Swetlana Alexijewitsch: «Es müsste hundert Tschernobyl geben ...»

Nr. 16 –

Sie hat eines der eindrücklichsten Bücher über die Folgen der AKW-Katastrophe geschrieben. Eigentlich habe man Tschernobyl immer noch nicht verstanden, resümiert Swetlana Alexijewitsch.


WOZ: Gibt es überhaupt noch etwas Neues zu Tschernobyl zu sagen?

Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl wird im Grunde reduziert auf medizinische und politische Fragen. Die sind ausreichend behandelt worden. Was jedoch meiner Ansicht nach fehlt, ist die philosophische Dimension. Tschernobyl ist eine Herausforderung, die uns zeigt: Das ist unsere Zukunft, eine Zukunft, die wir selbst produzieren. Und wir sind dem technologischen Fortschritt, den wir sehr stark vorantreiben, intellektuell und moralisch nicht gewachsen. Wir produzieren da etwas, das unseren Händen entgleitet. Und wir denken nicht darüber nach. Wir müssen Tschernobyl begreifen als etwas, das uns in der Zukunft bedroht.

Wie meinen Sie das?

Die radioaktive Wolke von Tschernobyl stand über ganz Europa. Sie hat uns gezeigt, dass der Mensch Dinge entfesselt, die er nicht beherrscht und vor denen er sich nachher auch nicht schützen kann. Als ich das erste Mal nach Tschernobyl kam, habe ich Hunderte von Soldaten gesehen, schwerbewaffnet mit Maschinenpistolen. Es wurden extra Flugzeuge aus Afghanistan zurückgeholt, mit schweren Maschinengewehren an Bord. Völlig unangemessene Mittel zur Bekämpfung einer solchen Katastrophe. Gegen wen sollten diese Waffen gerichtet werden?

... und wieso ausgerechnet Waffen?

Wir gehen immer noch vom Konzept der Aufklärung aus: Der Mensch ist Herrscher über die Natur. Wir handeln nach dem Muster, dass eigentlich Gewalt das herrschende Prinzip ist. Gewalt, die der Mensch und seine Technologie der Natur antut, die der Mensch anderen Menschen antut. Aber das ist eine Sackgasse, aus der wir nicht mehr herauskommen. Man müsste umdenken, und es müsste ein neues Wertesystem gefunden werden. Ein Wertesystem, das den Menschen einbindet, sodass der Mensch sich nicht über diesem System befindet, sondern darin eingebunden ist.

Was müsste denn geschehen, damit wir eine Lehre aus der Katastrophe von Tschernobyl ziehen?

Einer unserer Philosophen hat auf diese Frage geantwortet: Es müsste hundert Tschernobyl geben – dann wären wir vielleicht so weit. Dann hätten wir eine Kultur der Verarbeitung einer solchen Katastrophe, und dann würden vielleicht auch Lehren daraus gezogen. Es geht darum, dass wir lernen, behutsamer und vorsichtiger mit dem Leben auf der Erde umzugehen, generell.

Wenn Sie «wir» sagen – wen meinen Sie genau? Reden Sie von einer quasi östlichen Perspektive auf Tschernobyl? Und unterscheidet sich diese von einer westlichen Sicht?

Ja, leider existieren da ganz verschiedene Sichtweisen. Im Westen gibt es schon seit vielen Jahren die grüne Bewegung, eine gewisse ökologische Kultur. Bei uns im Osten, zum Beispiel bei uns in Belarus, ist die Sicht auf das Leben leider noch immer eine ganz andere. Unsere Bevölkerung ist daran gewöhnt, dass es immer viele Tote gegeben hat. Im Krieg sind Millionen Menschen umgekommen. In den Lagern, im Gulag sind Millionen Menschen umgekommen. Ein Menschenleben hat bei uns stets wenig gezählt.

Ein Menschenleben zählt wenig?

Der Mensch ist ist nicht der Dreh- und Angelpunkt allen Denkens, der Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Ausserdem setzen Katastrophen wie Tschernobyl die Traditionen des Heldentums fort: Ein Liquidator, ein Feuerwehrmann, der auf dem Dach des explodierten Reaktors mit blossen Händen Grafit sammelt, ist ein Held. Dieses Heldentum wurde in unserer Gesellschaft immer gefördert, und es hatte einen gewissen Status. Andererseits zeigt die Tatsache, dass man jemanden mit blossen Händen das hochgefährliche Material einsammeln lässt, wie gleichgültig die Gesellschaft, der Staat dem menschlichen Leben gegenübersteht.

Der Gründer der Liquidatorenvereinigung, mit dem ich gesprochen habe, verwendete, wenn er von verstorbenen Kollegen sprach, den Ausdruck «gefallen», wie im Krieg. Aber was ist mit der Zivilbevölkerung, mit den Frauen?

Ich habe in Tschernobyl ebenfalls mit Liquidatoren gesprochen. Die verrichteten tagsüber ihre Arbeit. Am Abend sassen wir zusammen, es gab zu essen, es gab Wodka, und es wurde viel geredet. Da gab es eine Frau, die servierte. Plötzlich rutschte ihr ein Ärmel hoch. Und da sah ich, dass ihre Arme voller Geschwüre waren. Ich fragte sie: «Was ist denn das?» – «Na ja, wir sind die Wäscherinnen. Wir hatten russische Waschmaschinen, die sind aber sehr schnell kaputtgegangen. Jetzt müssen wir alles von Hand waschen. Die Liquidatoren müssen ja jeden Tag saubere Anzüge tragen.» Und ich fragte: «Wie können Sie denn das mit blossen Händen machen? Sie müssen doch an ihre Kinder, ihre Familie denken, sie sind doch noch junge Frauen.» – «Ach, wir müssen immer hin und her rennen, Eingaben machen, fordern, verlangen ... Dann passiert doch nichts.» Und ich sagte zu ihnen: «Dann müssen Sie eben streiken, so geht das doch nicht; Sie müssen neue Waschmaschinen verlangen.» Doch die Möglichkeit, irgendetwas von Obrigkeiten zu fordern, wurde überhaupt nicht in Betracht gezogen.

Gibt es so etwas wie eine weibliche Sicht auf Tschernobyl?

Die Hauptlast, die Frauen zu tragen hatten, war das Sichern des Überlebens: Was darf man essen? Was darf man nicht essen? Selbst das Brennholz musste gewaschen werden. Kartoffeln mussten dreimal mit reinem Wasser gewaschen werden, um sie überhaupt essbar zu machen. Oder es wurden Lebensmittel vergraben, Eier, Milch, die man eben nicht essen durfte, weil sie zu verstrahlt waren. Das waren alles Dinge, um die sich die Frauen kümmerten. Auf die Kinder aufpassen, sie nicht auf die Strasse rauslassen. Sie durften nur auf asphaltierten Wegen gehen, die dekontaminiert waren.

Reagierten die Frauen aufgrund dieser Erfahrung anders als die Männer auf die Bedrohung durch die radioaktive Strahlung?

Mit Tschernobyl gab es plötzlich einen Feind, den man nicht sehen, nicht anfassen, nicht riechen, nicht schmecken konnte. Der Feind, das waren kontaminierte Erde, kontaminiertes Gemüse, Obst. Und die Frauen haben sehr genau hingeschaut, sehr genau beobachtet, um in dieser Situation zu überleben. Männer konnten mit der Situation sehr schwer umgehen: Sie brauchen einen Feind, der einen Helm trägt und eine Waffe in der Hand hat. Die Männer waren relativ unflexibel und konnten sich wenig an die Situation anpassen.

Viele sind hart mit Michail Gorbatschow ins Gericht gegangen, damals Generalsekretär der KPdSU. Man warf ihm vor, er habe versagt, die Leute nicht informiert. Er selbst sagt, dass auch er nicht informiert worden und von der Situation schlicht überfordert gewesen sei ...

Ich denke, es gibt hier zwei Wahrheiten. Gorbatschow stand damals an der Spitze des kommunistischen Systems. So gesehen, war er persönlich verantwortlich für alles, was passierte. Andererseits war diese Regierung eine relativ ungebildete, vor allem in Fragen der Kernphysik. Wenn wir bedenken, dass erst ein oder zwei Tage nach der Katastrophe Physiker nach Tschernobyl geschickt wurden ... Die hatten nicht mal Rasierzeug dabei. Denen war überhaupt nicht klar, wo sie hinfahren und was für ein Ausmass das hat. Und ich denke, dass das auch für Gorbatschow gilt. Dass dieses absolut Neue, mit dem man konfrontiert war, die Leute völlig hilflos machte.

Trotzdem gibt es Verantwortliche, Schuldige. Doch ausser dem Direktor des Kernkraftwerks und einigen seiner Mitarbeiter ist nie jemand zur Verantwortung gezogen worden. Warum?

Dass niemand zur Verantwortung gezogen wird, betrifft ja leider nicht nur Tschernobyl. Auch für den Gulag wurde niemand zur Verantwortung gezogen. Hinzu kommt, dass das Land in der Zeit um 1991, als Boris Jelzin an die Macht kam, am Rande eines Bürgerkriegs stand. Man hatte wohl Angst, dass es zu einer enormen Spaltung des Landes führte, würde man anfangen, die kommunistische Partei für die verschiedensten Dinge zur Verantwortung zu ziehen. Abgesehen davon sitzen dieselben Leute heute wieder in anderen Strukturen drin. Bei uns ist die Vergangenheit ganz generell nie aufgearbeitet, nie bewältigt worden.

Auf meiner Reise durch Belarus suchte ich nach Spuren von Tschernobyl. Und ich gewann den Eindruck, dass die Katastrophe langsam vergessen wird und bei der jüngsten Generation kein Thema mehr ist. Teilen Sie diesen Eindruck?

Na ja, wir werden noch Aberhunderte von Jahren mit den Folgen von Tschernobyl leben müssen. Andererseits ist Tschernobyl ein Ereignis, das im belarussischen Fernsehen nicht mehr stattfindet, weil es als Thema verboten ist. Dass die Menschen nicht mehr darüber reden, ist ein Ergebnis der langen Amtszeit und der Politik von Präsident Alexander Lukaschenko. Wenn bei uns in Belarus eine Zivilgesellschaft existierte, gäbe es so etwas wie eine Organisation der Mütter, deren Kinder wegen Tschernobyl gestorben sind. Es gäbe eine Bewegung der Liquidatoren. Und zwar eine andere als die heutige offizielle, die höchstens mal jemandem helfen kann, zu Medikamenten oder ins Krankenhaus zu kommen. Wenn es all das gäbe, auch eine ökologische Bewegung, eine Anti-AKW-Bewegung, dann würde jemand die Erinnerung an Tschernobyl wachhalten. Aber wo ist die Kraft, die das in der Gesellschaft bewirken könnte?

Hat Tschernobyl in Belarus denn gar nichts verändert?

Offiziell hat sic h gar nichts verändert. Lukaschenko plant den Bau eines neuen Kernkraftwerks. Und jetzt verfolgt er auch noch eine Idee, die in der Ukraine schon eine ganze Weile funktioniert: Er will Touristen in die Dreissigkilometerzone führen. Als Touristenattraktion. Um Geld zu machen mit der Angst.


Swetlana Alexijewitsch

Die weissrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch (62) ist eine bedeutende Vertreterin der Protokollliteratur. Bekannt wurde sie mit «Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft» (1997), das eben mit einem Vorwort zu Fukushima neu aufgelegt wurde. Das Interview mit Alexijewitsch wird in «Tschernobyl für immer» erscheinen, das im Herbst im Lenos-Verlag herauskommt (siehe www.peterjaeggi.ch).