Gorleben: Die Anti-Atom-Bewegung ist noch lange nicht am Ziel

Nr. 45 –

Trotz massenhafter Castor-Proteste: Über die deutsche Energiepolitik wird wohl erst nach der nächsten Bundestagswahl entschieden.


«Der beste Castor aller Zeiten» überschrieb die deutsche Tageszeitung «taz» am Mittwoch ihre Berichterstattung über den Transport hochradioaktiven Atommülls nach Gorleben. Das Blatt meinte damit nicht etwa die stabile Stahlwand des erstmals eingesetzten neuen Behältertyps und bezog sich schon gar nicht auf den schicken Schriftzug («www.kernenergie.de») auf der strahlend weissen Oberfläche der Castoren. Die Titelei in der «taz» galt vielmehr den aus Sicht der Anti-AKW-Bewegung erfolgreichen Protesten gegen die Atommüllfuhre.

Erfolg bemessen die Castor-Gegner an bestimmten Kriterien und Fragen: Wie lange war der Transport unterwegs? Wie teuer kommt er die Regierung zu stehen? Wie viele Menschen haben sich an welchen Widerstandsaktionen beteiligt? Die Antwort ist: Es war der bislang zeitaufwendigste, teuerste und am heftigsten umkämpfte Castor-Transport. Der Konvoi erreichte erst nach 92 Stunden sein Ziel. Mindestens 30 Millionen Euro kostet den Staat der Einsatz von bis zu 20 000 PolizeibeamtInnen.

Herausfräsen aus Beton

Zehntausende haben gegen den Transport protestiert und ihn immer wieder aufgehalten. Allein 40 000 kamen zu einer Grossdemonstration nach Dannenberg. 8000 beteiligten sich tage- und nächtelang an Sitzblockaden auf Strassen und Schienen. 4000 SchotterInnen versuchten, die Gleise der Castor-Strecke zu unterhöhlen – und holten sich dabei blutige Köpfe. Die BäuerInnen aus der Region demonstrierten und blockierten mit 600 Traktoren. Und Greenpeace stoppte die Weiterfahrt der Castoren mit einem umgebauten Bierlastwagen – die Polizei brauchte zwölf Stunden, bis die AktivistInnen und der LKW aus ihren Betonverankerungen herausgefräst waren.

Klar, dass die AtomkraftgegnerInnen mit ihren Protestaktionen zufrieden sind. «Wir haben gezeigt, dass mit uns gerechnet werden muss», sagt etwa die Vorsitzende der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, Kerstin Rudek. «Wir haben ein Signal gesetzt, das die Regierung nicht ignorieren kann», urteilt Protestveteran Jochen Stay von der Organisation Ausgestrahlt. Und Greenpeace-Atomexperte Mathias Edler bilanziert: «Das war der Anfang vom Ende der Castor-Transporte ins Wendland, der Anfang vom Ende des Endlagerstandorts Gorleben und der Anfang vom Ende der Atompolitik.»

Bewegung im Aufschwung

Die Massenproteste im Wendland kamen nicht unerwartet. Befeuert von der konzern- und atomkraftfreundlichen Politik der deutschen Bundesregierung, ist die davor lange Zeit schwächelnde Anti-Atom-Bewegung schon seit Monaten im Aufschwung. 120000 DemonstrantInnen verbanden Ende April die AKW-Standorte Brunsbüttel und Krümmel mit einer Menschenkette, 100000 strömten im September durch das Berliner Regierungsviertel, 50000 versammelten sich ein paar Tage darauf in München. In unzähligen Orten entstehen neue Bürgerinitiativen, und alte werden wiederbelebt.

Der Widerstand müsse und werde nun weitergehen, der politische Druck auf Bundesregierung und Energiekonzerne werde aufrechterhalten, kündigen die Initiativen und Umweltverbände an. Die Frage ist nur: Wie? Im Wendland selbst dürfte der Anti-Castor-Protest des vergangenen Wochenendes kaum zu übertreffen sein, wenn im nächsten Jahr letztmalig hochradioaktive Abfälle aus der französischen Plutoniumschleuder La Hague nach Gorleben gekarrt werden. Danach soll es zwar weitere Castor-Transporte aus dem britischen Sellafield ins Wendland geben, doch die sind noch nicht terminiert.

Kerstin Rudek sagt: «Es wäre schön, wenn der Widerstand nicht bis zum nächsten Atommülltransport nach Gorleben wartet.» Sie verweist auf bevorstehende Castor-Transporte in die Zwischenlager Ahaus (Nordrhein-Westfalen) und Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern). Da werde die Anti-Atomkraft-Bewegung in den nächsten Monaten Flagge zeigen. Schon möglich. Doch lassen sich dorthin nicht annähernd so viele Menschen mobilisieren wie ins niedersächsische Wendland. Gorleben war schon immer etwas Besonderes. Und blieb auch in Zeiten lahmender Bewegungskonjunktur der Kristallisationspunkt und Katalysator des Widerstands.

Nach Angaben von Jochen Stay planen die AtomkraftgegnerInnen weitere Proteste: gegen die Atomanlagen in Baden-Württemberg, wo mit Stefan Mappus (CDU) ein kompromissloser Atomkraftbefürworter am Ruder ist. Zum Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe, die sich Ende April zum 25. Mal jährt. Und auch in Krümmel, wenn das vor dreieinhalb Jahren nach schweren Pannen abgeschaltete AKW Anfang 2011 wieder in Betrieb gehen sollte.

Unpopuläre Regierung

Die Stilllegung der Atomkraftwerke, nach wie vor erklärtes Ziel der Anti-Atom-Gemeinde, dürfte mit diesen und weiteren Aktionen aber kaum zu erreichen sein. Gleichwohl sieht es mittelfristig für die AtomkraftgegnerInnen gar nicht schlecht aus. Die Bundesregierung hat sich mit ihrem Gesetz über die Laufzeitverlängerung von Atomanlagen ebenso offensichtlich wie unverfroren auf die Seite der Energiekonzerne geschlagen. In der Öffentlichkeit ist das gar nicht gut angekommen. Die jetzigen Proteste stossen daher weithin auf Sympathie. Damit könnte die Atompolitik bei der nächsten Bundestagswahl und schon vorher bei Landtagswahlen zum mitentscheidenden Thema werden.

Allerdings müssten Grüne und SPD im Fall eines Regierungswechsels im Jahr 2013 unter Beweis stellen, dass es ihnen mit einem Atomausstieg nächstes Mal wirklich Ernst ist. Bei den Demonstrationen im Wendland hatten die Parteigrössen kamerawirksam den Schulterschluss mit den Anti-Atom-AktivistInnen gesucht. Die haben allerdings nicht vergessen, dass der rot-grüne Atomausstieg des Jahres 2000 nur ein halbgarer Kompromiss war. Und dass der damalige Umweltminister Jürgen Trittin von den Grünen seinerzeit eine Beteiligung seiner Partei an den Demonstrationen gegen Castor-Transporte ausdrücklich ablehnte. Vor wenigen Monaten erst stimmten die mit der CDU in einer Koalition verbandelten Hamburger Grünen gegen eine Unterstützung der Menschenkette zwischen Brunsbüttel und Krümmel durch das Stadtparlament.

Bis das Volk sie möglicherweise abwählt, wollen und werden die Pro-Atom-Parteien CDU/CSU und FDP aber noch kräftig mitmischen und provozieren: Kaum hatte der Castor-Transport am Dienstag das Zwischenlager erreicht, ordnete die schwarz-gelbe Landesregierung in Niedersachsen den Sofortvollzug für die weitere Erkundung des Gorlebener Salzstocks als Atommüllendlager an.


Länger laufen?

Vor zwei Wochen verabschiedete der deutsche Bundestag eine Kungelei der schwarz-gelben Regierungskoalition mit den vier grossen Energiekonzernen. Statt, wie 2002 beschlossen, aus der Atomenergie auszusteigen, erlaubt das neue Gesetz der Industrie, die siebzehn deutschen AKWs um durchschnittlich zwölf Jahre länger laufen zu lassen.

Noch ist aber nicht sicher, ob die Konzerne den Zusatzgewinn (schätzungsweise sechzig Milliarden Euro) einstreichen können. Da die Regierung den Bundesrat, die zweite Parlamentskammer, umgangen hat, zögert der Bundespräsident mit seiner Unterschrift. Mehrere Bundesländer haben zudem eine Klage beim Bundesverfassungsgericht angekündigt.