«Anti-Freud»: Runter von der Couch!

Nr. 21 –

«Le crépuscule d’une idole», die neue Freud-Analyse von Michel Onfray, wurde in Frankreich zum Bestseller. Jetzt ist das Buch, das Freud jegliche Seriosität abspricht, auf Deutsch erschienen.


Neulich abends gegen halb sechs. Nichts geht mehr in Ollioules, einem Küstennest nahe Toulon, die Strassen verstopft, alle Parkplätze überfüllt. 900 Leute lässt man in die örtliche Sporthalle. Um weiteren Andrang abzuwehren, braucht es die Police municipale. Kein Jahrmarkt, keine Messe, kein Wahlkampf, es treten auch keine Popstars auf. Lediglich zwei Intellektuelle zum Thema «Kritik und Verteidigung der Psychoanalyse». Der eine ist Boris Cyrulnik, einer der bekanntesten Verhaltensforscher und Psychiater Frankreichs. Eingeladen hat er Michel Onfray, dessen «Le crépuscule d’une idole» sich 2010 binnen kürzester Zeit auf Platz 1 der französischen Bestsellerlisten katapultiert hat. Jetzt ist das Buch unter dem Titel «Anti-Freud» auf Deutsch erschienen.

Freud verstehen

Was in Frankreich so gut ankommt und jetzt auch im deutschsprachigen Raum für Wirbel sorgt, ist Onfrays Emotionalität, die Verve, mit der er seine Kritik vorträgt. Und die glasklaren Worte, mit denen er die Dinge beim Namen nennt. Sigmund Freud, ätzt der 1959 geborene Philosoph aus der Normandie, sei ein homophober Phallokrat gewesen, dessen Theoriegebäude auf völlig abstrusen Aussagen fusse wie etwa der Annahme eines Penisneids, in dem Freud das zentrale Problem der Frauen sehe, oder auch die Beurteilung von Homosexualität als Unterbrechung einer normalen Entwicklung. «Freud ist kein Wissenschaftler», schreibt Onfray und begründet: «Er hat nichts Allgemeingültiges vorgebracht, und seine Lehre ist ein auf seine Hirngespinste, seine Obsessionen und sein vom Inzest gequältes und zerfressenes Innenleben zugeschnittenes Konstrukt.»

Das klingt aufrührerisch und will es auch sein. Dass Onfray bloss behaupte und diese Behauptungen nicht nachweise, kann man ihm wirklich nicht vorwerfen. Auf den 544 Seiten seiner Freud-Analyse belegt er Aussage für Aussage mit Zitaten aus historischen Briefen und anderen Schriften von Freud. Die Schlüsse, die Onfray zieht, sind zweifellos kühn, aber deshalb müssen sie ja keineswegs falsch sein. Und es tut ihnen auch keinen Schaden an, dass der Autor mit seinen Zuspitzungen die Leute zum Lachen bringt. Etwa wenn er das Paradoxon vorträgt, dass Freud eine Methode entwickeln wollte, die allgemeingültig sei, für die gesamte Menschheit – ausser für Freud selbst natürlich. In Wahrheit sei es ganz genau umgekehrt: Die Psychoanalyse, so Onfray, eigne sich, um Freud zu verstehen – «und zwar nur ihn»!

Damit gesellt sich Onfray zu Friedrich Nietzsche, der den Philosophen vorwirft, Wahrheiten zu deklarieren, wo doch alle Philosophie autobiografisch bestimmt sei. Dass Freud, der jeden Einfluss Nietzsches ohnehin «verdächtig kategorisch» abgestritten habe, damit nicht einverstanden wäre, stört Onfray nicht im Geringsten. Freud habe sich selbst als wissenschaftliches Genie gesehen in einer Reihe erstens mit Kopernikus, der gezeigt habe, dass sich die Erde und damit der Mensch nicht im Zentrum des Universums befinde, und zweitens mit Darwin, der mit seiner Evolutionstheorie den Menschen als Affenabkömmling präsentierte. Als dritte Kränkung des Menschen habe Freud die – als höchste einzustufende – Entdeckung des Unbewussten betrachtet, die er ausserdem zu Unrecht als seine ureigene dargestellt habe.

Onfray spricht Freud nicht nur jede Wissenschaftlichkeit ab, sondern auch jede Seriosität. «Freud hat viel gelogen, kaschiert und an seiner eigenen Legende gearbeitet», geldgierig und ruhmversessen habe er Ergebnisse gefälscht und Patienten erfunden, über Heilungen berichtet, wo er in Wirklichkeit Schaden angerichtet habe. Onfray recherchierte, dass der Wiener Doktor, der seine Patienten mehrmals pro Woche bis täglich einbestellte, im Jahr 1925 umgerechnet 415 Euro für eine psychoanalytische Sitzung verlangte. Was Freud inhaltlich dabei vermittelte, habe er samt und sonders von seiner eigenen «inzestuösen Leidenschaft» abgeleitet und darauf sein Theoriegebäude ähnlich fantasievoll aufgebaut wie der Briefträger Ferdinand Cheval in der französischen Kleinstadt Hauterives seinen «Palais idéal».

Muttersohn und Vatertochter

Freuds private Beziehungen seien «im düsteren Licht des Inzests» zu betrachten, ebenso wie seine gesamte Theoriebildung. «Weil er selbst inzestuöse Neigungen hatte, vermutete er den Inzest überall.» Onfray belässt es nicht dabei, dass der als Sigismund geborene Junge offenbar mit einer recht schrägen Beziehung zu seiner jungen Mutter Amalia zu kämpfen hatte. Wie ein Detektiv sammelt der Autor akribisch ganz konkrete Beweise – etwa dass Freud ein Hotelzimmer angemietet hat für «Dr. Sigmund Freud und Frau», als er mit Minna, der Schwester seiner Frau, auf Reisen war. Oder dass Minna, die auch im Hause Freud wohnte, ihr Badezimmer nur über das eheliche Schlafzimmer erreichen konnte.

Oder die intellektuelle Vergewaltigung der Tochter Anna. Entgegen Freuds eigenen Anweisungen, niemals Familienmitglieder oder nahestehende Personen zu analysieren, quälte er seine jüngste Tochter bereits als Jugendliche und, wie Onfray ausgerechnet hat, neun Jahre lang mit fünf bis sechs Sitzungen pro Woche. Anna, die Freud als engste Vertraute an sich band, wurde konsequenterweise Kinderanalytikerin.

«Freud», so Onfray, «verkörpert das, was im Zeitalter der Aufklärung Anti-Philosophie genannt wurde – eine philosophische Negation der rationalistischen Philosophie.» Er habe sich der Realität verweigert und ein «Gruselkabinett» geschaffen mit Fantasiefiguren wie Trieb, Libido, Unbewusstem, Ödipus, Urhorde, Vatermord, Verdrängung, Sublimierung, Neurose etc.

Kirche oder Couch?

Zwanzig Jahre lang lehrte Onfray das Fach Philosophie an einem Gymnasium, bevor er aus dem Bildungskanon ausbrach und 2002 in Caen seine eigene Universität gründete. Boris Cyrulnik, eine Generation älter als Onfray und einer der bekanntesten Psychiater und Verhaltensforscher Frankreichs, hielt Onfray jüngst bei einer Podiumsdiskussion vor, dass die Psychoanalyse nachweislich eine heilende Wirkung haben könne. Der ungestüme Normanne war um eine Antwort nicht verlegen – man brauche bloss in eine kleine Kirche irgendwo auf dem Land zu gehen und finde dort in den Dankbezeugungen an die Jungfrau Maria ebenfalls zuhauf Nachweise, dass Maria geholfen habe. «Die analytische Theorie», so Onfray, «ist ein Ausläufer des magischen Denkens. Sie wirkt ausschliesslich durch den Placeboeffekt». Der Psychologismus sei eine säkulare Religion. Freuds Couch, in Frankreich als Diwan bekannt, habe «dem Patienten einen sicheren Platz in einer zunehmend haltlosen Welt» verheissen.

Onfray weiss, dass dieser Diwan immer noch ein mächtiges Möbel ist. Freud hat, bei aller inzwischen vielfach veröffentlichten Kritik, das Denken der westlichen Welt geprägt wie kaum jemand. «Die Psychoanalyse ist heute Teil des kollektiven Bewusstseins», sagt Onfray, und er ist der Junge, der ausspricht, was er sieht: Der Kaiser ist nackt. Damit stösst er den Diwan um. Denn eigentlich geht es nicht um Freud, sondern darum, dass der Patient auf die Füsse fällt.

Michel Onfray: Anti-Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert. Aus dem Französischen von Stephanie Singh. Albrecht Knaus Verlag. München 2011. 544 Seiten. Fr. 38.90