Schwierige Entscheide
Ruth Wysseier über die Rationierung der Gesundheit.
Jetzt hat also auch die WOZ ein Fumoir eingerichtet, in dieser Ecke hier. Endlich wird unser Publikum beim Lesen auf den anderen Seiten nicht mehr durch Zigarettenrauch belästigt. Damit liegt diese verschönerte, luftige (!) Zeitung im Trend.
Aber noch sind wir nicht am Ziel, wie die neuste Umfrage des Bundesamts für Gesundheit ergab: Ein knappes Sechstel der Bevölkerung sei immer noch während sieben Stunden pro Woche dem Tabakkonsum anderer Personen ausgesetzt. Es ist mir ein Rätsel, wie es diese Leute schaffen, trotz Rauchverbot in Restaurants, Zügen und Büros noch auf ihre tägliche Dosis Passivinhalieren zu kommen. Vielleicht stellen sie sich an Tramhaltestellen ganz nah neben eine Raucherin, mit der Stoppuhr in der Hand? Oder ziehen sich gelegentlich einen alten Film mit einem lässig die Kippe balancierenden Humphrey Bogart oder Jean-Paul Belmondo rein?
Auch wenn das Lesen der Fumoir-Kolumne höchstens sieben Minuten dauert, sollten Sie sich gut überlegen, ob Sie sich diesem Gesundheitsrisiko aussetzen wollen. Falls Sie nämlich eine neue Lunge brauchen, wird es knifflig. Bald sollen verschärfte Kriterien für die Organzuteilung gelten: Nicht wer am schlimmsten dran ist, wird zuerst operiert, sondern wer der Gesellschaft mehr nützt. Swisstransplant-Direktor Franz Immer etwa möchte künftig einer jungen Mutter von drei Kindern den Vorrang geben vor einem alleinstehenden, aber schwerer erkrankten Senior. Das leuchtet doch ein, oder?
Aber Hand aufs (hoffentlich gesunde) Herz: Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie nützlich Sie für die Gesellschaft sind? Haben Sie Kinder? Verdienen Sie anständig? Haben Sie einen unsterblichen Song geschrieben, oder steckt in Ihnen wenigstens Potenzial? Könnten Sie das beweisen? Und wenn Sie über die Zuteilung an andere entscheiden könnten: Wer bekäme die rettende Operation? Der Banker oder der Steuerkommissär? Carl Hirschmann oder Stephanie Glaser? Gigi Oeri oder Xherdan Shaqiri?
Schwierige Entscheide leicht gemacht, ist die Maxime des Bundesgerichts: In Anerkennung der jahrelangen, hartnäckigen journalistischen Vorarbeiten hat es in einem kühnen Urteil die Schleudertrauma-Scheininvaliden abgeschafft. Wer künftig eine Rente braucht, muss also mehr zu bieten haben als rasende Kopfschmerzen und Schwindelgefühle. Ein eindeutiges, beweisbares Schadensbild ist gefragt, wenn man auf IV-Kosten in Saus und Braus leben möchte. Wer auf Nummer sicher gehen will, kommt um eine beherzte Selbstverstümmelung nicht mehr herum. Aber aufgepasst, konsultieren Sie vorgängig die einschlägigen Versicherungsurteile: Mit einem abgetrennten kleinen Finger etwa wäre es noch lange nicht getan. Da bräuchte es im Minimum die ganze Hand.
Entscheide über Leben oder Tod sollten wir zuallerletzt den Chefkommentatoren hierzulande überlassen. Wie waren sie empört, als die Polizei den Bieler Amokläufer Peter Hans Kneubühl hatte entwischen lassen, weil die Einsatzleitung möglicherweise Skrupel hatte, den Schiessbefehl zu erteilen. Die Sicherheit der Bevölkerung sei das höchste Gut im Staate, wir alle hätten ein Recht, vor Querulanten und Spinnern geschützt zu werden, die Polizei hätte nicht lange fackeln sollen. Unerschrocken, mit rauchendem Colt, schrieben sie ihre Scharfschützenkommentare in ihren Revolverblättern, für deren Lektüre es eigentlich einen Waffenschein bräuchte.
Chapeau übrigens, werte PolizistInnen im Bieler Einsatz, dass ihr nach all der Hetze und Häme den Kneubühl, diese verschreckte, verwirrte Kreatur, lebend eingefangen habt!