Fichenaffäre 2.0: 28 Seiten Namen vom Kessel in Landquart

Nr. 20 –

Wie der Inlandgeheimdienst nach der grössten Fichierungsaktion der jüngeren Vergangenheit Verbindungen zu «gewalttätigem Extremismus» konstruierte: Erstmals liegen Kopien einer ganzen Fiche vor.


Vor ein paar Wochen erhielt Valentin Hauser (Name geändert) Post vom Nachrichtendienst des Bundes (NDB): Man habe «festgestellt, ... dass Sie in der Datenbank Staatsschutz des Informationssystems Innere Sicherheit (ISIS) mit zwei Einträgen verzeichnet waren». Diese Daten seien nun gelöscht, und er erhalte eine «nachträgliche Benachrichtigung», weil er im Juli 2010 – erfolglos – ein Auskunftsgesuch gestellt habe.

Die Benachrichtigung hat es in sich. Bisher haben Betroffene nämlich nur summarische Auskünfte über den Inhalt ihrer Fichen erhalten. Die Basler Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz erfuhr beispielsweise, dass der heute in den NDB eingegliederte Dienst für Analyse und Prävention (Dap) Informationen über sie an einen «ausländischen Dienst» weitergegeben hatte. Was genau und an wen, wurde ihr verheimlicht. Valentin Hauser erhielt nun erstmals eine Kopie der Originale, auf der zwar «die Personalien von Mitarbeitern des NDB, der Kantonspolizei sowie von Dritten geschwärzt» wurden. Ersichtlich wird darin allerdings, wie der Eintrag zustande gekommen ist.

Erfassung in der Tiefgarage

Und hier bestätigt sich, was nicht nur Hauser seit langem vermutete: Der Grund für seine Fichierung war eine «Personenkontrolle» am 24. Januar 2004. Ein polizeiliches Grossaufgebot hatte damals auf dem Bahnhof Landquart einen aus Chur kommenden Zug gestoppt. Darin sassen vor allem Leute, die in Chur an einer friedlichen Anti-Wef-Kundgebung teilgenommen hatten. Unter Einsatz von Tränengas, Gummischrot, Knallgranaten und Schlagstöcken räumten die PolizistInnen den Zug und trieben die Insassen auf dem umstellten Bahnhofsvorplatz zusammen. Bei klirrender Kälte mussten die Leute hier stundenlang warten, bis man sie «tröpfchenweise» aus dem Kessel herausführte und ihre Personalien erfasste. Insgesamt 1082 Personen mussten sich dieser offensichtlich geplanten Prozedur unterziehen, für die der Landquarter Coop seine Tiefgarage bereitgestellt hatte.

Die Bündner Kantonspolizei löschte die Daten zwar aus ihren Registern, leitete sie zuvor aber an den Dap weiter. Das sei bei interkantonalen Polizeieinsätzen immer der Fall, hiess es damals. Es würden aber nur Daten gespeichert, die einen Bezug zum «gewalttätigen Extremismus» hätten, sagte damals die Pressesprecherin des Bundesamtes für Polizei gegenüber der WOZ. Das schreibe das Bundesgesetz über die Wahrung der inneren Sicherheit vor.

Wie der Dap diesen Bezug konstruierte, zeigen jetzt die Unterlagen, die Hauser erhalten hat: Am 24. August 2004 faxte der Dap die Personalien der in Landquart Kontrollierten nämlich an die kantonalen und städtischen Nachrichtendienste. Sie erhielten jeweils die Daten der in ihrem Kanton wohnenden Personen mit dem Auftrag, gegebenenfalls zusätzliche Informationen über sie zu liefern. «Auf den Versand der ganzen Listen an alle Kantone wurde wegen zu grossen Aufwands (allein 28 Seiten Kontrolle Landquart) verzichtet», heisst es in dem Dokument.

Ein paar Schneebälle

Der Stadtberner Nachrichtendienst teilte am 30. November 2004 das Ergebnis seiner Recherchen in der Datenbank der Stadtpolizei mit: «Nachfolgende Aktivisten ... weisen Vorgänge im Bereich Extremismus auf.» Über Hauser rapportierten die Berner StaatsschützerInnen zwei Vorgänge: 1993 habe er an einer Solidaritätsdemo für Marco Camenisch vor der italienischen Botschaft teilgenommen und sei dabei «angehalten» worden. «Da haben die Leute ein paar Schneebälle an die Fassade geworfen. Mehr war da nicht», erinnert sich Hauser. «Die Polizei überprüfte unsere Personalien. Dass sie die Daten speicherte, wussten wir nicht. Es gab auch kein Strafverfahren.» Der zweite Vorgang datiert vom Juli 1994: Etwa fünfzig Leute solidarisierten sich damals mit den «Rollmöpsen», die mit ihren Bauwagen eine Wiese im Berner Breitenrainquartier besetzt hatten, um eine Luxusüberbauung zu verhindern. «Die Polizei rief über Lautsprecher auf, sich zu entfernen. Wir blieben stehen und wurden dann in Handschellen abgeführt.» Im Januar 1995 verurteilte das Berner Obergericht H. zu zehn Tagen Haft, bedingt, wegen «Hinderung einer Amtshandlung» und «Nichtbefolgens eines Zivilschutzaufgebots».

Was haben Schneebälle mit Gewalt und der Kampf um eine Wiese mit Extremismus zu tun? Und wie kommt es, dass sich solche Lappalien noch zehn Jahre später in einer polizeilichen Datenbank finden? Der Stadtberner Datenschutzbeauftragte Mario Flückiger erklärt: «Das damals geltende Strafverfahrensgesetz des Kantons sah zwar die Löschung nach fünf Jahren vor – aber immer nur auf Gesuch der betroffenen Person. Wenn die Leute nicht fragen, passiert da gar nichts.» Die absurde gesetzliche Regelung erlaubt damit faktisch, dass politische Aktionen auf ewig gespeichert bleiben.

Der Landquarter Kessel war zwar nicht die einzige, aber die bisher grösste Fichieraktion im Zusammenhang mit Demonstrationen. Hausers Fiche zeigt, wie richtig der inzwischen verstorbene Berner Rechtsanwalt Daniele Jenni und 36 weitere Betroffene mit ihrer Klage gegen diese Freiheitsberaubung lagen. Mit seinen Fichen erhielt Hauser noch einmal die Einstellungsverfügung der Bündner Staatsanwaltschaft vom September 2005 – allerdings in einer Version, in der selbst der Name seines Anwalts geschwärzt ist.

Seit dem Bericht der Geschäftsprüfungsdelegation des Parlaments vom Juni 2010 ist der neue Nachrichtendienst des Bundes dabei, die peinlichsten Fichen zu löschen. Wer wissen will, ob und was der Dienst über ihn oder sie gesammelt hat, muss jetzt ein Einsichtsgesuch stellen.