Andreas Spechtl und Ja, Panik: «Es ist andersrum: Wir sind allein»
In Deutschland und Österreich bejubelt das Feuilleton die Band Ja, Panik, während die Gruppe um Texter, Sänger und Gitarrist Andreas Spechtl (27) in der Schweiz noch immer als Geheimtipp gilt. Anlässlich des vierten Ja-Panik-Albums, «DMD KIU LIDT», erklärt Spechtl dem ehemaligen «Spex»-Chefredaktor Max Dax, wie seine Texte entstehen und weshalb Walter Benjamin und Bob Dylan wichtige Bezugspunkte sind.
WOZ: Andreas Spechtl, eine Schlüsselzeile des neuen Albums Ihrer Band Ja, Panik lautet: «Ich weiss noch, als er sagte, kurz vor Portbou: Sorry for my bad English, but my German is even worse.» Sie handelt vom Schriftsteller Walter Benjamin. Was interessiert Sie an ihm?
Andreas Spechtl: Walter Benjamin war auf der Flucht vor den Nazis, er schaffte es bis Portbou. Es geht um dieses aus meiner Sicht vielleicht traurigste Einzelschicksal des 20. Jahrhunderts. Anders als bei früheren Stücken musste ich, um über Walter Benjamin zu sprechen, keinen einzigen Satz von ihm zitieren oder verwerten, es geht vielmehr darum, klarzustellen, dass man zärtlich an ihn gedacht hat. Dafür reicht es, Portbou zu nennen, die Stadt, in der im September 1940 seine Flucht vor den Nazis kurz vor den Pyrenäen endete. Die Verzweiflung dieses Mannes liegt diesem Lied zugrunde.
Was berührt Sie am Schicksal Benjamins, der sich in Portbou wohl das Leben genommen hat?
Es handelt sich bei Benjamin um eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten, denen ich je in der Literatur begegnen durfte. Er verkörpert für mich jenseits seiner traurigen Geschichte, aber um sie wissend, die gelungenste Zusammenführung von Poesie und Wissenschaft. Niemand konnte diese zwei Disziplinen so zusammendenken wie Benjamin. Er hat sich nie aus der Wissenschaft herausgedacht. Er hat keinen Unterschied zwischen Form und Inhalt gemacht. Bei jedem wissenschaftlichen Text aus seiner Feder hat man stets das Gefühl, einen Lyriker zu lesen. Ich kenne niemanden, der zärtlicher zur Sprache gewesen ist als Walter Benjamin. Und das, obwohl er gar keine Gedichte geschrieben hat.
Welche Rolle spielt es für Sie, dass Benjamin vor den Nazis flüchtete? Dass sein Leben auf der Flucht und gewaltsam endete?
Benjamins Geschichte erfüllt mich auch deshalb so sehr mit tiefer Traurigkeit, weil er Sinnbild ist für so viel Ungeschriebenes, das von den Nazis aus der Welt getilgt wurde. Er floh mit seiner Mappe. Er hat bis zur letzten Stunde an seinen Thesen über die Geschichte geschrieben. An ihm wird die Barbarei so exemplarisch deutlich: Was wäre von ihm noch gekommen, wenn ihm seine Flucht gelungen wäre? An seiner Person wird der Raub der Zukunft so überdeutlich. Die Nazis haben nicht nur Kultur und Menschen zerstört, sie haben auch das Ungeschriebene, das Ungeborene vernichtet.
Sie betrachten sich nicht als «Spätgeborenen», den die Verbrechen der Nazis im Grunde «nichts angehen»?
Genau. Immerzu heisst es doch, man müsse doch mal endlich in der Lage sein, einen Schlussstrich unter «diese Sache» der Grosseltern oder gar der Urgrosseltern zu ziehen. Aber das ist eben nicht der Punkt. Die Geschichte hat mich hierhergebracht, an den Punkt, an dem ich mich befinde. Und von dieser Geschichte will ich mich auch nicht lösen. Und unabhängig davon lebt diese Nazigeschichte ja fort. Keime und Auswüchse dieser Gedanken sehe ich heute überall. Sie sind subtiler gestaltet, sie sind «umgedacht» worden, klar. Aber abgeschlossen ist gar nichts. Und nur weil die Nazis für die extremsten uns bekannten Ausformungen von Verbrechen stehen, heisst dies ja noch lange nicht, dass sie nicht wieder geschehen könnten – bloss weil heute subtiler als damals vorgegangen wird. Ich glaube, dass sich Geschichte jederzeit wiederholen kann. Und gerade deswegen darf man damit nicht abschliessen, muss man immer weiter darüber sprechen. Das definiert für mich ein Stück weit auch die Rolle des Künstlers, und sei es die eines Sängers von Popmusik, wie ich einer bin.
Sprechen Sie da auch als Österreicher, als Wiener?
Man mag von der deutschen Aufarbeitung des Nationalsozialismus halten, was man will, aber zumindest hat es eine Form von Aufarbeitung gegeben. In Österreich hält man sich nach wie vor für das «erste Opfer» Adolf Hitlers. Obwohl sie alle auf dem Heldenplatz gejubelt haben wie die Wahnsinnigen, als Hitler 1938 den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich verkündete. Das österreichische Selbstverständnis fusst ja zu einem guten Teil darauf, dass man den Adolf ja sogar von der Universität ausgeschlossen, ihn gewissermassen nach München verjagt habe. Und das ist eine Selbstlüge sondergleichen. Deswegen ist es ja auch so notwendig, sein Geschichtsbewusstsein mit sich zu tragen. Gar nicht nur konkret auf diese Epoche bezogen. Sondern allgemeiner gesprochen: Wir dürfen uns nichts vormachen.
Unsere Epoche ist geprägt vom Bewusstsein, dass es eine Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt.
Aber das Versprechen von Zukunft ist doch die Unberechenbarkeit. Mit der Vergangenheit arbeiten und die Erkenntnisse im Jetzt lenken – ja. Aber müssen wir nicht auch ein Stück weit wieder lernen, die offenen Enden der Zukunft zuzulassen? Etwas nicht Abgeschlossenes zu akzeptieren? Die Weiterentwicklung der Gedanken ist mein treibendes Moment, mein Antrieb. Darum geht es. Und natürlich sind wir dann sehr bald bei den Situationisten, die Gedanken radikal weitergedacht haben. Und dann sind wir auch sehr bald bei der Urheberfrage, wenn wir nämlich aufbauen auf den Gedanken Dritter. Sind es dann noch unsere Gedanken? Kann ich mich nicht an den Geschichten und Formulierungen bedienen, denn es gibt doch bereits alles? Muss ich als Künstler noch Quellen angeben, muss ich mich rechtfertigen, wenn ich mich auf etwas berufe? Ich auf alle Fälle versuche aus dem Bewusstsein eines kollektiven Eigentums heraus zu agieren. Wenn man die Geschichte auch als Steinbruch ansieht, als Gemeineigentum, dann kann man auch von einem ideengeschichtlichen, literarischen Allgemeingut sprechen.
Beneiden Sie die US-Amerikaner um die Selbstverständlichkeit, mit der sie Überschreibungen zulassen? Wenn ein Sänger dort einen Blues von Robert Johnson nehmen und einen neuen Text darübersingen kann – und die Zusammenführung als seine eigene gedankliche Leistung deklarieren kann?
Man nimmt es sich einfach. Diese Haltung kommt einer Selbstermächtigung gleich. Das ist etwas typisch US-Amerikanisches. Das Prinzip basiert auf der Wiederholung – und jeder darf sich aus dem kollektiven Zeichenfundus bedienen. Aber beneiden tue ich die US-Amerikaner deshalb nicht notwendigerweise. Ich verhalte mich ja ähnlich wie sie, auch wenn dieses Prinzip für mich als Wahlberliner vielleicht nicht so selbstverständlich sein mag. Auch wenn ich mich für meine Technik hierzulande viel mehr erklären muss als beispielsweise ein Bob Dylan.
Ihr neues Album «DMD KIU LIDT» wurde bereits vor der Veröffentlichung zur potenziell wichtigsten deutschsprachigen Platte des Jahres hochgeschrieben. Wie fühlt sich das an, mit einem Mal bemerkt zu werden, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen?
Dieses Bewusstsein verändert etwas in einem, ganz klar. Es war vor Beginn der Aufnahmen klar, dass man uns ganz genau auf die Finger oder die Wörter gucken würde, sobald unser neues Album erschienen ist. Das haben wir aber versucht, positiv zu wenden: Es ist doch toll, wenn man wahrgenommen wird. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich dann Fragen. In welche Richtung gehe ich, wenn ich am Scheideweg stehe?
Konkret?
Für Ja, Panik als Band bedeutete es, dass wir jetzt oder nie ausscheren müssen – es kann nicht um Verfeinerung gehen, wenn man weiss, dass man unter Beobachtung steht. Etwas zu perfektionieren, an dem wir uns die letzten Jahre abgearbeitet haben – diese Option schied aus.
Verlässlichkeit ist eine Horrorvorstellung?
Ja. Ich habe längst geklaut, was ich zu klauen hatte. Weiterklauen, das Aufbrausen, das Dringliche zu formulieren – das war als Weg nicht mehr reizvoll. Damit will ich nicht sagen, dass unser neues Album nicht dringlich sei und dass wir nicht geklaut hätten. Wir haben uns lediglich aus der Referenzhölle hinausbewegt. Wo ich mich bis vor kurzem – bildlich gesprochen – überdeutlich und zu dick geschminkt hatte, muss jetzt der eine, sitzende Kajalstrich genügen. Aber das wird Ihnen jede Kosmetikerin von Klasse bestätigen: Es kommt darauf an, den Eingriff richtig zu setzen. Und nicht, wie man in Österreich sagt, den Leuten «mit dem Arsch ins Gesicht fahren». Es ging darum, eine gewisse Eleganz in die Sache zu bringen.
Im Sinne einer Rückbesinnung: Ein Song muss – wie Depeche Mode es sagen – auf der Akustikgitarre spielbar sein, um ein wirklich guter Song zu sein?
Im Sinne eines Widerstandes gegen die Feigheit: ja. Es ist leicht, sich als Sänger hinter Arrangements oder Referenzen in Texten zu verstecken. Wenn Lieder zu Kunstfiguren werden, dann bekommen sie im schlimmsten Falle etwas Starres, Unveränderbares. Wir haben erkannt, dass wir die grosse Chance, all dies aufzubrechen, in unseren eigenen Händen hielten. Und das Tolle ist: Einen Wunsch nach Natürlichkeit zu formulieren, ist bereits so künstlich, künstlicher geht es gar nicht mehr.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang ein Begriff wie der der «Unfertigkeit»? Ihre Songs klingen oft «unfertig», wie Prototypen.
Unser Album endet mit dem Song «DMD KIU LIDT» – «Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit.» Die letzte Zeile des Songs lautet: «Die wichtigsten Strophen kommen jetzt noch.» Der Song ist eine Kreuzung von Falcos «Jeannie» und Bob Dylans «Sad Eyed Lady of the Lowlands» von seinem Album «Blonde on Blonde». Nicht zufällig ist «DMD KIU LIDT» annähernd so lang wie Dylans Stück, und auf der Vinylausgabe unseres Albums nimmt dieser Song folgerichtig auch die gesamte D-Seite ein. Es gibt gewissermassen die vierzehn Stücke vor diesem Stück und das eine anschliessende. Diese vorangegangenen vierzehn Stücke bekommen erst durch das Titelstück ihre eigentliche Bestimmung. Es geht in den neuen Songs um Drama, um Selbstmord, um Vereinzelung, es gibt Anti-Lovesongs – das ganze Repertoire. Und im letzten Stück geht es um den Ursprung, die Traurigkeit, und um die Frage, wie allein wir wirklich in der Welt stehen.
Dylan hat seinen Studiomusikern in Nashville damals aufgetragen, sie sollten den Song so lange spielen, bis er ihnen das Zeichen zum Aufhören gibt – das erst nach über zwölf Minuten kam. Haben Sie auch diese Aufnahmesituation zu emulieren versucht?
Wir haben das Stück im Studio dreimal eingespielt. Die letzte Version war die perfekteste, aber wir haben die erste Version genommen. Tatsächlich wussten die anderen Bandmitglieder nicht, wie viel Text ich geschrieben hatte.
Wie kamen Sie auf den Titel?
Der Titel ist für sich genommen Poesie. Und Poesie muss man nicht erklären. Man muss sie annehmen und sich an ihr abarbeiten. Den – wie ich finde – sehr schönen Titel kann man auseinandernehmen, oder man kann sich in ihn hineinfallen lassen.
Und dann folgen im Sinne des US-amerikanischen Komponisten John Cage zehn Minuten Stille, nachdem der Song aufhört ...
Genau. Das Wichtigste kommt noch. Durchaus in einem ganz profanen Sinn: Wir haben viele Songs so belassen, wie wir sie im ersten Take aufgenommen haben. Mit allen kleinen Fehlern im Detail. Wir begeben uns somit in eine ganz neue Situation, wenn wir beispielsweise über den Aspekt der Livekonzerte sprechen. Es kann auf der Bühne nicht darum gehen, diese kleinen Fehler zu reproduzieren. Wir sind gefordert, in Versionen zu handeln. Das, was Sie als «Unfertigkeit» bezeichnen, würde ich als Freiraum definieren wollen. Einen Freiraum freilich, den man sich erarbeiten muss. Es ist gar nicht so leicht, seine eigenen Stücke selbst interpretieren zu können. Viele unserer Songs und viele Songs anderer Sänger sind erstarrt in Korsetts und Arrangements. Man kann aus ihnen gar nicht ausbrechen.
Dem muss man strukturell begegnen?
Es genügt doch, sich selbst einzugestehen: Es reicht mir, wenn ein Song das Beispiel eines Songs ist. Die Struktur hiesse gewissermassen, dass es sich um Momentaufnahmen handelt. Die Leistung von Ja, Panik besteht darin, diese Momentaufnahmen als solche zu akzeptieren und sie nicht perfektionieren zu wollen.
Sie gelten als grosser Bewunderer der Techniken Bob Dylans. Sein spätes Verdienst liegt unter anderem darin, als performativer Künstler nie zu reproduzieren, stets neue Versionen vermeintlich altbekannter Songs durchzuspielen – und somit die Gefahr eines Stillstands zu umgehen.
Dylan ist ein Paradebeispiel dafür, dass man auf einen Künstler blicken und ihn vielleicht in seiner Methodik auch ein bisschen durchschauen kann. Dann kann man sozusagen Songs aus einer Harmonieprogression heraus begreifen, als wandelbare Formen. Sich an einer Person wie Dylan abzuarbeiten, ist gewinnbringend. Ich muss es ganz einfach sagen: Mir war es ein grosses Bedürfnis, meine Songs als Sänger auch selbst spielen zu können. Das mag wie eine Binsenweisheit klingen, aber es macht einen Unterschied, ob man seine eigenen Lieder auch als Sänger auf der Strasse spielen kann – oder eben nicht. Eigentlich ist die Lehre Dylans die von der Dekonstruktion. Dass man jedes Lied auf seine Idee herunterbrechen können muss.
Sie treten seit einiger Zeit oft gemeinsam mit dem Sänger Hans Unstern auf, der wie Sie als Modernist gilt, als Überwinder überkommenen Songwritings. Unstern war lange Jahre Strassenmusiker. Inwieweit hatte er einen Einfluss auf Sie?
Ich selbst war nie Strassenmusiker. Ich habe mich auch nie als Songwriter gesehen, eher schon als Bastler, der Texte geschrieben hat und Musik dazu bastelte. Das zu überwinden, war mir wichtig. Und tatsächlich hat Hans Unstern dabei eine gewichtige Rolle gespielt. Das fängt damit an, dass das Songschreiben seit dieser Übverwindung eine weit einsamere Angelegenheit darstellte. Und dann sitzt man da in der hintersten Sitzreihe des Tourbusses, während man durch die deutschsprachigen Territorien fährt, man schreibt und spielt Akkorde auf der Gitarre, und dann kommt Hans Unstern von vorne im Bus bis ganz nach hinten und klinkt sich ein, reagiert auf Akkorde, die ich spiele. Als einstiger Strassenmusiker hat der Mann einfach ein ganz anderes Repertoire, ganz andere Erinnerungen, und seien es Akkorde, auf die er zurückgreifen kann. Und da fiel mir auf: Ich habe ja gar keine eigenen Songs. Und das wollte ich unbedingt ändern. Ich wollte, bei aller Bewunderung, eben nicht so sein wie Falco, der vermutlich nicht imstande war, die Songs seiner Platte «Junge Römer» selbst auf der Gitarre zu spielen, und sei es im kleinsten, privaten Kreis.
Es gibt den Begriff der «Living Juke Box» – der auf Woody Guthrie, Ramblin Jack Elliott und nicht zuletzt auf Dylan zutraf. Man könnte auch sagen: Die bewegten sich in einer Szene, in einer Familie. Wie wichtig ist es, eine Familie von Gleichgesinnten um sich zu haben?
Wir, die Band Ja, Panik, sind nicht ohne Grund nach Berlin ausgewandert. Wir wussten, dass wir in dieser Stadt etwas finden würden, das es so in Wien nicht gegeben hat – eine Szene oder eine Familie. In Berlin arbeitete ich quasi vom ersten Tag an mit Christiane Rösinger und Hans Unstern zusammen. Wir haben uns in der Folge unseren Raum geschaffen, in dem verlässlich etwas passiert.
Hätten Sie «Die Manifestation des Kapitalismus in unseren Leben ist die Traurigkeit» auch in Wien schreiben können?
Nein, glaube ich nicht. Das ist unsere Berlin-Platte. Das wesentliche Merkmal unserer Musik und unserer Texte ist, dass es sich um Lieder handelt, die von einem Städter geschrieben wurden. Auf dem Land hätten diese Songs nicht entstehen können. Ton, Steine, Scherben meinen ja: «Wir sind zwei von Millionen, wir sind nicht allein.» Doch ist es nicht gerade andersrum, sind wir nicht gerade alleine, weil wir zwei von Millionen sind? Das ist, auf einen Satz gebracht, die Reibungsfläche, auf der sich Ja, Panik heute bewegen. Das herausstechendste Merkmal der Grossstadt ist die Vereinzelung. Ganze Erzählungen lassen sich aus dieser Grundproblematik herauslösen.
Hat es Sie nicht gereizt, in einen Moloch zu ziehen, in dem die Vereinzelung noch spürbarer ist – Los Angeles, Moskau?
In beiden Fällen hätte sich für mich das Problem der Sprache ganz anders gestellt. Aber wer sagt denn, dass ich in zwei Jahren noch in Berlin leben werde? Viel entscheidender ist doch die Frage, an der sich alles bricht: Wie ist es möglich, dass sich die Individuen in einer Stadtsituation, in der Millionen von Menschen auf engstem Raum leben, derart atomisieren können? Was für ein schlauer Kniff der Herrschenden ist das? Wie funktioniert der Mensch, dieses Rudeltier? Die Frage, wo im Sozialen der Fehler eingebaut ist, die kann man ganz einfach stellen. Die Antwort auf diese Frage hingegen ist ausserordentlich schwer. Sie kann doch nicht lauten: Der Mensch ist schlecht, oder?
Commissaire Mattei bekommt in Jean-Pierre Melvilles französischem Kriminalfilm «Vier im roten Kreis» aus dem Jahr 1970 von seinem Vorgesetzten zu hören: «Alle Menschen sind schuldig.» Als Polizist müsse man ihnen gewissermassen nur zuvorkommen ...
Nicht umsonst ist dieser Film so gross und überstrahlend. Zwar stimme ich dem Polizeichef nicht zu, aber festzustellen ist, dass wir Menschen schlecht programmiert sind.
Fast alle Philosophen sagen: Deshalb braucht der Mensch ein System, das ihn hält.
Und deshalb sage ich: Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit.
Ja, Panik: «DMD KIU LIDT» : Sie schlagen Türen auf
Nach zwei hochgelobten Alben voller Zitatpatchworks sind die Spuren und Anknüpfungspunkte auf dem neuesten Ja-Panik-Werk «DMD KIU LIDT» weniger konkret gelegt. Auch live will sich die Band Freiräume schaffen.
Es ist kein Geheimnis mehr: Die von Wien ins Berliner Exil gezogene Rockgruppe Ja, Panik ist im godardschen Sinne die «bande apart», die Aussenseiterbande der Stunde. Seit drei Jahren in Folge übertrifft das Quintett um Sänger und Gitarrist Andreas Spechtl alle Erwartungen. Radikal wie kein Zweiter fordert Spechtl die deutsche (und die englische) Sprache heraus. Bis dato arbeitete Spechtl mit Versatzstücken, die er sich aus Texten anderer Sänger und aus Büchern aneignete oder schlicht klaute. Er tat dies allerdings stets so kleinteilig und weitreichend, dass seine Sprachpuzzles weit mehr ergaben als die Summe ihrer Bestandteile. Geprägt von den Dadaisten, den Situationisten, von Walter Benjamin, Gilles Deleuze und Alexander Kluge, bestachen Spechtl und Ja, Panik mit ihren letzen Alben vor allem durch die Arbeit am Wortwerk. Freie Adaption, «cut and paste», Aneignung und Überschreibung – die Begriffe, mit denen man Ja, Panik beschreiben muss, sind die Schlüsseltermini der Postmoderne.
Neues Album, neuer Ansatz
«The Taste and the Money» und «The Angst and the Money» waren die Titel der beiden Alben, die Ja, Panik nach einem öden ersten Werk zu den Lichtgestalten machte, als die sie dieser Tage von allen relevanten Feuilletons und Musikzeitschriften Deutschlands und Österreichs kategorisiert werden. Denn zu den virtuosen Textcollagen gesellte sich in den Ja-Panik-Songs stets auch eine Dringlichkeit in der musikalischen Performance, wie man sie zuletzt in den ungeschliffenen Alben der frühen Kolossalen Jugend und der frühen Blumfeld hörte. Statt Zitatpatchworks zu stricken, spinnt Andreas Spechtl sein Referenzuniversum auf dem am 15. April unter dem Titel «DMD KIU LIDT» (Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit) erscheinenden vierten Album der Band emotionaler und assoziativer. Melodien, Städtenamen und die Nennung echter und fiktiver Namen von Figuren aus der Literatur und aus Songs müssen seit Neuestem ausreichen, um schlussendlich zum gleichen Ergebnis zu kommen. Und das ist am leichtesten umschrieben, wenn man den Begriff des «Erkenntnisgewinns» in die Arena wirft. Einen solchen liefert jeder einzelne Text der fünfzehn neuen Songs.
Spechtls Texte entstehen nicht im luftleeren Raum. In Berlin scharte der 27-Jährige ein kleines, aber feines Umfeld um sich, das einer eigenen Gesellschaft mit eigener Moral gleichkommt, einer Szene, die es wissen will: Neben der renommierten Songwriterin Christiane Rösinger (ehemals Lassie Singers und Britta) sowie dem Sänger und Musikjournalisten Maurice Summen (Die Türen) besteht dieser Miniaturversuchsaufbau noch aus dem Songwriter Hans Unstern, dem deutschsprachigen Paul-Celan-Fan und Shootingstar des Berliner Undergrounds. Sie alle helfen sich aus und inspirieren einander.
Wir erleben mit Ja, Panik einen Idealfall sprachlicher Radikalität, die zugleich in jeder Livesituation «abgeht». Statt dem musikalischen Trend unserer Zeit zu folgen und kunstfertigste Frickelarbeit im Detail abzuliefern, bringen Ja, Panik auf «DMD KIU LIDT» fast nur Jams: Jeder der fünfzehn neuen Songs weist genau ein musikalisches Motiv auf, wirkt wie eine Demoversion eines noch einzuspielenden Stücks.
Perfekte Skizzen
Das wirkt beim ersten bis dritten Hören unfertig und vielleicht unbefriedigend. Doch seltsamerweise setzt dann, bei jedem erneuten Hören des Albums, eine neue Selbstverständlichkeit ein: Diese Songs sind Skizzen, perfekt aufgenommen und wunderbar hörbar, sie sind Skizzen, die weiter reichen als ihr Horizont.
In Zeiten, in denen angesichts schwindender Tonträgerverkäufe Live-Performances einen zunehmenden Stellenwert bekommen, ist es enorm wichtig, sich als Band für ebendiese Konzertsituationen ein Variationspotenzial zu erhalten. Neben der zukunftsweisenden Strukturiertheit des neuen Ja-Panik-Albums gibt es in den Frei- und Zwischenräumen von «DMD KIU LIDT» die Möglichkeitsebene zukünftiger Live-Improvisationen.
Wann hatten wir zuletzt ein deutschsprachiges Album, das Türen in alle Richtungen aufschlug?
Max Dax