Zürcher Rotlichtviertel: «S schönscht Plätzli»
Das Sexmilieu wird nach und nach aus dem Quartier verdrängt. In den Aussenquartieren müssten die Prostituierten unter gefährlichen Bedingungen arbeiten. Ein Steifzug durch den Sündenpfuhl.
In einem kleinen Studio unweit der Langstrasse im Zürcher Kreis 4 sitzt die 52-jährige Dominikanerin Marta (Name geändert) neben einem Elektroofen, feuchte Kälte strömt durch die offene Ladentüre. Dürr ist sie, schwarze gestreckte Haare umrahmen ihr Gesicht mit den hohlen Wangen und den aufgespritzten roten Lippen. Hinter einer Trennwand steht ein schmales Bett. Sehr gemacht sieht es nicht aus, ein Tuch mit Palmenmuster liegt darauf, am Fussende ein Handtuch. Wie sie da sitzt, mit hängenden Schultern, in Mantel, langem Jupe und dunklen Strümpfen, scheint Marta nicht unbedingt auf den nächsten Freier zu warten: «Von der Arbeit in diesem Milieu habe ich die Schnauze voll», sagt sie abschätzig in einer Mischung aus Spanisch, Deutsch und Italienisch.
Seit dreissig Jahren ist sie in der Schweiz und arbeitet im Sexgewerbe, seit zwölf Jahren geschieden von ihrem Schweizer Exmann, den sie einst in dessen Ferien in der Dominikanischen Republik kennenlernte. Plötzlich springt sie auf, wild gestikulierend räumt sie auf mit der Vorstellung aller romantischen Grossstadtträumer vom anrüchigen, glamourreichen Rotlicht. Alles habe sie hier gesehen: Messerstechereien, Faustkämpfe unter Frauen, Drogen: «Dealende Frauen stecken sich Plastikkugeln voll mit Koks da rein», ruft sie, und ihre langen glitzernden Fingernägel weisen zwischen ihre gespreizten Beine. Ihre letzte Hoffnung auf ein Auskommen ausserhalb des Sexgewerbes ist die Sozialhilfe. Einen Antrag hat sie gestellt.
«Männer wollen doch immer mehr»
Mehr erotischen Enthusiasmus versprüht ihre Kollegin Esperanza*, gerade auf dem Sprung nach Hause zu Mann und Kind. «Weisch, Schätzeli, ich mache das als Hobby», sagt sie fröhlich und fügt augenzwinkernd hinzu, das sei hier ja eh nur ein Massagesalon. Also kein Sex? Ihr üppiger Körper gerät in Bewegung: «Ja, wenn du bitzeli die Eier kützelest, dann wollen doch Männer immer mehr, aber weisch, mit meinem Mann habe ich schon lange keinen Orgasmus mehr.» Mit den Freiern sei dies manchmal anders, meint sie kichernd und setzt ihr tiefes, grosses Décolleté in Szene: «La Prostituçion ist nicht so schlimm, wie du denkst», dann entschwindet sie in die Dunkelheit hinaus.
Zürichs «Strichplan»
Später am Freitagabend auf der anderen Seite der Bahngeleise am Sihlquai: An einem Auto unter der Kornhausbrücke lehnen acht sehr junge Frauen in langen Lackstiefeln und knappen Hotpants und verkriechen sich in ihren kurzen Daunenjacken. Auf die Frage, worauf sie warten, formuliert eine sogleich ihr Angebot: «Blasen, ficken, alles total hundert Franken.» Mehr ist den Prostituierten mit ihren mädchenhaften Gesichtern und osteuropäischen Zügen nicht zu entlocken, auch Reden kostet. Unterdessen rollen die nächsten Kunden heran, mit Zürcher, Glarner oder Schwyzer Autonummern. Strassenprostitution ist in der Stadt Zürich gemäss dem «Strichplan» von 1991 nur an bestimmten Orten erlaubt. Mit den heutigen Realitäten stimme dieser nicht mehr überein, bestätigt Rolf Vieli, Leiter der Stadtentwicklungsprogramme «Langstrasse Plus» und «Projekt Rotlicht»: «Abgesehen vom Sihlquai stehen alle da, wo sie nicht stehen dürften, und keine steht da, wo sie dürfte.»
Die Venezolanerin Maria* arbeitet schon seit zehn Jahren an der Langstrasse, einer laut Strichplan verbotenen Zone. Nach dem Anwerben auf der Strasse führt sie ihre Kunden in ihre Wohnung im Quartier, ein Zimmer hat sie da für die Arbeit reserviert. Am Sihlquai würde sie nie arbeiten: «Zu viele Frauen, die fixen. Ich bin eine saubere, gesunde, schöne Frau.» Im Kreis 4 dagegen fühlt sie sich am richtigen Ort. Nicht respektlose Freier, Drogenszene oder Schlägereien machten ihr das Leben schwer, sondern die Polizei, die das Strassenstrichverbot immer noch konsequent umsetzen wolle und Prostituierte oft scharfen Kontrollen unterziehe.
Im Strichplan manifestiere sich eine gesellschaftliche «Doppelmoral», die man endlich beenden wolle, sagt auch Rolf Vieli. Die Prostitution an sich ist in Zürich seit über achtzig Jahren legal, während das Anschaffen auf der Strasse an vielen Orten noch immer verboten ist. Das «Projekt Rotlicht» solle hier Verbesserungen bringen, immer mit dem Ziel, «das Milieu mit seinen Eigenheiten und Problemen nicht einfach in andere Stadtkreise zu exportieren und die Arbeitsbedingungen der SexarbeiterInnen zu verbessern». Das Nebeneinander von Rotlicht, Galerien, Barszene und Wohnbevölkerung im Kreis 4 solle dabei für alle möglichst verträglich gestaltet werden, sagt Vieli.
Leben mit dem Milieu
Lea Boesiger von der Isla Victoria, der Beratungs-, Betreuungs- und Kontaktstelle für Sexarbeiterinnen im Kreis 4 - einem Projekt der Zürcher Stadtmission -, traut dem nicht so ganz. Sie wünscht sich eine offenere Kommunikation unter den verschiedenen Szenen. Wenn sich beispielsweise ansässige KünstlerInnen für das Milieu interessierten, dann nur theoretisch: «Manchmal kommt jemand zu mir, um über eine Abschlussarbeit über Prostitution zu reden, obwohl die eigene Nachbarin eine Prostituierte ist. Das ist elitär, so jemand sollte mit der Frau direkt reden, das sind Menschen, absolut kommunikativ!» Sie vermutet, dass die Prostitution für die AnwohnerInnenschaft im Kreis 4 manchmal eine dankbare öffentliche Projektionsfläche für private Probleme sei: «Hier gibt es viele Semiintellektuelle, die noch ein bisschen links sind und Ressentiments aller Art gerne vertuschen. Das ergibt eine Stimmung der unterschwelligen Diskriminierung, die ätzender ist als offene Beschimpfungen wie ‹Schiiss-Nutte› oder ‹Schiiss-Usländerin›.» Als Mitarbeiterin bei Isla Victoria sei sie aber auch nicht ganz neutral, gibt sie zu. Anders als Vieli befürchtet Boesiger gerade wegen der städtischen Initiativen, die von einer allgemeinen Quartieraufwertung begleitet werden, eine Verdrängung des Milieus aus Aussersihl. «Dies wäre für die Lebensbedingungen der SexarbeiterInnen verheerend.» In Aussenquartieren und Vorstädten gäbe es kein soziales Netz. «Da sind Sexarbeiterinnen viel isolierter, dementsprechend wird ihre Arbeit unsicherer. Kontaktorte, die es im Kreis 4 auch ausserhalb des Milieus gibt, wie die vielen Beauty-Salons und anderes Kleingewerbe, fallen da weg.»
Auch dem arabisch-deutschen Türsteher der Longstreet Bar ist deshalb nicht mehr wohl: «Guck dich um, Mann, bald gibts hier nix mehr Rotlicht, nur noch Anwälte und Ärzte, das wird das totale Schickimicki-Viertel.» In den nächsten Minuten entdecken er und sein Kollege mit Kennerblicken doch noch einige Prostituierte, Dealer und Zuhälter unter den wenigen Leuten, die am späten Sonntagabend noch unterwegs sind. «Man kennt sich», sagt der Türsteher. «Probleme mit Drogen oder anschaffenden Frauen gibts hier aber selten, ich sag: ‹Hier nicht!›, und die Leute akzeptieren das meistens.» Für die Puffs interessieren sich die Türsteher nicht: «Ich hab genug Nummern von weiblichen Gästen im Telefonspeicher», sagt der eine, der andere zieht wie zum Beweis ein Foto seines kleinen Sohnes aus dem Portemonnaie. Da schlendert ein dicker Typ mit Irokesenschnitt vorbei, an jedem Arm eine hoch gestiefelte Kreolin: Er habe keine Zeit, er müsse arbeiten gehen. Die Ladys nicken bestätigend. «Aber eis», ruft er strahlend, «chasch schriibe: Dä Chreis vier isch s schönscht Plätzli i eusere Schwiiz!»
«Die Frauen können nicht wählerisch sein»
WOZ: Als Heilsarmistin sprechen Sie jede Woche mit Sexarbeiterinnen in Zürich. Wie muss man sich das vorstellen?
Cornelia Zürrer Ritter: Wir besuchen sie, wo sie arbeiten - auf der Strasse und in den Wohnungen. Wir schauen, ob sie Beratung brauchen. Viele sind Ausländerinnen, haben Sprachprobleme und wissen nicht, welche Hilfsangebote es gibt. Wir vermitteln ihnen Adressen oder gehen auch mal mit auf ein Amt. Manchmal wollen sie auch nur reden. Wir sind einfach für sie da.
Ist Gewalt bei diesen Gesprächen ein Thema?
Oh ja! Sexarbeiterinnen sind mit verschiedenen Formen von Gewalt konfrontiert, physischer wie psychischer.
Männer kommen ja für Sex, sie kaufen sich eine Dienstleistung ein - wo kommt die Gewalt ins Spiel?
Im Voraus wird immer genau abgemacht, was die Leistung ist. Das ist nicht immer Verkehr. Es gibt auch Frauen, die nur mit Massage arbeiten. Es kann dann sein, dass ein Mann eine Frau zum Verkehr zwingt, also klar über die Abmachung hinausgeht. Manchmal lassen Männer die Frauen auch nicht mehr gehen. Normalerweise dauert das Geschäft ja eine Viertelstunde. Es kommt vor, dass einem Mann das nicht genügt, er aber auch nicht mehr bezahlen will. Oder er zwingt die Frau, ohne Kondom zu arbeiten, obwohl es anders vereinbart wurde.
Können die Frauen sich wehren?
Sie sind natürlich nicht dumm. Sie schauen, dass sie einigermassen geschützt sind, etwa, indem sie nicht alleine arbeiten, sondern dort, wo es noch andere Sexarbeiterinnen hat. Das sorgt für eine gewisse Kontrolle. Aber es kommt immer wieder vor, dass eine trotzdem in eine blöde Situation gerät.
Zum Beispiel?
Die Frauen weisen manchen ab. Minderjährige etwa. Auch solche auf Drogen oder Alkoholisierte, solche, die ihnen suspekt sind, etwa wenn mehrere gleichzeitig kommen. Da gibt es immer wieder Männer, die versuchen, eine Tür aufzubrechen, und auch verbal ausfällig werden. Diese Form von Gewalt ist im Milieu sehr verbreitet.
Und wenn einer die Tür aufkriegt, dann schlägt er die Frau zusammen?
Dieses Jahr wurde zweimal eine Frau auf dem Heimweg überfallen, eine gar mit dem Messer attackiert. Beide Male nahm der Täter der Frau das Geld ab, das sie in der Nacht verdient hatte.
Haben sie Anzeige erstattet?
Ja. Aber sie kannten die Täter nicht, die wurden nie ausfindig gemacht. Meistens erstatten die Frauen schon gar keine Anzeige.
Weshalb nicht?
Zum einen, weil sie ihre Rechte nicht kennen. Zum andern, weil sie dann mit einer Ausschaffung rechnen müssen. Die Prostitution ist für diese Frauen oft das Einzige, was sie machen können. Auf dem normalen Arbeitsmarkt haben sie keine Chance, weil sie keine Bewilligung haben.
Gibt es Faktoren, die Gewalt im Milieu begünstigen?
Sehr problematisch ist es, wenn Frauen an Orten anschaffen müssen, wo es sehr anonym ist, wo es keine Kontrolle gibt. In Zürich etwa das Sihlquai.
Gäbe es keinen sichereren Ort?
Im Kreis 4, wo die Kontrolle besser wäre, ist das Anschaffen offiziell verboten. Es sind oft Drogenprostituierte oder illegalisierte Frauen, die in dieser Hierarchie zuunterst sind. Das hat für mich ein gewisses System: Es trifft diejenigen, die schon vorher mehrheitlich Opfer sind, auch im Heimatland keine Perspektive hatten, keine Ausbildung, keine Gesundheitsversorgung - also all die Migrantinnen, die dann auch hier keine Chance auf einen normalen Job haben, auf eine Arbeitsbewilligung. Sie müssen dann eben auch in der Anonymität so einen Job ausüben: da, wo die Gefahr, kontrolliert zu werden, am geringsten ist, aber die Gefahr, Opfer von Gewalt zu werden, am grössten.
Sie könnten trotzdem auch Männer abweisen, wenn ihnen einer suspekt ist ...
Kaum, denn diese Frauen können es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Diejenigen, die zuunterst in der Hierarchie sind, nehmen dann vielleicht die Männer, die anderswo abgewiesen wurden.
Interview: Esther Banz