Landquart: Rhythmisches Kesseltreiben

Nach der weitgehend friedlichen Anti-Wef-Demo in Chur vom 24. Januar 2004 gerieten die heimkehrenden TeilnehmerInnen in Landquart in eine polizeiliche Massenkontrolle, die ungewohnt brutal durchgesetzt wurde. Die Polizei glaubt, richtig gehandelt zu haben.

Kantonspolizei Graubünden, Communiqué vom Sonntag, 25. Januar: «Bei der bewilligten Demonstration am Samstagnachmittag in Chur richteten die teils militanten Wef-Gegner Sachschaden in Höhe von rund 35 000 Franken an. Auf der Rückfahrt im Zug nach Zürich zogen sie bei Landquart kurz vor 16 Uhr die Notbremse, begaben sich auf die Geleise und blockierten den Bahnverkehr während mehrerer Stunden. An der Zugskomposition entstand durch Sprayereien und weitere Vandalenakte ein Schaden von mehreren hunderttausend Franken. (...) Nach den diversen strafbaren Handlungen hielten Polizeikräfte mit einem Grossaufgebot am Nachmittag 1082 Leute auf dem Bahnhofsareal fest und unterzogen sie einzeln einer Personen- und Effektenkontrolle mit dem Ziel, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.»

Das ist die offizielle Version des Landquarter Polizeikessels, die in der vergangenen Woche von der Mehrheit der Medien widerspruchslos akzeptiert worden war.

Am Montag trat in Bern eine Gruppe Betroffener zur Gegendarstellung an: Der Polizeikessel, so hielt der Berner Rechtsanwalt und grüne Stadtparlamentarier Daniele Jenni fest, sei keine Reaktion gewesen – weder auf die Blockadeversuche noch auf Sprayereien und Beschädigungen am Zug –, sondern eine vorbereitete Aktion der Polizei mit dem Ziel, Wef-GegnerInnen so umfassend wie möglich zu fichieren und sie von künftigem Widerstand abzuschrecken. Der Zug sei normal in den Bahnhof eingefahren, den bei einer Notbremsung üblichen Ruck habe es nicht gegeben, berichtete Andreas S.*, der im Gepäckwagen an der Zugspitze mitgefahren war. «Das ganze Gelände war umstellt. Die Polizeiabsperrungen waren schon über die Gleise montiert, als sich einige Leute vor den Zug setzten.» Vor allem Genfer Polizisten hätten dann den Zug von hinten her geräumt. Je weiter sie nach vorne kamen, umso brutaler seien sie vorgegangen, bestätigt Jenni. In einem Abteil sei gar eine Tränengaspetarde abgeschossen worden. Das Kesseltreiben, das dann folgte, hat Frank B.* «eine panische Angst» eingejagt: Die vorrückende Polizei habe rhythmisch auf die Plastikschilder getrommelt, Tränengas und Schockgranaten eingesetzt und auf Personen eingeprügelt, die sich mit erhobenen Händen auf das Perron gesetzt hatten.

Auch nachdem alle DemonstrantInnen auf dem Bahnhofplatz gestanden waren und die Fichieraktion begonnen hatte, hätten die Schikanen nicht aufgehört. Verletzte seien entweder gar nicht aus dem Kessel gelassen worden oder erst nach längeren Verhandlungen mit der Polizei.

Stellungnahmen zum Landquarter Kessel hat die Bündner Polizei an Walter Schlegel, den Koordinator des Wef-Ausschusses der Kantonsregierung, delegiert. Zu Detailfragen könne er sich aber erst äussern, wenn in ein oder zwei Monaten das Ergebnis der internen Auswertung vorliege. War der Kessel also geplant? «Sie müssen wissen, dass das ganze Dispositiv rund ums Wef über Monate hinweg vorbereitet wurde. Aufgrund von Blockadeaufrufen und von Erfahrungen der letzten Jahre haben wir uns in Landquart entsprechend vorbereitet.»

Der eigentliche Auslöser für den Kessel seien jedoch die Zerstörungen und Blockaden nach der Einfahrt des Zuges in Landquart gewesen, sagt Schlegel. Wer die Anordnung gegeben hat, sämtliche DemonstrantInnen einzukesseln und zu kontrollieren, und wann dieser Befehl erteilt wurde, «müssen die Detailauswertungen ergeben, es ist aber so, dass vor Ort ein verantwortlicher Einsatzleiter war». Dass die Polizei die friedlichen DemonstrantInnen aufgerufen habe, das Bahnhofsgelände zu verlassen, sei «nach dem heutigen Wissensstand sicher». Ob die Polizei Schockgranaten eingesetzt habe? Schlegel: «Schockgranaten wurden nicht eingesetzt, hingegen Irritationswurfkörper.» Haben Polizisten auf ihre Schilder getrommelt und wenn ja, weshalb? «Das wird die Auswertung ergeben müssen.» Hat man die Neonazis hinter den Reihen der Polizei auch kontrolliert? «Hinter den Reihen der Polizei haben sich zahlreiche Personen aufgehalten. Es bestand polizeilich keine Veranlassung, diese Personen zu kontrollieren.» Warum erfragte die Polizei bei der Fichierung der DemonstrantInnen systematisch auch Telefonnummern? «Es wurde nicht fichiert. Die Telefonnummer wurde für die Erreichbarkeit der Personen erhoben.»

Was passiert mit den Daten?

Die erfassten Personalien hat die Polizei nicht im allgemeinen Polizeiregister, sondern in einer speziellen Datei gespeichert. Ob und wenn ja wie viele Strafverfahren sich aus den gesammelten Daten und Bildern ergeben, ist laut Untersuchungsrichter Claudio Riedi «noch völlig offen». Sicherlich werde es dazu nur in den wenigsten Fällen kommen. Riedi erwartet Verzeigungen wegen Sachbeschädigungen, Landfriedensbruch, Verstössen gegen das Waffengesetz und Drogenbesitz. Letzteres nachzuweisen, dürfte einfach sein: Bei einigen Personen beschlagnahmte die Polizei nämlich geringe Mengen Haschisch und Marihuana. Hingegen lassen sich Medizinalscheren, Militärsackmesser und Rucksacktragestangen kaum als gefährliche Gegenstände im Sinne des Waffengesetzes verkaufen. Und Landfriedensbruch kann nur begehen, wer sich aus einer gewalttätigen Menge nicht entfernt – das hat die Polizei mit ihrem Kessel verhindert. Selbst wenn sie Sprayereien und Zerstörungen gefilmt hat, wird sie die draussen aufgenommenen Bilder kaum den später erfassten Personalien zuordnen können. Für die Strafverfolgung hat der Landquarter Fichierkessel offensichtlich kaum etwas gebracht.

Spätestens am 30. Juni [2004] sollen die Ermittlungen beendet sein. Daten über die Personen, gegen die bis dahin kein Verfahren eröffnet wurde, müssen dann gelöscht werden. Der Bündner Datenschutzbeauftragte Thomas Casanova will die Vernichtung kontrollieren. Er empfiehlt, bei der Polizei Auskunft zu verlangen. Eine pauschale Weitergabe der Daten an den Staatsschutz des Bundes hält er für illegal. Ob er sie verhindern kann, bleibt abzuwarten.

Rechtsanwalt Jenni kündigte am Montag juristische Schritte gegen das Vorgehen der Polizei an: «Die Frage ist nicht mehr, ob es Anzeigen geben wird, sondern nur noch, wie viele.» Darüber hinaus brauche es eine unabhängige Untersuchung des Landquarter Kessels. Die Grünen haben Vorstösse im Nationalrat angekündigt. Im Bündner Grossen Rat will die SP in der Fragestunde am kommenden Mittwoch wissen, ob die Regierung ihre interne Auswertung veröffentlichen will und ob sie bereit ist, «eine unabhängige Person mit der Evaluation der Einsatzdoktrin der Polizei und dem Verhalten der Wef-KritikerInnen zu beauftragen».

* Namen der Redaktion bekannt.