Antonio Gramsci: «… sich nicht an jeder Dummheit begeistern»

Nr. 18 –

Der italienische Politiker, Journalist und Theoretiker Antonio Gramsci bleibt 75 Jahre nach seinem Tod ein wichtiger Bezugspunkt für die Linke. Nicht nur in Italien.

«Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens», hat Antonio Gramsci formuliert: Auch im Gefängnis wurde sein Widerstandsgeist nicht gebrochen. Illustration: Jon Viaz für den «Nouvel Observateur»

Am 27. April 1937 starb Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, Erneuerer des Marxismus und bis heute der weltweit am meisten diskutierte italienische Intellektuelle. Anlässlich des 75. Jahrestages wird in Italien und anderswo der tragischen Umstände seines Todes gedacht – Gramsci starb wenige Tage nach dem Ende seiner Haft im Alter von 46 Jahren. Mehr als zehn Jahre in der Gewalt der Faschisten hatten ihn körperlich zugrunde gerichtet. Die Erinnerung gilt zugleich seiner umfangreichen Hinterlassenschaft, die in diversen Neuauflagen verbreitet und auf Konferenzen diskutiert wird.

In Italien begann das Jahr 2012 zudem mit einem bizarren Historikerstreit um Gramsci. Der Linguist Franco Lo Piparo vertritt in seinem neuen Buch «I due carceri di Gramsci. La prigione fascista e il labirinto comunista» die These, Gramsci sei nicht nur ein Gefangener des Faschismus, sondern auch des «kommunistischen Labyrinths» gewesen, ein Opfer Stalins und Palmiro Togliattis, der dann bis zu seinem Tod 1964 die italienische KP führte. Beide hätten mit Gramsci einen lästigen Querdenker den Faschisten überlassen, obwohl sie ihn hätten retten können.

Noch heute angefeindet

Ähnliches wurde schon Ende der achtziger Jahre behauptet – und widerlegt. Neue Beweise gibt es in dieser Sache nicht, nur eine noch steilere These: Togliatti habe 1945 ein ihn kompromittierendes Schriftstück Gramscis verschwinden lassen, schreibt Lo Piparo. Der Historiker Dario Biocca fügte dem eine weitere Erfindung hinzu: Gramsci habe sich gegen Ende seiner Haftzeit den Faschisten unterworfen.

Tatsächlich beantragte Gramsci, unter Berufung auf einen Paragrafen im faschistischen Strafgesetzbuch, seine Freilassung auf Bewährung. Weil er die geforderte Reueerklärung nicht abgeben wollte, wurde das abgelehnt, vermutlich von höchster Stelle, von Benito Mussolini. Der hatte zuvor schon den von der Sowjetunion angebotenen Gefangenenaustausch verhindert, der Gramsci die Freiheit bringen sollte.

Eine dritte aktuelle Veröffentlichung gegen Gramsci scheint direkt aus der Zeit des Kalten Kriegs übernommen: In Alessandro Orsinis Buch «Gramsci e Turati. Le due sinistre» werden einige wenige Gramsci-Zitate so zugerichtet, dass sie dessen Urheber als beinharten Stalinisten erscheinen lassen. Dem Bösen stellt Orsini als Guten den Sozialisten Filippo Turati gegenüber, einen Mann der Reformen und der verbalen Mässigung.

Besondere Aufmerksamkeit erlangte dieses schlichte Gemälde in Schwarz-Weiss durch eine mehr als wohlwollende Rezension des Schriftstellers Roberto Saviano. Dieser gilt seit der Veröffentlichung seines Enthüllungsbuchs «Gomorrha» über die neapolitanische Mafia, die Camorra, als eine Art Volksheld. Sein Wort hat also Gewicht, zumal seine Rezension in der linksliberalen Tageszeitung «La Repubblica» erschien. Die hatte auch schon die Thesen von Lo Piparo und Biocca verbreitet, eine kontroverse Debatte darüber aber nicht zugelassen.

Gegenpositionen finden nur eine geringe Verbreitung, etwa in der von der Pleite bedrohten Tageszeitung «Il Manifesto» oder auf Internetseiten wie marx21.it oder gramscioggi.org. Hier wird Gramsci gegen Verunglimpfungen und Instrumentalisierungen verteidigt. In Einzelfällen kommt es dabei allerdings zu anderen Verzerrungen. Denn die orthodoxe kommunistische Sichtweise ist ebenfalls nicht unproblematisch. Ihr zufolge gibt es eine gerade Linie von Gramsci über Togliatti zu Enrico Berlinguer, dem Mitbegründer des «Eurokommunismus». Danach wäre Gramsci der Vordenker des «historischen Kompromisses» mit der Christdemokratie. Der aber endete im Desaster und war, von heute aus betrachtet, der Anfang vom Ende des «italienischen Weges zum Sozialismus».

Wie lässt sich Antonio Gramsci überhaupt fassen? Von seinen umfangreichen journalistischen Arbeiten ist nur das wenigste zugänglich, im Unterschied zu den zwischen 1929 und 1936 entstandenen 29 Gefängnisheften, die komplett ins Deutsche übersetzt vorliegen. Was sich wie ein roter Faden durch die Hefte zieht, sind Gedanken zur politischen und kulturellen «Hegemonie».

Die Frage, warum die Revolution in Russland, nicht aber im Westen siegte, beantwortet Gramsci auf verschiedenen Ebenen. Zunächst historisch: Schon in Heft 1 untersucht er die Geschichte Italiens im 19. Jahrhundert. Wegen der Schwäche des Bürgertums blieb der 1861 entstandene Nationalstaat ein bestenfalls halb demokratisches Gebilde. Die Hegemonie lag bei den Gemässigten, denen nationale Einheit wichtiger war als demokratische Freiheiten. Politische Initiative von unten war nicht vorgesehen (siehe WOZ Nr. 11/11 ).

Veralteter Sprachgebrauch

Aus der Untersuchung der italienischen Geschichte entwickelt Gramsci aber auch Elemente einer neuen marxistischen Staatstheorie, die über Wladimir Iljitsch Lenins «Staat und Revolution» (1917) hinausgeht. Für Gramsci ist der Staat mehr als ein Zwangsapparat zur Absicherung von Klassenherrschaft. Er unterscheidet Herrschaft und Führung, Zwang und Konsens, politische Gesellschaft und Zivilgesellschaft. Diese Unterscheidungen sind auch für die Umgestaltung der Gesellschaft von grösster Bedeutung: «Eine gesellschaftliche Gruppe kann und muss sogar bereits führend sein, bevor sie die Regierungsmacht erobert.»

Als Kind seiner Zeit verwendet Gramsci häufig Begriffe aus dem Militärischen. Dem schnellen «Bewegungskrieg» der Bolschewiki stellt er den langwierigen «Stellungskrieg» im Westen gegenüber; den Kampf um Einfluss in der Zivilgesellschaft vergleicht er mit der Eroberung von «Schützengräben» und «Kasematten», den unterirdischen Festungsgewölben.

Mehr noch als Gramscis Sprachgebrauch irritiert heute die immer wieder aufscheinende Perspektive auf die Eroberung der politischen Macht. Nach achtzehn Jahren Berlusconismus ist die Linke davon weiter entfernt denn je. Und doch ist Gramsci für sie alles andere als ein toter Hund – auch wenn seine Einsichten nicht ohne weiteres in Politik umsetzbar sind.

Es braucht einen langen Atem

Anwendbar sind seine Analyseinstrumente, etwa bei der kritischen Aufarbeitung der italienischen Geschichte. Deren dunkelste Phase, der Faschismus und das Bündnis mit Nazideutschland, wird in Gramscis Analyse nachvollziehbar: Der Kult der nationalen Einheit, der Mangel an Demokratie im neu gegründeten Nationalstaat machten den Faschismus zwar nicht unausweichlich, aber möglich. Das ist ein gewichtiger Einwand gegen die überwiegend heroisierende Darstellung der eigenen Vergangenheit, die das Jubiläumsjahr 2011 («150 Jahre Italien») prägte.

Auch die neuste Geschichte – die ja noch andauert – lässt sich mit Gramsci besser verstehen: der Berlusconismus. Hierüber finden in der italienischen Linken interessante Debatten statt. Handelt es sich dabei, wie beim Faschismus, um eine «passive Revolution» von oben?

Manche AutorInnen bezweifeln, dass der von Silvio Berlusconi angeführte Block überhaupt eine Hegemonie im Sinne Gramscis ausgeübt hat – hegemonialer Konsens sei mehr als die passive Zustimmung zu den Massnahmen der Regierung. Auch nach der Ersetzung von Berlusconi durch Mario Monti wird die Debatte weitergehen, ob in den vergangenen zwanzig Jahren ein «historischer Block» die Macht übernommen hat – ob also eine dominante Klasse die anderen Gesellschaftsschichten in ihre Hegemonie einbinden konnte. Oder ob Berlusconis Herrschaft doch nur ein instabiles Parteienbündnis war.

Auch im letzteren Fall ist eine Linkswende nicht absehbar. NeogramscianerInnen weisen darauf hin, dass die Linke ihre «kulturelle Hegemonie» schon lange vor der historischen Niederlage von 2008 verloren hatte. Ein häufig zitiertes Beispiel, das diesen Befund stützt, sind die ArbeiterInnen der linken Metallergewerkschaft Fiom, die entschlossen für ihre Interessen streiken, bei Wahlen aber für die Lega Nord stimmen.

In der Defensive kommt es für die italienische Linke darauf an, jede «Kasematte» zu verteidigen, etwa im aktuellen Historikerstreit. Folgt sie Gramsci, dann braucht sie einen langen Atem: «Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern.» Das schrieb Gramsci 1935, als er schon von schwerer Krankheit gezeichnet war. Der Eintrag endet mit der viel zitierten Losung: «Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.»

Die Gefängnishefte von Antonio Gramsci wurden auf Deutsch in zehn Bänden vom Hamburger Argument-Verlag veröffentlicht. Im Mai erscheinen sie in einer Taschenbuchausgabe, siehe www.argument.de.

«Hegemonie» : Wer beherrscht Köpfe und Körper?

Antonio Gramscis einflussreichster Begriff, die «Hegemonie», hat eine bemerkenswerte Wirkungsgeschichte hinter sich. In den siebziger und achtziger Jahren diente er gegen orthodoxe oder linksradikale Auffassungen dazu, die Mühen der Ebenen zu beschreiben: Um die Macht zu erringen, muss man auch um die Köpfe kämpfen; nicht nur Wirtschaft und Staat zu übernehmen versuchen, sondern in der Zivilgesellschaft eine führende Rolle spielen, in vielfältigen Bereichen wie Schule, Kirche, Sport oder Medien. Das war der Marsch durch die Institutionen, positiv gewendet. Diese Instanzen prägen das, was Gramsci «Alltagsphilosophie» nennt: Sie enthält disparate, auch widersprüchliche Elemente, die verbunden werden, damit wir im Alltag handeln können.

Mitte der achtziger Jahre entdeckten die Rechten das Konzept und übernahmen es für sich. Mit Erfolg: Der Neoliberalismus beanspruchte nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im Diskurs der Ideen die Führung. Jetzt wurde den Menschen der schrankenlose Individualismus eingehämmert und die Solidarität ausgetrieben. Der wirtschaftlichen Ich-AG, flexibler Arbeit und ortlosem Büro, die sich im Alltag breitmachen, entsprechen zivilgesellschaftliche Verhaltensweisen – der Drang nach apartem Individual- oder spektakulärem Abenteuertourismus etwa oder die zwanghafte Verfügbarkeit im Internet und am Handy.

An der Dominanz des Neoliberalismus hat die Finanzkrise nicht viel geändert. Ein Jahr lang war er in der Defensive, seither hat er sich erholt. Hegemoniale Strukturen und Alltagsphilosophien lassen sich nicht von einem Tag auf den andern umkrempeln. Die Börsensendung des Schweizer Fernsehens vor den Hauptnachrichten ist immer noch inhaltsleer, verkündet einzig den Sinn, dass die Börse undurchschaubar ist, aber letztlich recht hat und man dabei vielleicht sogar gewinnen kann. Dem entsprechen die zahllosen Spiel- und Quizshows und Dokusoaps, in denen jedeR den Aufstieg in der aufgedunsenen Konsum- und Spassgesellschaft schaffen kann.

In der zwinglianischen Finanzmetropole Zürich hat sich das Leistungsdenken schon in den Körper eingeschrieben: Bei keinem anderen Volksmarathon auf der Welt erreichen anteilmässig so viele TeilnehmerInnen Spitzenzeiten.
Stefan Howald