150 Jahre Italien: Politische Initiative von unten war nie vorgesehen
Vor 150 Jahren wurde der italienische Nationalstaat gegründet. Dennoch begreifen sich die ItalienerInnen auch heute noch viel zu wenig als StaatsbürgerInnen. Warum?
Am 17. März, dem Erscheinungstag dieser WOZ, wird der italienische Nationalstaat 150 Jahre alt. Von Feierstimmung ist südlich der Alpen dennoch kaum etwas zu spüren. Silvio Berlusconis Skandale und sein Regime des autoritären Populismus haben dem Ansehen des Landes schweren Schaden zugefügt. Der Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft gibt so wenig Anlass zum Optimismus, dass die Regierenden sich nicht glaubhaft als legitime Erben einer glorreichen Vergangenheit inszenieren können.
Ebenso wenig ist in den offiziellen Jubiläumsreden eine kritische Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe zu erwarten. Die wäre aber notwendig – das 1861 geeinte Italien wurde nicht nur zum Mutterland des Faschismus, sondern im Zweiten Weltkrieg auch zum Komplizen des verbrecherischen Nazideutschland. Zwar läuft Geschichte nicht geradlinig auf ein vorab feststehendes Ergebnis zu. Gleichwohl stellt sich die Frage, welche Umstände der Staatsgründung die späteren Katastrophen begünstigten.
Einheit vor Freiheit
Die Proklamation des Königreichs Italien war das Ergebnis des Risorgimento (wörtlich «Wiedererstehung, Wiedergeburt»). So wird die italienische Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegung ab 1815 genannt – ein in Teilen revolutionärer Befreiungskampf, der auch «heroische» Züge trug. Das gilt vor allem für den legendären «Zug der Tausend», den der charismatische Guerillageneral Giuseppe Garibaldi anführte (vgl. «Der ‹Zug der Tausend›»). Nach ihm sind bis heute selbst in der tiefsten Provinz Strassen und Plätze benannt. Einfluss auf die Ausgestaltung des neuen Staates hatte er aber kaum – ebenso wenig wie die gesamte demokratische Strömung des Risorgimento. Italien blieb eine konstitutionelle Monarchie, in der politische Initiative von unten nicht vorgesehen war.
Mit den Defiziten dieses Staates hat sich der marxistische Theoretiker Antonio Gramsci (1891–1937) intensiv auseinandergesetzt. Als Sekretär der Kommunistischen Partei Italiens von Benito Mussolinis Sondergericht 1928 zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, konnte er in der Gewalt seiner Todfeinde zwar keine Faschismustheorie ausarbeiten. Seine zwischen 1929 und 1935 entstandenen «Gefängnishefte» enthalten aber tiefe Einsichten in die Vorgeschichte des Faschismus. In seiner Betrachtung des Risorgimento unterscheidet er zwei Hauptströmungen. Einerseits die Moderati um Italiens ersten Ministerpräsidenten, den Grafen Camillo di Cavour: Sie gaben sich mit der konstitutionellen Monarchie zufrieden. Ihnen gegenüber stand die Aktionspartei mit Garibaldi, die eine demokratische Republik anstrebte. Die Moderati, so Gramsci, hätten als «Avantgarde der Oberklassen» jedoch die Aktionspartei dominiert und gelenkt, auch indem sie die Umtriebigsten «absorbierten».
In der Praxis bewegten sich also auch die Linken im Rahmen einer Politik, wie sie in der Losung der Moderati «Unabhängigkeit und Einheit» zum Ausdruck kam. Insbesondere Garibaldis rechte Hand Francesco Crispi war ein solcher «Einheitsfanatiker». Angetreten als Mann der Linken, wurde Crispi in seiner Zeit als Ministerpräsident (1887–1896) zum Begründer der imperialistischen «Grossen Aussenpolitik», durch die Italien seinen «Platz an der Sonne» in afrikanischen Kolonien zu erkämpfen versuchte. Den armen süditalienischen Bauern versprach Crispi Land in Afrika. Andere Propagandisten des Kolonialismus, darunter später auch Wortführer der Sozialistischen Partei, lieferten dafür die Rechtfertigung, indem sie Italien zur «proletarischen» Nation erklärten. Beides wurde vom Faschismus aufgegriffen: die «linke» Phraseologie und die imperialistische Politik.
Die Träger des Faschismus
Während Ende des 19. Jahrhunderts auch ehemalige Revolutionäre von Italiens Grösse und Mission träumten, regierten im Inneren des neuen Staates Bürokraten und eine kleine Schicht von Berufspolitikern. Ursprünglich hatte das Zensuswahlrecht nur 417 000 Männern in ganz Italien das Wahlrecht zugesprochen. Die Reform von 1882 erhöhte deren Zahl auf etwa zwei Millionen – immer noch eine kleine Minderheit. Gramsci kritisierte die fehlende «Tradition einer politischen Massenpartei». Das italienische Volk und insbesondere das Kleinbürgertum und die Intellektuellen darin seien zutiefst apolitisch gewesen. Diese «unterste Schicht der italienischen Bourgeoisie» mit ihren «Faulenzern, Ignoranten, Abenteurern, denen der Krieg die Illusion verschafft hat, zu etwas nutze zu sein», sie habe den Faschismus getragen.
Tatsächlich «nützlich» wurden sie beim Machtantritt des Faschismus. Er sicherte die Herrschaftsverhältnisse ab, die in ihrem Wesen seit 1861 unverändert geblieben waren: Ein «historischer Block» (Gramsci) aus Industriellen und Grossgrundbesitzern behielt die Zügel der Macht in der Hand. Der industrialisierte Norden entwickelte sich im Unterschied zum agrarischen Süden, die alten Eliten behielten ihre Privilegien. Um diese Privilegien gegen die Forderungen der Arbeiterbewegung zu verteidigen, übergaben die Eliten 1922 die politische Macht an die Faschisten. Antonio Gramsci bezeichnete diese Machtübergabe als «passive Revolution», ebenso wie die Umwälzungen von 1860/61.
Hatte es damals eine Alternative gegeben? Ja, sagt Gramsci: «Damit die Aktionspartei eine autonome Kraft hätte werden und es ihr letztlich hätte gelingen können, der Bewegung des Risorgimento zumindest einen betonter popularen und demokratischen Charakter zu verleihen, hätte sie den Moderati ein Regierungsprogramm entgegensetzen müssen, das die wesentlichen Forderungen der Volksmassen, in erster Linie der Bauern, widergespiegelt hätte.» Der «spontanen» Anziehungskraft der Moderati hätte eine «organisierte» Gegenoffensive gegenübergestellt werden müssen. Wäre sie erfolgreich gewesen, hätten die Dinge wahrscheinlich einen weniger schrecklichen Gang genommen.
Möglich war ein Erfolg auch nach dem Sieg der Gemässigten über die Demokraten noch – der Faschismus war keineswegs unausweichlich. Ebenso wenig war er eine blosse «Parenthese der italienischen Geschichte», wie der liberale Philosoph Benedetto Croce (1866–1952) behauptete. Der von den Faschisten ermordete Sozialist Carlo Rosselli (1899–1937) schrieb zu Recht, der Faschismus sei «die Autobiografie der Nation, die auf den politischen Kampf verzichtet und den Kult der Einmütigkeit pflegt». Dieser «Kult» wurde in dem 1861 entstandenen Königreich Italien begründet.
Immerhin damit hat das Italien des 21. Jahrhunderts Schluss gemacht. So scheint es zumindest, wenn man sich den Parteienstreit und die wachsende Kritik an dem Egomanen Silvio Berlusconi und seinem Regime ansieht. Doch Vorsicht: Erstens ist Berlusconi immer noch an der Macht, und zweitens sind die Stimmungen, die ihn dorthin gebracht haben, längst nicht verschwunden.
Der Kult des «starken Mannes» hat in Italien nach wie vor Konjunktur. Mit einem unwandelbaren «Volkscharakter» hat das nichts zu tun, wohl aber mit historischen Defiziten. Wer diese dunkle Seite der italienischen Geschichte verstehen will, sollte Antonio Gramsci lesen.
Der «Zug der Tausend»
Giuseppe Garibaldi (1807–1882), kämpfte in demokratisch-revolutionären Bewegungen – zunächst im Piemont, nach seiner erzwungenen Flucht dann in Südamerika. 1848 kehrte er zurück. Als Truppenführer im Unabhängigkeitskrieg Sardiniens gegen Österreich wurde er zum Nationalhelden.
Im Frühjahr 1860 riefen ihn sizilianische Aufständische gegen die Fremdherrschaft der Bourbonen zu Hilfe. Er sammelte ein Heer aus jungen Freiwilligen. Mit alten Waffen und wenig Munition machten sie sich in auf zwei Schiffen von Quarto bei Genua aus nach Süden. Am 11. Mai landeten sie auf Sizilien. Während sie auf Palermo zumarschierten, schlossen sich ihnen weitere 2000 Menschen an. Nach dreitägigem Kampf in Palermo kapitulierten die bourbonischen Truppen. Im Juni 1860 verliessen sie die Insel.
Im Februar 1861 mussten sie auch auf dem Festland vor den Garibaldinern und den regulären Truppen des Königreichs Sardinien-Piemont kapitulieren. Der Weg für die Gründung des italienischen Nationalstaats war frei. Vollzogen wurde sie am 17. März 1861 als Anschluss Siziliens und Süditaliens an Sardinien-Piemont.
Berlusconi im Film : Der kurze Weg von L’Aquila nach Draquila
Ein Lieferwagen fährt durch eine verlassene Stadt, gesteuert von einem Mann mit Helm. Alles ist eingezäunt, die Häuser sind zum Teil eingefallen, Trümmer liegen auf Strassen und in Vorgärten. In unregelmässigen Abständen brennt eine Strassenlampe, und durch geschlossene Fensterläden schimmert Licht.
Am 6. April 2009 um 3.32 Uhr hat in L’Aquila die Erde gebebt. Im Hauptort der gleichnamigen Provinz in den Abruzzen waren 308 Tote zu beklagen und mehr als tausend Verletzte. «Gott reicht Berlusconi die Hand», bemerkt jemand. Der berühmte Ausschnitt aus dem Deckenfresko von Michelangelo aus der Sixtinischen Kapelle wird eingeblendet. An der Stelle von Adams Kopf ist der von Berlusconi zu sehen.
Die Regisseurin Sabina Guzzanti tritt in ihrem Film «Draquila – L’Italia che trema» mit Berlusconi-Maske auf. Sie schwärmt von der sensationellen Einschaltquote des Erdbebens im Fernsehen. Der echte Berlusconi verlegt den für Juli geplanten G8-Gipfel, für den schon Millionen Euro aufgewendet wurden, von der Insel La Maddalena nach L’Aquila. Es soll ein positives Zeichen sein für die Tausenden aus L’Aquila, die in Zeltstädten untergebracht sind oder in einer Pension am Meer leben. Die Einschaltquoten bei den häufigen Besuchen Berlusconis im Erdbebengebiet sind beachtlich. Im Juli sonnt er sich zusammen mit Angela Merkel, Barack Obama, Carla Bruni und George Clooney im Erdbebengebiet. Diese Bilder gehen um die Welt.
Der im Off gesprochene Kommentar zu den Bildern klingt wie ein Märchen. Der Bevölkerung von L’Aquila wird eine neue Stadt versprochen. Recht wird durch Notrecht ersetzt und staatliches Geld unkontrolliert ausgeschüttet. Berlusconi gibt dem allmächtigen Zivilschutz freie Hand. Es gibt mächtig zu verdienen für seine Günstlinge. Das alte L’Aquila bleibt abgesperrt, und die Leute dürfen nicht in ihre früheren Häuser zurück. Für die Filmcrew gibt es keine Drehgenehmigung; sie werden vom Aufsichtspersonal massiv behindert, wenn sie versuchen, mit den Leuten in den Zeltstädten ins Gespräch zu kommen.
Guzzanti hat trotz dieser Widrigkeiten einen faszinierenden, wenn auch etwas langatmigen Film geschaffen. Ein älterer Mann bringt die Geschichte im Film auf den Punkt: «Italien ist eine Art Scheissdiktatur ohne Folter.»
Fredi Bosshard
«Draquila – L’Italia che trema». Italien 2010. Dokumentarfilm von Sabina Guzzanti. Ab 24. März 2011 in den Deutschschweizer Kinos.