem Buch «Imaginary Futures» haben Sie sich mit den Ursprungsmythen des Internets beschäftigt.
Uns wird häufig erzählt, das Internet sei ursprünglich ein militärisches Projekt gewesen, um ein Kommunikationssystem zu entwickeln, das selbst nach einem Atomkrieg noch funktionieren würde – das fand ich schon immer unglaubwürdig. Tatsächlich ergaben meine Recherchen, dass die Fantasien über die Möglichkeiten der Netzwerktechnologien dem Zeitpunkt ihrer Erfindung vorausgingen: Nicht die Erfindung der Technologie hat die Entwicklung von Utopien befördert, sondern umgekehrt. Deswegen hat man auch so viel Geld in die Entwicklung gepumpt. Zugleich ist es ja nicht selbstverständlich, dass man gerade in die Computertechnologie so viel hineinprojiziert: Womöglich haben ja andere Innovationen – Antibiotika, die Antibabypille oder die Containerschifffahrt – unser Leben viel tiefgehender umgewälzt. Dennoch fetischisieren wir diese Konvergenz von Technifizierung, Medien und Computern.

Wie erklären Sie sich das?
Journalisten wie Sie und Akademiker wie ich nutzen diese Technologien täglich – kein Wunder also, glauben wir, dass sie besonders revolutionär sind! Interessant ist jedenfalls, wie erst in der Sowjetunion und dann in den USA die Idee entstanden ist, ausgerechnet mit diesen Technologien könnte man eine neue Zivilisation erschaffen. In der Sowjetunion bildete sich in der Hochphase des Kalten Kriegs eine Gruppe, die sich selbst als «kybernetische Kommunisten» bezeichnete – das war die letzte Generation, die dort noch an die Rettung des Kommunismus glaubte. Dabei war für sie der Netzwerkgedanke zentral, sie glaubten, damit den totalitären Staat überwinden zu können. In den USA wiederum fürchtete man, technologisch gegenüber der Sowjetunion ins Hintertreffen zu geraten – das war die Zeit des «Sputnik-Schocks». Also begann man, gewaltige Summen in diese Technologien zu pumpen. Deswegen wurde übrigens auch Marshall McLuhan so wichtig: Man brauchte einen Theoretiker für diese neue Technologie, der aber kein Marxist-Leninist sein durfte.

Im Essay «Die kalifornische Ideologie» haben Sie beschrieben, wie die digitale Technologie nach dem Kalten Krieg zum Wegbereiter des Neoliberalismus wurde. Die von der US-Westküste ausgehende Weltanschauung habe die emanzipatorischen Möglichkeiten der Informationsgesellschaft masslos überschätzt und Widersprüche ausgeblendet.
Als Andy Cameron und ich den Essay schrieben, waren viele unserer Freunde internetbegeistert. Irritierend war aber, wie Leute, die eigentlich nicht viel von Privatisierung hielten, plötzlich neoliberale Propaganda verbreiteten, sobald es ums Internet ging. Sie alle lasen das «Wired»-Magazin und nahmen daher an, digitaler Neoliberalismus und das Internet müssten Hand in Hand gehen. Offensichtlich ist das aber schon historisch falsch: Gerade Kalifornien verkörpert den militärisch-industriellen Komplex und hat bei der Wasserversorgung, den Highways oder den Universitäten von öffentlichen Investitionen profitiert. Das deutete für Andy und mich darauf hin, dass es hier vor allem um Ideologie geht. Eine Ideologie, die nur in Kalifornien entstehen konnte, weil dort Hippiekultur und Neoliberalismus zusammenkamen.

Dass die kalifornische Ideologie ein Amalgam ist aus neoliberaler Wirtschaftspolitik und Gegenkultur, sieht man ja auch an der ganzen Weltverbesserungsrhetorik der Digitalkonzerne. Wie ist diese Verbindung zu erklären?
Ein Freund von mir war in den Sechzigern in der britischen radikalen Linken aktiv, sass wegen bewaffneter Revolution mehrere Jahre im Gefängnis. Er sagt, er habe früher gedacht, seine Generation sei besonders links; mittlerweile habe er erkannt, dass das Gegenteil wahr ist. So war es auch in den USA: Bei der Hippiegeneration kommen uns die Black Panther oder die Weathermen in den Sinn. In Wahrheit aber war der Grossteil dieser Generation sehr konservativ. Und gerade die Fusion von Hippiekultur und Neoliberalismus belegt, dass vieles von dem, was damals links erschien, in Wahrheit rechts war. Die staatsfeindliche Haltung ist dafür ein gutes Beispiel. Eine etwas ältere Freundin von mir meinte mal, sie habe in den Sechzigern ihre Zeit damit verbracht, den Staat anzugreifen, um dann ab den Achtzigern permanent damit beschäftigt zu sein, den Staat zu verteidigen. Daran sieht man, dass es dem Neoliberalismus gelungen ist, viele der freiheitlichen Ideale zu kooptieren.

Zur kalifornischen Ideologie gehört auch die Vorstellung, technische Innovationen trieben die gesellschaftliche Entwicklung zwangsläufig voran, während die Politik bloss ein Hindernis sei. Einen solchen technologischen Determinismus gibt es doch auch in der Linken.
Ja, man meinte, es komme vor allem darauf an, die Produktivkräfte zu entfalten. Und ein Körnchen Wahrheit steckt da ja auch drin: Im Gegensatz zu unseren Grosseltern haben wir viel mehr Möglichkeiten. In diesem Kontext ist China interessant: Der Westen ist völlig auf China als autoritären Staat konzentriert – was zwar stimmt, aber schon seit Jahrtausenden so ist. Neu ist aber, dass das Lebensniveau eines grossen Teils der Bevölkerung enorm gestiegen ist. Ein chinesischer Genosse von mir sagt, dass sich in dem Land nichts grundlegend ändern wird, bis eine neue Generation herangewachsen ist, für die der Wohlstand bereits normal ist. Heute ist in China für viele eine Toilettenspülung noch keine Selbstverständlichkeit. Es wird also wohl noch dauern, bis dort so etwas wie ein Zurück-zur-Natur-Hippietum denkbar wird.

2016 haben Sie Jeremy Corbyn beim «Digitalen Manifest» der Labourpartei beraten. Warum soll sich die Linke mit Digitalpolitik befassen, was ja bisher nicht unbedingt eins ihrer Kernthemen war?
Das stimmt nicht ganz. Im 19. Jahrhundert haben die Ludditen in England Maschinen zerstört. Sie waren als Textilarbeiter aber nicht gegen die Technik per se, wie manche fälschlicherweise meinen, sondern dagegen, dadurch entmachtet zu werden. Heute müssen wir darüber nachdenken, wie wir Leute mithilfe von Technologie ermächtigen – und Technologie dafür als Kampffeld begreifen. Es geht um die Frage, wer über den Fortschritt verfügt und ob dieser im Interesse der Menschen vorangetrieben wird. Das Manifest haben wir geschrieben, nachdem Corbyn überraschend zum Parteivorsitzenden gewählt worden war. Der rechte Parteiflügel behauptete damals, er verkörpere bloss die Nostalgie für die siebziger Jahre. Also sammelten wir in einem Hackathon Ideen, ich nahm die Ergebnisse dann mit nach Hause und schrieb sie bis um vier Uhr morgens zusammen. Als das Manifest publiziert wurde, gab es von den Tory-nahen Medien unglaublich viel Gegenwind, was aber nur dessen Richtigkeit belegte. Ihr Geschäftsmodell ist der Überwachungskapitalismus – und den haben wir angegriffen.

Wie lässt sich dieser überwinden?
China wurde sehr stark für seine Firewall kritisiert, die das Land von Nachrichten aus dem Ausland abriegelt. Faktisch aber war das ein genialer Schritt, weil es verhinderte, dass Google, Facebook und die anderen Konzerne die chinesische Wirtschaft dominieren. Heute haben sie mit Weibo und Alibaba eigene Entsprechungen zu Amazon und Ebay. Das bedeutet natürlich einerseits, dass sie diese Firmen kontrollieren und zensieren können. Andererseits aber hat sich China seinen eigenen Markt geschaffen und die USA ökonomisch überholt.

Sie fordern einen digitalen Protektionismus?
Ich denke, die EU hat einen grossen Fehler gemacht, nicht auch eine solche Firewall zu errichten und die US-Monopolisten hinauszuwerfen. Die Plattformen und sozialen Medien hätten sich einfach klonen lassen – und erst wenn man die Digitalunternehmen kontrolliert, kann man über weitere politische Schritte nachdenken. Immerhin hat die EU jetzt endlich begonnen, sich mit der Frage der digitalen Souveränität zu befassen. Ich halte das für sehr wichtig. Die Europäer sind generell zu sehr auf sich selbst konzentriert und sehen das Gesamtbild nicht, aber bei nüchterner Betrachtung gibt es keine Alternative dazu, dass wir unsere eigenen Chips bauen, eigene Software und Plattformen entwickeln. Die deutsche Kanzlerin beschwert sich, wenn die NSA ihr Telefon abhört, aber vermutlich benutzt sie US-Software – was erwartet sie also? Anzunehmen, die USA und Europa wären befreundet, ist Unsinn: Staaten haben keine Freunde, nur Interessen.

Ausgerechnet China soll ein Vorbild sein?
Wer das fordert, erntet sofort Empörung. «Das ist doch ein totalitärer Staat», heisst es dann – als würde die NSA nicht auch alle tracken. Viele kritisieren, wie exzessiv China Trackingsysteme zur Pandemiebekämpfung einsetzt – und nutzen dabei selbst ein iPhone. Hätten die Leute Edward Snowden besser zugehört, wäre ihnen heute vielleicht vieles klarer.

Die Idee ist also, erst die US-Konzerne loszuwerden, um dann eigene Plattformen zu schaffen. Wie genau soll das ablaufen?
Über diese Frage habe ich viel mit Corbyns Schattenfinanzminister, John McDonnell, diskutiert, mit dem ich seit Jahren befreundet bin. Natürlich könnte man die amerikanischen Plattformen mit solchen europäischer Unternehmen ersetzen, die sich immerhin politisch regulieren liessen. Das Kernproblem bliebe aber dasselbe: Immer noch würden Konzerne mit dem Überwachungskapitalismus Geld verdienen. Also begannen wir, über kollektive Besitzformen nachzudenken. Es gibt ja bereits funktionierende Beispiele wie Open-Source-Software, und ich glaube, dass kleine Unternehmen gut als Genossenschaften funktionieren. Aber wie würde das bei Unternehmen in der Grösse von Google funktionieren? Wichtig fände ich, dass die Nutzer bezahlt werden, da sie ja allen Inhalt generieren. Heute monetarisieren die privaten Konzerne den von Nutzern geschaffenen Inhalt.

Für die Politik schwebt Ihnen gemäss Manifest eine «massive multi-person online deliberation» vor. Was genau meinen Sie damit?
Im Kern geht es darum, den Leuten neue Partizipationswege zu ermöglichen. Es gibt viele, die politisch fruchtbares Wissen mitbringen, aber frustriert sind, weil es zu wenige Möglichkeiten zur Beteiligung gibt und sie in ihrer Freizeit Besseres zu tun haben, als zu langweiligen Parteimeetings zu gehen. Diese Leute bringen sich deshalb überhaupt nicht mehr ein. Es ist erschreckend, wie entpolitisierend das heutige System wirkt. Deswegen ist uns die Frage wichtig, wie wir mittels digitaler Technik Plattformen schaffen, auf denen sich die Menschen wieder gerne engagieren – etwa durch den Einsatz von Tools wie Polis oder Liquid Democracy.

Im Manifest fordern Sie zudem Breitbandanschlüsse für alle.
Die Rechten haben die Idee als «Breitbandkommunismus» denunziert, als wäre das etwas Schlechtes – dabei lasse ich mich gern als Breitbandkommunisten bezeichnen. Interessant ist aber vor allem, dass in der jetzigen Pandemie alle die Idee plötzlich grossartig finden, weil viele Schüler wegen ihres schlechten Internetanschlusses zu Hause abgehängt sind.

Ein weiterer Punkt ist die Einführung einer digitalen «Bill of Rights», also digitaler Grundrechte. Was verstehen Sie darunter?
Solche Grundrechte fordern viele schon seit Jahrzehnten. Die Idee ist, den Grundrechtekatalog für das digitale Zeitalter zu erweitern, also politische und sozioökonomische Rechte – wie eben das Recht auf einen Internetzugang – zu formulieren. Zudem geht es um die Frage, was Privatsphäre für unser Zeitalter bedeuten soll. Durch die Pandemie stellt sich die Frage noch mal verschärft: Zum einen will man nicht, dass infizierte Leute herumlaufen und andere anstecken. Zum andern greift man auf autoritäre Methoden wie Überwachungsmassnahmen zurück, um das durchzusetzen. Hier prallen also die Rechtsansprüche der Einzelnen auf jene des Kollektivs, nämlich den Anspruch der Bevölkerung auf Sicherheit.

Neben solch ernsten Fragen beschäftigen Sie sich auch ausgiebig mit Spielen aller Art. Was fasziniert Sie daran?
Irgendwann habe ich zufällig erfahren, dass der französische Philosoph Guy Debord ein Brettspiel erfunden hat. Ich hatte noch ein paar Spielzeugsoldaten zu Hause, also entwickelten wir ein Spiel über die napoleonischen Kriege – und merkten, dass es ziemlich gut war. Dann bauten wir eine grössere Version davon und fingen an, es auf der ganzen Welt zu spielen: in St. Petersburg mit der Künstlergruppe Voina, aus der später Pussy Riot wurde, in Brasilien und anderswo in Europa. 2017 dann, vor der britischen Unterhauswahl, studierten wir an Kampagnenideen herum, und mir kam das Spiel «Fiscal Combat» in den Sinn, mit dem der französische Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon damals für sich warb. Also beschlossen wir, die Idee zu kopieren. So entstand das Handygame «Corbyn Run» – und es ging durch die Decke wie eine Rakete, es war unglaublich! Anders als bei «Fiscal Combat», bei dem man nur Mélenchon spielen kann, gibt es bei «Corbyn Run» am Anfang zwar auch bloss Jeremy, dann aber schaltet man immer mehr Unterstützer frei.

Finden Sie, Linke sollten mehr Spiele spielen?
Schon Debord wollte der Linken spielerisch die Strategien des preussischen Militaristen Carl von Clausewitz näherbringen: Egal ob du Napoleon schlagen willst oder heute weisse Suprematisten, du musst lernen zu denken wie sie. Wir entwickelten noch weitere Rollenspiele, weil wir wollten, dass die Corbyn-Anhänger in die Rollen von Tories oder Immobilienbesitzern schlüpften. Es ist wichtig, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die man nicht mag. Spiele lehren dich zudem, dialektisch zu denken. Jetzt in der Pandemie ist das alles natürlich schwierig geworden, man kann ja schliesslich schlecht in einem Raum herumlaufen und sich gegenseitig anbrüllen. Ausserdem besteht der Spass beim Spielen ja auch darin, sich gemeinsam zu betrinken.

Man kann ja online spielen, Brettspiele sind doch ohnehin altbacken.
Im Gegenteil, die Leute lieben gerade Brettspiele. Sie starren ja sonst schon den ganzen Tag auf einen Bildschirm. Vor der Pandemie waren die Spielecafés in London immer brechend voll. Für die Linke sind Spiele ausserdem wichtig, um sie ein bisschen verspielter zu machen: Unsere Probleme sind schon deprimierend genug, und ein Teil der Linken ist sowieso viel zu puritanisch.