Aufruhr in England: Kein Wunder, dass es knallt

Nr. 32 –

In den letzten Tagen übte eine verlorene Generation einen Krieg, den sie nicht gewinnen kann – und den auch die Politik verliert. Weil sie nur eine Antwort kennt: Draufhauen.


Niemand kann sagen, es habe keine Warnungen gegeben. Am vorletzten Samstag stellte die internetaffine Tageszeitung «Guardian» einen kurzen Videofilm ins Netz, bestehend aus Interviews mit Jugendlichen in der Nordlondoner Gemeinde Haringey. Dort hatte gerade die von Labour dominierte Stadtverwaltung von einem Tag auf den anderen acht der dreizehn Jugendzentren geschlossen. Es war eine der vielen Sparmassnahmen, die die konservativ-liberale Regierung derzeit den Gemeinden aufzwingt. «Ich bin jeden Tag in den Youth Club gegangen», sagte ein Jugendlicher, der sein Gesicht in der Kapuze seines Pullovers verbarg, «aber wohin soll ich jetzt? Auf der Strasse rumlungern?» Doch das ist riskant, wie ein anderer Jugendlicher ausführte: «Je mehr Leute den Gangs beitreten, desto gefährlicher wird es für die, die nicht dazugehören.» Und dann sprach Chavez Campbell, ein kluger junger Schwarzer, der die Verhältnisse in seinem Armenviertel gut kennt, ganz offen in die Kamera: «Es wird ‹riots› geben», Aufstände.

Genau eine Woche später war es so weit – dank der Polizei. Am vergangenen Donnerstag erschossen Polizisten im Haringeyer Stadtteil Tottenham den jungen schwarzen Familienvater Mark Duggan. Er habe zuerst auf sie gefeuert, lautete die erste Erklärung. Inzwischen ist aber erwiesen, dass zwar auf einen Polizisten geschossen wurde, doch die Kugel, die in dessen Funkgerät stecken blieb, stammt höchst wahrscheinlich aus Polizeibeständen.

Nichts gelernt

Es war jedoch nicht diese Tat allein, die die Unruhen auslöste. Die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei getötet zu werden, ist für einen Schwarzen achtmal höher als für einen Weissen, und nicht jeder Tod löst einen Aufstand aus. Es war die Arroganz, mit der die Polizei Duggans Angehörige behandelte und ihr Recht auf Auskunft ignorierte. Das hätte sie bei einem Weissen nicht getan, darin sind sich die schwarzen GhettobewohnerInnen einig. Duggans Familie erfuhr aus den Medien von dessen Erschiessung, und als sie sich mit hundert Freundinnen und Nachbarn am Nachmittag des vergangenen Samstags vor dem Polizeirevier von Tottenham versammelte, um etwas über die Umstände von Duggans Tod zu erfahren, blitzte sie ab: Kein Verantwortlicher wollte mit den Leuten reden. Vier Stunden standen sie da. Dann ging die Familie nach Hause – und der Aufruhr brach los.

Drei Nächte lang brannten in Londons Armenvierteln Geschäfte und Fahrzeuge, Jugendliche plünderten Läden, Kids rasten mit geklauten Autos in Richtung Polizeiketten – und es dauerte nicht lange, bis der Funken auf andere Grossstädte übersprang. Auf Birmingham, auf Bristol und auf Liverpool. Dort war es – wie im Südlondoner Stadtteil Brixton – vor dreissig Jahren zu ähnlichen Auseinandersetzungen gekommen: In Liverpools desolatem Quartier Toxteth hatten im Sommer 1981 Tausende von Jugendlichen (zumeist Schwarze und arme Weisse) tagelang randaliert und viele Gebäude in Brand gesteckt. Anlass war damals die Verfolgung eines schwarzen Jugendlichen gewesen, dem die Polizei fälschlicherweise vorwarf, auf einem gestohlenen Motorrad zu sitzen. Auch für die Unruhen in Brixton 1981 war das Vorgehen einer «institutionell rassistischen» Polizei (wie es später im Untersuchungsbericht hiess) verantwortlich gewesen. Die Staatsgewalt hat in den letzten drei Jahrzehnten offenbar nicht viel dazugelernt.

Mit Hartplastik gegen die Armut

Und noch eine Parallele zu den Krawallen von 1981 lässt sich ziehen: Auch seinerzeit war die marktradikal orientierte Regierung von Margaret Thatcher noch nicht lange im Amt. Doch was ihre Politik der Deindustralisierung, der Deregulierung und der Privatisierung von Gemeingütern für die Arbeiterklasse und die Benachteiligten bedeuten würde – das hatte sich in Toxteth und Brixton damals ebenso herumgesprochen wie die absehbaren Folgen des rabiaten Sozialstaatsabbaus der konservativ-liberalen Koalition heute. Indem sie Ausbildungsbeihilfen für Jugendliche aus armen Familien abschafft, die Studiengebühren verdreifacht und die Beihilfen für die Ärmsten kürzt, versperrt sie allen Ghettojugendlichen den Weg aus der Benachteiligung.

Auf den Strassen der Armenquartiere herrscht schon lange ein Krieg – ein verzweifelter und oft selbstzerstörerischer Kampf der Hoffnungslosen, der Ausgeschlossenen, der Missachteten, der Kids ohne Zukunft. Ein paar Nächte lang haben sie diesen Krieg nach aussen getragen und die Gelegenheit genutzt, sich das zu holen, was ihnen die kapitalistische Warenwelt als einzig Erstrebenswertes hinhält, das sie aber nie erreichen konnten.

Die Regierung, die jetzt London polizeilich besetzen lässt und erstmals den Einsatz von Hartplastikgeschossen genehmigte, wusste um die Risiken ihrer Politik. Vor einem Jahr, also noch vor den spektakulären Aktionen der Studierenden, den vielen Universitätsbesetzungen, den Streiks der Staatsangestellten und der Grossdemonstration der Gewerkschaften, hatten hochrangige Polizeichefs vor den Folgen einer weiteren Fragmentierung der ohnehin schon zerrissenen Gesellschaft gewarnt. Die Gegengewalt kam daher nicht überraschend. Nur Paul Rogers, Friedensforscher an der Universität Bradford, gab öffentlich zu, dass er sich verrechnet hatte: Er habe Probleme erwartet – aber erst, wenn die langfristig angelegten Sozialkürzungen auch unten durchschlagen. Jetzt, sagt er, seien sie halt zwei Jahre früher gekommen.