Prostitution : Neunzig Tage für ein besseres Leben
«1050 neue Prostituierte», vermeldete das Zürcher Polizeidepartement Mitte Februar. Viele der Frauen sind auffallend jung. Würde es den Betroffenen helfen, wenn Bundesrätin Simonetta Sommaruga die Prostitution Minderjähriger verbietet?
Sie heisst Anna. Oder Petra. Vielleicht auch Sofia. Sie wurde von einem Verwandten überredet, in die Schweiz zu gehen, um dort für die Familie Geld zu verdienen. Oder sie machte sich selbstständig auf die Reise, auf der Suche nach wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Sicherheit. Vielleicht reagierte sie auch auf ein Inserat einer Agentur. Vielleicht kommt sie aus Rumänien, Polen oder Ungarn. Vielleicht ist sie Roma. Und bietet heute ihren Körper Nacht für Nacht den Freiern auf der Strasse oder in einer Bar an. Vielleicht muss sie ihrem Zuhälter täglich 500 oder auch 1000 Franken abgeben – und wird verprügelt, falls sie es nicht tut. Vielleicht kann sie über ihre Einkünfte selber entscheiden. Vielleicht wird sie von Familienmitgliedern gezwungen, jede Woche Geld nach Hause zu schicken. Vielleicht. Es gibt sie nicht, «die» Prostituierte mit «der» Geschichte. Es sind deren viele.
Die Nachfragenden
1050 Prostituierte seien 2010 neu in die Stadt Zürich gekommen, vermeldete das Zürcher Polizeidepartement Mitte Februar. Das sind ein Drittel mehr als im Jahr zuvor – und viele von ihnen sind auffallend jung. Gemäss Michael Herzig, Leiter des Geschäftsbereiches Sucht und Drogen des Stadtzürcher Sozialdepartements, ist das Alter der Prostituierten, die an der Langstrasse arbeiten, innerhalb der letzten zwei Jahre massiv gesunken. Heute liege das Durchschnittsalter bei 24 Jahren. Zwei Jahre zuvor lag es noch bei 31 Jahren. Michael Herzig führt mit seinem Team alle zwei Jahre Klientinnenbefragungen durch. Sie gehen auf die Strasse und befragen die Sexarbeiterinnen unter anderem zu Alter und Herkunft. Allerdings werden die Angaben der Frauen nicht weiter überprüft. Herzig ist überzeugt, dass sich viele Frauen bei solchen Befragungen älter ausgeben, als sie sind.
«Ihr Alter ist schwer einzuschätzen», meint auch Claudia Ackermann, Sozialarbeiterin und Gassenarbeiterin an der Langstrasse. «Viele sind sehr jung. Viele machen aber auch extra auf jung – offenbar ist das gefragt.» Das bestätigt auch Regula Rother von der Zürcher Stadtmission: «Wäre die Nachfrage nach jungen Frauen nicht so gross, hätten die Frauen hier keinen Grund, sich zu prostituieren» (vgl. Interview). «Die mediale Empörung läuft aber stets über die Prostituierten.» Die Freier, welche von jungen Frauen Sex kaufen, stehen selten im Rampenlicht.
Die Schweiz ist eines von wenigen europäischen Ländern, in denen die Prostitution Minderjähriger und die Inanspruchnahme sexueller Dienste von Frauen oder Männern zwischen sechzehn und achtzehn Jahren nicht strafbar sind. Das will die neue Justizministerin Simonetta Sommaruga nun ändern, wie sie in ihrer Hunderttagesbilanz ankündigte. Einzelne Kantone und Städte mochten nicht auf die bundesweite Gesetzgebung warten. So ist es im Kanton Genf BordellbetreiberInnen und Escortfirmen schon seit Ende 2009 untersagt, minderjährige Frauen oder Männer einzustellen.
Spezielle Bewilligungspflicht
In der Stadt Zürich ist der Entwurf für eine neue Prostitutionsgewerbeverordnung noch bis Ende März in Vernehmlassung. Er sieht vor, dass sowohl die Strassenprostitution als auch der Betrieb von Sexsalons und Bordellen einer speziellen Bewilligungspflicht unterstellt werden. Davon verspricht man sich mehr Kontrolle über das Milieu und somit auch mehr Sicherheit – für die AnwohnerInnen, aber auch für die SexarbeiterInnen. Der juristische Clou: Frauen und Männern unter achtzehn Jahren könnten keine Bewilligungen ausgestellt werden, da sie gemäss ZGB nicht handlungsfähig sind und somit keinen Vertrag über sexuelle Dienstleistungen gegen Bezahlung eingehen können.
Doch wie gross ist das Problem überhaupt? Fachleute sind sich einig, dass die wenigsten Frauen im Schweizer Sexgewerbe minderjährig sind. «Das Thema wird medial aufgebauscht», sagt Doro Winkler von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ). «Viel schwerer wiegen die unterschiedlichen Abhängigkeitsverhältnisse, in denen sich die Frauen befinden.»
Bei den jungen Frauen aus dem Osten kommt hinzu, dass sie – wenn sie legal hier sind – selten mehr als neunzig Tage in der Schweiz arbeiten können. Im Kanton Zürich besitzen viele eine Bewilligung als «selbstständig Dienstleistungserbringende», die es ihnen erlaubt, für neunzig Arbeitstage hier zu bleiben. Diese können über ein Kalenderjahr verteilt werden. Nach neunzig Arbeitstagen müssen sie weiterreisen. Was die oben zitierte Polizeimeldung nicht sagt: Viele Frauen mussten die Schweiz also inzwischen wieder verlassen – Destination Holland oder Portugal, auf den nächsten Strich. Nur wenige gehen zurück zu ihrer Familie. Die Frauen stehen unter massivem Druck, in dieser kurzen Zeit möglichst viel Geld zu verdienen.
Die goldenen Nasen
Während dieses kurzen Aufenthalts die jeweilige Landessprache zu lernen, ist unmöglich. Nur wenige der Frauen wissen über ihre Rechte Bescheid. Auch was die milieuinternen ungeschriebenen Regeln betrifft, sind die jüngeren Frauen gemäss Claudia Ackermann oft nicht im Bilde. So bieten sie ihre Dienste meist für noch weniger Geld an als auf der Strasse bereits üblich.
Auch wissen sie teilweise nichts von den Sicherheitsregeln, welche im Gewerbe gelten: nicht küssen, nie ohne Gummi und stets in der Nähe der anderen Prostituierten bleiben. Halten sie diese nicht ein – ob gewollt oder ungewollt –, so gefährden sie nicht nur sich, sondern indirekt auch die anderen Sexarbeiterinnen, weil die Nachfrage nach billigem und risikoreichem Sex steigt. Auch hier gilt: Es sind nicht vorderhand die Frauen, welche die Preise und Bedingungen bestimmen. Würden die Freier nicht nach billigem und ungeschütztem Sex verlangen, müssten die Prostituierten diesen nicht anbieten.
Die Freier sind nicht die Einzigen, die von den prekären Bedingungen der Frauen im Rotlichtmilieu profitieren. Gemäss dem Bundespolizeibericht zur Inneren Sicherheit von 2005 bewegt sich der Erlös aus dem Schweizer Rotlichtmilieu jährlich um die drei Milliarden Franken oder mehr. Salon- und BordellbesitzerInnen streichen satte Renditen ein, ebenso Mieter oder Wohnungseigentümerinnen, welche ihre Zimmer zu stetig steigenden Preisen an Prostituierte (unter-)vermieten. Aber auch Heiratsvermittlungen, Ärztinnen und Ärzte, Krankenkassen, Anwaltskanzleien und nicht zuletzt die Medien profitieren von den Frauen im Sexgewerbe und ihren Geschichten, wie die FIZ schreibt. Mit den «1050 neuen Prostituierten» verdienen sich in der Schweiz ein paar wenige eine goldene Nase – und das sind keinesfalls die Prostituierten.