Atompolitik: Stille Schweizer Castor-Transporte
Die Schweiz hat ihr eigenes Gorleben, nur kennt es kaum jemand: das Zentrale Zwischenlager für radioaktiven Abfall (Zwilag) bei Würenlingen im Aargau. Regelmässig kommen dort Züge mit Atommüllbehältern an, doch darüber regt sich niemand auf. Das Zwilag liegt nur knapp dreissig Kilometer nordwestlich von Zürich, an einem lauschigen Ort am Ufer der Aare. Seit 2001 trafen dort elf Frachten aus dem Ausland ein – sie kamen wie die deutschen Castor-Transporte aus der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague. In diesem Jahr waren es sogar zwei Transporte, einer im Frühling, einer im Herbst, wie Anton Treier, Pressesprecher des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (Ensi), sagt.
Aus Sicherheitsgründen werden sowohl die genaue Route als auch der Zeitpunkt der Transporte geheim gehalten. Die strahlende Fracht kommt per Zug bis nach Würenlingen und wird für die letzte, kurze Strecke auf ein spezielles Strassenfahrzeug umgeladen.
In Deutschland hat der Castor-Transport nach Gorleben Tausende von DemonstrantInnen mobilisiert. In der Schweiz passiert nichts: keine Aktion, keine Proteste, nicht einmal eine Medienmitteilung. Warum?
Jahrelang schickten die Schweizer AKW-Betreiber ihre abgebrannten Brennstäbe in die Wiederaufarbeitungsanlagen nach La Hague oder Sellafield (Nordwestengland). Insgesamt wurden 1100 Tonnen Atommüll dorthin verschoben, die inzwischen aufgearbeitet sind: Man zerlegt die Brennstäbe mechanisch und löst danach chemisch das Plutonium und das Uran heraus, um es nachher wieder im Reaktor einsetzen zu können. Das Verfahren wurde ursprünglich entwickelt, um Material für Atombomben zu gewinnen. Es belastet die Umwelt massiv mit radioaktiven Stoffen und vergrössert die Abfallmenge enorm. Besser wäre es, die Brennstäbe direkt endzulagern.
Ursprünglich glaubten die Schweizer AKW-Betreiber, so ihren Atommüll loszuwerden, weil sie davon ausgingen, sie könnten die Wiederaufarbeitungsabfälle in Frankreich respektive Britannien lassen. Inzwischen haben aber beide Länder Gesetze erlassen, aufgrund derer der Abfall in die Ursprungsländer zurückmuss. Laut Ensi werden bis 2015 noch neun Transporte aus La Hague und zwischen 2013 und 2018 drei Transporte aus Sellafield erwartet.
Die Transportbehälter mit dem Müll werden im Zwilag in zwei Lagerhallen untergebracht, bis ein geeignetes Endlager gefunden ist. Der ganze radioaktive Abfall, den die Schweiz produziert hat oder noch produzieren wird, wird also in den nächsten Jahrzehnten vor den Toren Zürichs gehortet. Noch vor einigen Jahren versuchten Greenpeace-AktivistInnen regelmässig, Schweizer Atommülltransporte, die das Land Richtung La Hague oder Sellafield verliessen, zu blockieren – weil sie die Wiederaufarbeitung verhindern wollten.
Gegen die Transporte zurück unternahmen die AktivistInnen nichts, weil sie zu Recht sagen: Der Müll wurde in der Schweiz produziert, also muss sie die Verantwortung dafür übernehmen. Anders als in Deutschland, wo der Salzstock von Gorleben gleichzeitig als potenzieller Endlagerstandort betrachtet wird, ist das Zwilag nur als Zwischenlösung konzipiert. Zudem hat man in der Schweiz noch kein so arges Endlagerchaos angerichtet wie in Deutschland, wo im Versuchsendlager Asse grobfahrlässig und unkontrolliert Atommüllfässer entsorgt wurden – die man jetzt angeblich nicht mehr rausholen kann.
Kommt hinzu, dass die Schweizer Anti-AKW-Bewegung mit ihrer Kampagne gegen die Wiederaufarbeitung erfolgreich war: Seit vier Jahren gilt ein Moratorium, bis 2016 dürfen die AKW-Betreiber keine abgebrannten Brennelemente mehr nach La Hague oder Sellafield schicken. Jetzt lagern die Brennelemente bei den AKWs oder im Zwilag.
Technisch gesehen gibt es also hierzulande wenig Grund, einen Atommülltransport zu behindern – doch den gibt es auch in Deutschland nur beschränkt. Die Gorleben-AktivistInnen werden nicht müde zu sagen, dass es ihnen gar nicht um den Transport an sich, sondern vielmehr um die Atompolitik der deutschen Regierung gehe, die die Laufzeit der Meiler verlängert hat. Die ganze Welt konnte den farbenfrohen, friedlichen Protest verfolgen, der wie eine physisch gewordene politische Botschaft wirkt. Eine «verlängerte Laufzeit» lässt sich nicht mit einer Sitzblockade behindern, ein Zug mit Atommüll schon.
In der Schweiz stehen so harmlose Fragen wie «verlängerte Laufzeit» gar nicht an, die Reaktoren dürfen alle unbefristet laufen (vorerst noch mit Ausnahme von Mühleberg). Es geht bei uns um viel mehr: um den Bau von drei neuen AKWs. Am kommenden Montag werden das Ensi und das Bundesamt für Energie Stellung nehmen zu den drei Rahmenbewilligungsgesuchen der Energiekonzerne Axpo, BKW FMB Energie und Alpiq. Die Planung wird also immer realer.
Eine Lösung für die Endlagerung des Atommülls können die AKW-Betreiber, die auch die drei neuen Meiler bauen wollen, immer noch nicht bieten. Die heute favorisierte Idee, den Müll tief im Boden in einer Tonschicht zu vergraben, birgt technisch schier unlösbare Probleme (siehe WOZ Nr. 10/10). Auch ist die Finanzierung nicht geklärt: Der Bau des Endlagers soll schätzungsweise 3,5 Milliarden Franken kosten. Dafür müssen die AKW-Betreiber aufkommen.
Die Vorgabe ist, dass der Müll – falls nötig – zurückgeholt werden kann. Sollte dies aber wirklich nötig werden, dürfte es nochmals 3,5 Milliarden Franken kosten, wie der Bundesrat in einer soeben publizierten Antwort auf eine Anfrage des Schaffhauser SP-Nationalrates Hans-Jürg Fehr schreibt. Bezahlen müsste dies allerdings die Allgemeinheit – und nicht die AKW-Betreiber.
Es gibt also für die Anti-AKW-Bewegung genügend Gründe, sich kreativ einzumischen.