30 Jahre nach dem Super-GAU in Tschernobyl: Blühender Tourismus und ein AKW-Neubau
Dreissig Jahre nachdem der Reaktor in Tschernobyl explodierte, ist die Sperrzone zur TouristInnenattraktion geworden. Und Weissrussland baut an einem grossen AKW, was den Nachbarn Litauen sehr verärgert. Eine Reise, zwei Destinationen, drei Erkenntnisse.
Es wird eine Reise von AKW zu AKW – von Tschernobyl im Norden der Ukraine an der weissrussischen Grenze nach Ostrowets im Norden Weissrusslands, gleich an der litauischen Grenze. Als vor dreissig Jahren der Reaktor in Tschernobyl explodierte, ging ein Grossteil des radioaktiven Niederschlags über Weissrussland nieder.
Erste Destination: Tschernobyl
Heute ist Tschernobyl vor allem eines: eine TouristInnenattraktion. Man kann bei verschiedenen Anbietern eine Tour buchen. Chernobyl Tours ist einer der grössten und wichtigsten Veranstalter. Eine Tagestour kostet umgerechnet rund hundert Franken. Man kann aber auch eine Zwei-, Drei- oder Siebentagestour buchen mit Hotelübernachtung im Städtchen Tschernobyl.
An diesem Morgen warten hinter dem Bahnhof Kiew drei Minibusse von Chernobyl Tours.
Eigentlich heisse er Schenja, aber für die AusländerInnen sei es einfacher, ihn Johnny zu nennen, sagt er. Johnny wird uns an diesem Tag durch die Sperrzone begleiten. Wir – das sind ein Belgier, zwei Spanier, ein Neuseeländer, ein Paar aus den Staaten, zwei ältere Briten, ein junger Brite mit zwei ukrainischen FreundInnen, ein Deutscher und ich. Man kennt sich nicht. Der Belgier ist beruflich in Kiew und will am freien Tag noch etwas unternehmen. Die Spanier reisen durch Osteuropa und haben das Angebot gesehen. Viel Aufregendes gebe es ja sonst nicht zu besichtigen in der Ukraine, meint der Neuseeländer. Und billig sei es hier.
Die Fahrt geht los.
«Ich muss euch die Regeln erklären», legt auch Johnny los: «Erste Regel: Nichts ist erlaubt! Welcome to North Korea! Kein Trinken, kein Rauchen, kein Sex!»
Er werde versuchen, für uns einige Regeln zu brechen, sonst werde es ja langweilig. Wir müssten uns gefasst machen auf eine Reise in die Vergangenheit. «Am Checkpoint sitzen ‹coffee drinking bastards›, die dürft ihr keinesfalls fotografieren. Kein Fotografieren am Checkpoint, das mögen die gar nicht.» Sonst würden sie alle Fotos löschen lassen, auch die der anderen der Gruppe.
«Die Dreissigkilometerzone, das ist die Pufferzone. Da sieht es aus wie in der Sowjetunion. Danach fahren wir in die Zehnkilometerzone zum Kernkraftwerk. Da ist dann Nordkorea. Da ist alles verboten. Erstaunlich, dass man noch atmen darf.» Johnny lacht und schwatzt und schwatzt.
Die Fahrt zur Zone dauert eineinhalb Stunden. Irgendwann schiebt er einen Film über die ersten Tage des Unfalls ein. Man sieht, wie die Leute evakuiert wurden und wie die Feuerwehrleute versuchen, den hochstrahlenden Müll wegzuräumen. Die TouristInnen dösen.
Am Checkpoint Ditiatki versperrt ein Schlagbaum die Strasse. In einer langen Reihe stehen Leute, die in die Zone möchten. Das Geschäft boomt. Im letzten Jahr haben 44 000 TouristInnen die Zone besucht, Tendenz steigend.
In der Sperrzone
Beim Schlagbaum werden die Pässe kontrolliert, ohne Voranmeldung kommt niemand rein. Dann geht es weiter zu den verschiedenen Attraktionen.
Als erster Stopp steht Zalissia auf dem Programm, eines der vielen Dörfer, die 1986 evakuiert werden mussten und langsam verrotten. Johnny hat uns durch diese Siedlung führen wollen. Doch am Strassenrand stehen bereits zwei Busse. Johnny hat den Ehrgeiz, uns Orte zu zeigen, an denen nicht viele andere TouristInnen herumspazieren. Wir fahren weiter zur grossen Kurzwellenanlage, wandern an verfallenen Holzhäusern vorbei und durch einen wilden Wald.
Man posiert, schiesst Selfies, dreht Filmchen.
Johnny feuert seine Gäste an: «Ja, macht Bilder! Stellt sie auf Facebook! Damit könnt ihr eure Freunde neidisch machen, und eure Mütter werden sich sorgen!»
Die Strahlung sei völlig ungefährlich, sagt Johnny.
Einige der Gäste haben von Chernobyl Tours für zehn US-Dollar ein Strahlenmessgerät gemietet. Die Geräte zeigen Mikrosievert pro Stunde (μSv/h) an. Niemand weiss etwas mit der Messeinheit anzufangen. Auch Johnny nicht. Er spricht einmal von Röntgen, dann wieder von Sievert und bringt ständig die Einheiten durcheinander. Er sagt, es sei ohnehin ganz ungefährlich hier. «Bei eurem Flug habt ihr mehr abbekommen.»
Gefährlich ist hier vor allem, wenn man radioaktive Partikel einatmet. Wenn zum Beispiel im Sommer das Land ausgetrocknet ist und es zu Waldbränden kommt. Dann hängen hoch belasteter Staub und Rauch in der Luft. Doch das sagt er nicht.
Später in der Zehnkilometerzone fahren wir südlich am geborstenen Reaktor vorbei. Der Fahrer schliesst alle Fenster. «Jetzt werde ich euch was für eure Geräte zeigen. Haltet sie bereit, jetzt werdet ihr gleich was sehen», sagt Johnny.
Das Dosimeter klettert und klettert und verharrt dann bei etwa 12 μSv/h. Draussen auf der Strasse sind es sicher um die 40 μSv/h. Falls man auf diesem hoch verseuchten Fleck leben würde, bekäme man pro Jahr 360 Millisievert ab – der Grenzwert für die Normalbevölkerung liegt bei 1 Millisievert, für AKW-Angestellte bei 20.
Auf dem Platz vor dem Sarkophag – der Schutzhülle, die vor dreissig Jahren um den kaputten Reaktor gezimmert worden war – steigen die TouristInnen aus und lassen sich ablichten. Hier zeigt das Dosimeter noch 6 μSv/h.
In Pripjat, der Stadt neben dem geborstenen Reaktor, haben einmal 50 000 Menschen gelebt. Heute ist sie eine pittoresk überwucherte Ruinenstadt. Johnny sagt, es sei verboten, in die Häuser zu gehen. Er wolle aber, dass wir Spass hätten. «Sollen wir etwas riskieren? Wollt ihr auf ein neun- oder ein sechzehnstöckiges Haus?»
Sechzehnstöckig natürlich, sagen alle.
«Jetzt müsst ihr wie Ninjas sein. Kein Lärm, kein Geräusch, sonst entdecken uns die patrouillierenden Polizisten, diese ‹coffee drinking bastards›. Dann gibts ‹troubles›!»
Die TouristInnen keuchen die Treppe hoch. Überall liegen Glasscherben und Müll. Die Wohnungen sind leer. Schon vor Jahren wurde alles geklaut und verkauft.
Auf dem Dach öffnet sich der Blick über die Ruinenstadt und das weite Sumpfgebiet. In der Ferne sieht man das AKW Tschernobyl und den grossen weissen neuen Sarkophag. Der alte Sarkophag ist brüchig geworden. Der neue sieht wie ein überdimensionierter Hangar aus. Er wird neben dem AKW hochgezogen und erst danach darübergezogen, damit die Arbeiter möglichst wenig Strahlung abbekommen. Ein gigantisches Projekt, das 350 Millionen Franken kosten wird.
Auf der Rückfahrt sagt Johnny: «Kommt wieder! Eine Zweitagestour ist viel ergiebiger!» Und es gibt Rabatt.
Zweite Destination: Ostrowets
Ein Viertel des weissrussischen Territoriums wurde stark radioaktiv verseucht, als der Reaktor in Tschernobyl explodierte. Über 300 000 Menschen wurden umgesiedelt. Nahe der weissrussischen Hauptstadt Minsk war damals ein AKW in Bau. Nach der Nuklearkatastrophe wurde er gestoppt. Die weissrussische Regierung entschied, dass man auf dem eigenen Territorium kein AKW haben wollte.
Vor einigen Jahren kam die Kehrtwende, jetzt wird an einem neuen AKW gebaut.
In Vilnius, der Hauptstadt von Litauen, treffen sich Mitte April litauische und weissrussische JournalistInnen zu einer Pressereise. Organisiert ist der Trip von Uno-Organisationen und NGOs. Finanziert wird er massgeblich von der schwedischen Regierung. Es geht um das AKW Belarus, das nahe an der Grenze zu Litauen hochgezogen wird. Die Reise hat Sprengpotenzial.
Am ersten Tag in Vilnius referiert Vitalijus Auglys vom litauischen Umweltministerium. Auf einer Karte zeigt er, dass das neue AKW nur fünfzig Kilometer von Vilnius entfernt liegt. Im Grossraum Vilnius leben eine Million Menschen – ein Drittel aller LitauerInnen. Auglys sagt, offiziell habe Weissrussland erst 2013 mit dem Bau begonnen. In Wirklichkeit habe die Regierung in Minsk wichtige Entscheidungen schon viel früher gefällt. Litauen sei darüber aber nicht informiert worden.
Aufgrund eines internationalen Abkommens – der sogenannten Espoo-Konvention – hat Litauen Anspruch darauf, von Anfang an in den Planungsprozess miteinbezogen zu werden. Darüber habe sich die weissrussische Regierung einfach hinweggesetzt. «Deswegen wurde sie von den Espoo-Vertragsparteien auch schon gerügt. Das hat aber alles nichts genützt», sagt Auglys, Weissrussland verweigere sich einfach.
Er präsentiert eine Liste mit fünfzehn Fragen, die die weissrussische Regierung bis heute nicht beantwortet habe. Fragen wie: Nach welchen Kriterien wurde der Standort ausgewählt? Gibt es Erdbebenanalysen? Was passiert, wenn ein schweres Flugzeug auf das AKW stürzt? Wie sehen die Notfallpläne aus? Wie die Finanzierung?
«Die IAEA-SEED-Kommission hat sich das Projekt bis heute noch nie anschauen können!», sagt er. Das ist eine Kommission der Internationalen Atomenergie-Agentur, deren Aufgabe es ist, AKW-Neubauten zu begleiten. Sie versteht sich als Förderin der Nuklearindustrie und würde das Projekt nie öffentlich kritisieren. Trotzdem liess Weissrussland sie bislang nicht ins Land.
Die Stimmung im Saal ist kühl. Eine Vertreterin des weissrussischen Energieministeriums steht auf und sagt: «All diese Fragen hat der Präsident doch erst kürzlich wieder in einem Interview beantwortet.» Sie hält ein Papier in die Höhe. «Ich kann gerne an alle eine Kopie verteilen.»
«Ein Interview in einer Zeitung hilft uns nicht», antwortet Auglys, «wir brauchen offizielle, verbindliche Antworten!»
«Wie sieht es denn mit den Plänen aus, in Litauen ein AKW zu bauen?», fragt jemand.
«Diese Option ist immer noch offen.»
Konsternation unter den JournalistInnen. Das sei doch nicht logisch, murmeln sie.
An diesem Tag verteidigen die weissrussischen JournalistInnen ihr AKW. Allein schon deshalb, weil sie sich heruntergeputzt fühlen. Für die LitauerInnen ist hingegen klar: Man muss alles tun, damit dieses Werk nie ans Netz geht.
Auf der Baustelle
Die Gruppe fährt im Bus nach Ostrowets. Im geräumigen Besuchszentrum empfängt der PR-Chef. Er sagt, er sei anfänglich auch gegen das Kernkraftwerk gewesen. Aber dann habe er sich mit der Technik beschäftigt und sei heute überzeugt, dass dies eine tolle Anlage sei. Begeistert erklärt er, wie das AKW funktioniert. Es ist ein russischer Druckwasserreaktor, ähnlich wie der französische Reaktor, der im finnischen Olkiluoto gebaut wird. Er ist auf eine Art Matte gestellt, womit angeblich garantiert ist, dass die Anlage ein schweres Erdbeben schadlos übersteht. Zudem wird um den Reaktor eine doppelwandige Schutzhülle, das Containment, gebaut. Die wichtigste Neuerung stellt der sogenannte Core-Catcher dar. Es ist eine Art Wanne unter dem Reaktor. Bei einem schlimmen Unfall müsste sie das geschmolzene Brennmaterial aus dem Reaktorkern auffangen. Damit soll verhindert werden, dass hoch radioaktives Material ausläuft – wie das in Tschernobyl und Fukushima geschah.
Vom Besucherzentrum geht es direkt auf die Baustelle. Von weitem sind die Kühltürme zu sehen. Der erste ist schon fertig und verschwindet im tief hängenden Himmel. Der zweite ist im Bau. Zwei Reaktorblöcke werden erstellt, beide mit einer Leistung von 1200 Megawatt.
Eine staatliche russische Firma baut die Anlage. Weissrussland hat dafür von Russland einen Kredit von zehn Milliarden US-Dollar bekommen. Der Brennstoff wird dereinst aus Russland geliefert und nach Gebrauch wieder nach Russland geschickt. Schon im nächsten Jahr soll der erste Block den Betrieb aufnehmen. Block 2 folgt voraussichtlich 2018. So ist es mindestens geplant.
Die Gruppe wird in einem betriebseigenen Bus durch die Baustelle gefahren. Die Anlage ist abgeschirmt wie ein Hochsicherheitsgefängnis – mit fünf Zäunen und viel Stacheldraht. Tag und Nacht wird sie von einer bewaffneten Sondereinheit bewacht.
Die litauischen und weissrussischen JournalistInnen reden nicht viel miteinander. Eine Litauerin sagt, sie fühle sich unwohl und fremd in diesem Land. Sie sei froh, wenn sie nach Hause könne. Die WeissrussInnen würden nicht einmal merken, wie seltsam sie seien, sagt sie. Ihre Haltung gegen das AKW hat sich nur noch verstärkt.
Am letzten Tag – die LitauerInnen sind bereits abgereist – wird in kleinen Gruppen über die Reise diskutiert. Und plötzlich zeigt sich: Alle WeissrussInnen, die für staatliche Medien arbeiten, finden das AKW Belarus wichtig fürs Land. Die andern sind skeptisch. Drei Erkenntnisse:
«Technisch mag es eine moderne Anlage sein, aber niemand garantiert, dass keine Baufehler gemacht werden – weil keine unabhängige Aufsichtsbehörde kontrolliert.»
«Wir haben mehrmals gefragt, wie viel Zins man Russland bezahlen muss und wie teuer der Strom wird. Wir bekamen nie eine Antwort. Finanziell wird dieser Bau für Weissrussland ein Desaster.»
«Weissrussland braucht den Strom nicht, das AKW wird vor allem aus geopolitischen Gründen gebaut.»
Sie würden dagegen stimmen, wenn sie könnten. Aber das geht nicht. Dagegen schreiben, das werden sie jetzt, weil es ein unsinniges Projekt ist, sagen sie.
Susan Boos hat vor zwanzig Jahren das Buch «Beherrschtes Entsetzen. Die Ukraine zehn Jahre nach Tschernobyl» publiziert. 2012 erschien ihr Reportagebuch «Fukushima lässt grüssen. Die Folgen eines Super-GAUs». Es ist beim Rotpunktverlag oder über www.woz.ch/shop erhältlich.
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