Kost und Logis: Grossmutters bestes Stück
Ruth Wysseier auf Diamantensuche
Lieb war die Grossmutter, ich durfte sie kämmen, als ich klein war, und Haarnadeln in ihr Bürzi stecken. Daheim trug sie Kittelschürzen, doch wenn sie in die Stadt ging, einen Hut. Madeleines, jenes Gebäck, das Marcel Proust unsterblich machte, ass sie für ihr Leben gern, und abends gönnte sie sich manchmal einen Eiercognac, gerührt aus einem Eigelb, zwei Esslöffeln Zucker und einem kräftigen Schuss Brandy. Vielleicht hatte mein früh verstorbener Grossvater, ein Bäcker, sie mit duftenden, luftigen Madeleines verführt?
In ihrem Zimmer gab es neben Ehebett, Tisch, Schrank, Kommode, Lavabo und Korbstuhl einen Sekretär. Jugendstil, mit ausklappbarer Schreibunterlage, verglasten Türen, Schubladen und sogar einem Geheimfach. Das Möbel musste im Lauf der Zeit ein paarmal sein Logis wechseln; es lässt sich gut zerlegen und wieder zusammensetzen. Schliesslich landete es bei uns im Keller, und gleichsam um es für die Verbannung zu entschädigen, vertraute ich ihm Fotoalben und Dokumente aus der Familiengeschichte an. Dort ruhten sie bis zu dem Tag, als genau über dem Sekretär die Wasserleitung leckte. Zehn Kessel voll waren aufzuwischen, dann trug ich zwei Waschkörbe mit feuchten Papieren und gewellten Fotos in die Stube und holte den Föhn hervor.
Ein Zeugnis des katholischen Mädcheninstituts in Bulle, wo meine Mutter in den dreissiger Jahren statt einer Berufslehre Frömmigkeit («Conduite morale et religieuse») und etwas Allgemeinbildung verpasst bekam. Eine Urkunde für den absolvierten Samariterkurs, unterschrieben von General Guisan. Zwei Bilder eines Schwingeranlasses, die wohl meinen Grossonkel zeigen, als er Schwingerkönig wurde. Vaters Pflanzenkundebuch aus der Weinbauschule. Hochzeitstelegramme, Geburts- und Todesanzeigen.
Schliesslich ein Brief aus Südafrika, von Grossmutters Zwillingsbruder, und eine Fotografie, die die beiden als Jugendliche zeigt, steif und ernst. Nie hatte sie von dem Zwillingsbruder gesprochen. Erst nachdem sie schon lange gestorben war, erfuhr ich von seiner Existenz und dass er als Zwanzigjähriger kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach Südafrika ausgewandert war und nie mehr zurückkam. Er war dort Knecht, dann Vorarbeiter auf einem Bauernhof mitten im Nirgendwo. Später konnte er ein Stück Land kaufen, auf dem er Ziegen hielt und nach Diamanten grub. Einmal habe er einen gefunden und damit seine Schulden bezahlt, erzählte man sich in der Verwandtschaft. Auf eine Erbschaft hoffte man vergebens. Ein Notar aus Bloemfontein informierte die Familie per Telegramm über seinen Tod. Von seiner Hütte soll schon am Tag der Beerdigung kein Brett und kein Nagel mehr übrig gewesen sein.
Was wäre hier aus ihm geworden? War er vor der Armut geflohen? Oder vor der sich abzeichnenden Kriegsgefahr? Aus Abenteuerlust? Ich wüsste gern mehr über dieses Auswanderungsschicksal – doch alles, was bleibt, ist ein Brief in Grossmutters Sekretär.
Ruth Wysseier ist Winzerin und WOZ-Redaktorin.