Die englischen Riots: Nach der Revolte die Repression

Nr. 34 –

Gerichtsurteile am Fliessband, exzessiv harte Strafen und eine aufgepeitschte Öffentlichkeit – das englische Establishment kennt nur eine Antwort: Draufhauen. Aber löst das die Probleme?


Die Stimmung ist von Beginn an gereizt. Ein Demonstrant macht sich lustig über «diesen Haufen von Deppen» auf der anderen Strassenseite, wo sich ein Dutzend PolizistInnen aufgestellt hat. Die Uniformierten verziehen keine Miene, drängen die Protestierenden aber sofort zurück, als diese die Strasse betreten wollen. «Fass mich nicht an!», faucht eine junge Demonstrantin und tritt widerwillig aufs Trottoir zurück. Etwa eine Stunde nach Beginn des Protests verhaftet die Polizei einen Demonstranten, weil er öffentlich geflucht und «die Menge angestachelt» habe.

Dabei kann von «Menge» kaum die Rede sein. Es waren nicht mehr als dreissig Personen, die sich am vergangenen Donnerstag vor dem Haus des Stadtratsvorsitzenden von Wandsworth im Südwesten von London versammelt hatten, um gegen einen Entscheid des überwiegend konservativen Gemeindeparlaments zu protestieren. Denn dieses hatte beschlossen, eine Familie aus ihrer gemeindeeigenen Sozialwohnung zu werfen, weil sich der Sohn an den Krawallen vor zwei Wochen beteiligt haben soll. Dabei ist er noch gar nicht verurteilt worden.

«Das ist nicht legal», bemerkt Richard (24), einer der DemonstrantInnen. Besonders stossend sei, dass nicht nur mutmassliche StraftäterInnen, sondern auch ihre Familien ausquartiert würden. «Wir müssen uns dagegen wehren, dass jetzt Jugendlichen auf die Schnelle der Prozess gemacht wird.» Das sieht auch der 27-jährige Doktorand Chris Grollman so: «Die Reaktion der Gerichte und der Regierung ist ziemlich brutal», sagt er. «Unterdrückung und Bestrafung sind die traditionell konservative Antwort auf soziale Unruhen», mehr falle denen nicht ein. Und so sind die DemonstrantInnen in Wandsworth auch nicht gut auf die Polizei zu sprechen. «Schämt euch!», skandieren sie, als der Demonstrant abgeführt wird. «Das Justizsystem spielt derzeit verrückt», betont der Aktivist Mike Raddie. «Als die Banker unser Land plünderten, hat man nichts von solch scharfen Reaktionen gehört.»

Urteile mit der Brechstange

Die Justiz reagierte in der Tat sehr heftig: Kaum waren die ersten RandaliererInnen festgenommen worden, hagelte es Urteile von Magistratsgerichten, die oft Tag und Nacht arbeiteten. Und die RichterInnen gingen wenig zimperlich vor, wie eine Untersuchung der britischen Tageszeitung «Guardian» belegt. Danach liegen die Gefängnisstrafen (die meisten Angeklagten wurden wegen Diebstahl oder Hehlerei verurteilt) um ein Viertel über dem Durchschnitt. Dazu kommt, dass siebzig Prozent der Beschuldigten sofort in Untersuchungshaft genommen wurden – bei Prozessen vor den Magistratsgerichten, die geringere Vergehen ahnden als andere Gerichte, lag der Satz bisher bei zehn Prozent.

Mittlerweile sind rund 2000 Personen in Zusammenhang mit den Riots verhaftet worden, ein Grossteil stand inzwischen vor Gericht, und noch immer sucht die Polizei mit Fotos im Internet und in Zeitungen nach Verdächtigen. Manchen der Untergetauchten könnte also dasselbe blühen wie einer zweifachen Mutter in Manchester, die zu fünf Monaten unbedingt verurteilt wurde, weil sie eine gestohlene Hose entgegengenommen hatte. Oder wie dem 23-jährigen Studenten, der die nächsten sechs Monate im Gefängnis sitzt, weil er im Londoner Stadtteil Brixton Wasserflaschen im Wert von 3,50 Pfund (zirka 4.50 Franken) hatte mitgehen lassen.

Die Regierung befürwortet das harsche Vorgehen. Wenn das Gericht sich entschieden habe, eine klare Botschaft zu senden, dann sei das nur zu begrüssen, sagte Premierminister David Cameron, nachdem zwei Männer im Alter von 20 und 22 Jahren zu je vier Jahren Haft verurteilt worden waren. Ihr Vergehen: Sie hatten über Facebook zu einem Krawall aufgerufen – zu dem aber niemand erschienen war. Die Konservativen im Kabinett wollen sogar noch einen Schritt weiter gehen. So will Innenministerin Theresa May der Polizei die Befugnis geben, über ganze Quartiere Ausgangssperren zu verhängen. Und Arbeitsminister Iain Duncan Smith prüft, ob allen im Zusammenhang mit den Krawallen verurteilten StraftäterInnen die Sozialleistungen gestrichen werden können.

Auch der Entscheid der Stadtverwaltung von Wandsworth geniesst die Unterstützung des Premierministers. Die Massnahme sei «hilfreich», sagte er im Fernsehen. Und wenn sich Familien keine neue Wohnung leisten können? «Das hätten sie sich vorher überlegen müssen, bevor sie zu plündern begannen.» Mittlerweile haben auch andere Gemeinden angekündigt, Straffällige samt Familie aus Sozialwohnungen zu vertreiben.

Menschenrechtskonform?

Dabei ist die Legalität dieser Kollektivbestrafung höchst fraglich, wie die Rechtsanwältin Elizabeth Prochaska ausführt: «Dass eine Familie ihr Obdach verliert, weil sich jemand an einem Krawall beteiligt hat, ist rechtlich gesehen eine zweifelhafte Angelegenheit. Gemäss geltendem Gesetz reicht ein Aufruhr kaum für eine Zwangsräumung.» Sollte Minister Pickles tatsächlich das Gesetz ändern, wäre das nicht mit den Menschenrechten vereinbar. Die Anwältin hält auch die langen Haftstrafen, die von den Gerichten verhängt werden, für exzessiv: «Die Teilnahme an einem Krawall kann bei der Urteilsfindung als erschwerender Faktor gewertet werden. Aber sie rechtfertigt noch lange nicht solch lange Haftstrafen.»

Elizabeth Prochaska ist eine von vielen, die den rigorosen Kurs von Justiz und Regierung kritisieren. So warnt auch die Bürgerrechtsorganisation Liberty vor einer Verschärfung der Gesetze. Ein noch autoritäreres Vorgehen sei kaum geeignet, die Probleme zu lösen. Ähnlich argumentiert auch Sophie Willett von der Howard League for Penal Reform, einer Organisation für die Reform des Strafsystems. Der Entzug von Sozialleistungen sei kontraproduktiv: «Wir dürfen den Menschen nicht jene Dinge wegnehmen, die die Chancen verringern, dass sie straffällig werden. Dazu gehört eine angemessene Behausung.» Zudem verfehlten kurze Haftstrafen in den meisten Fällen den behaupteten Zweck: «Während dieser paar Monate sitzen sie einfach in einer Zelle herum und müssen sich nicht mit ihrer Tat auseinandersetzen. Das Gefängnis ist für sie oft angenehmer als etwa ein Sozialdienst, der viel sinnvoller wäre.»

Dazu komme, dass die Gefängnisse ohnehin schon hoffnungslos überfüllt seien: «In den letzten fünfzehn Jahren hat sich die Zahl der Gefangenen verdoppelt. Jetzt kommen Hunderte junge Leute dazu.» Laut Angaben des Justizministeriums verbüssen in England und Wales derzeit 86 654 Menschen eine Haftstrafe, so viele wie nie zuvor. 723 sind im Zusammenhang mit den Krawallen eingebuchtet worden, es gibt kaum noch freie Plätze – und täglich kommen neu verurteilte Jugendliche aus den Armenvierteln dazu. In den Gefängnissen gab es bereits Übergriffe gegen die neuen Häftlinge; die Strafvollzugsbehörden warnen vor weiteren Gewaltakten. Aber die finden hinter Mauern statt, abseits der Öffentlichkeit.

Direktive von oben

Auch in den Reihen der liberaldemokratischen Koalitionspartei wachsen die Zweifel an der Null-Toleranz-Politik des Premierministers. Ihr Parteichef Nick Clegg will den geplanten Entzug von Sozialleistungen sorgfältig prüfen, um «unbeabsichtigte Konsequenzen zu vermeiden». Und die liberaldemokratische Abgeordnete Tessa Munt hatte dafür nur ein Wort übrig, das sie aber dreimal wiederholte: Dieses Vorgehen sei «bescheuert, bescheuert, bescheuert».

Allmählich wird auch klar, dass die traditionell konservative Justiz nicht nur aus eigenen Stücken so rabiat vorgeht, sondern auf Druck der Politik handelt. «Die Gerichte haben offenbar Anweisung, auch geringfügige Verstösse schnell und hart zu ahnden», sagt Willett. Ihrer Ansicht nach hat Cameron die Richtung vorgegeben. Für die Anwältin Prochaska ist das ein klarer Verstoss gegen die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative. Auch Menzies Campbell, ehemaliger Chef der LiberaldemokratInnen, kritisierte Cameron, weil dieser die Gerichte für ihre harten Urteile lobte: «Politiker», sagte er, «sollten die Urteile der Gerichte weder bejubeln noch auspfeifen.»

Fehlender Respekt

Ein grosser Teil der Bevölkerung scheint der Regierung jedoch beizupflichten. So unterschrieben innerhalb weniger Tage 200 000 BürgerInnen eine Onlinepetition, die harte Sanktionen und Kollektivstrafen bis hin zum Entzug der Sozialleistungen verlangt. Laut einer Umfrage halten 49 Prozent der BritInnen das repressive Vorgehen für angemessen; 32 Prozent fordern sogar noch härtere Strafen. Für Mike Raddie, der am letzten Donnerstag in Wandsworth demonstrierte, gibt es dafür einen zentralen Grund: die Berichterstattung der zumeist konservativen Medien. «Sie haben die harsche Reaktion regelrecht angestachelt.» Es sei schon unglaublich gewesen, wie lange die Printmedien gebraucht hätten, um nur mal mit den Leuten zu sprechen, die an den Krawallen beteiligt waren. Und das war seiner Meinung nach kein Zufall. «Wer mit den Leuten redet, merkt schnell, dass die Unruhen reale Ursachen haben – Armut, einen Mangel an Perspektiven, die alltäglichen Demütigungen, den fehlenden Respekt.»

Das sehen auch viele in den betroffenen Quartieren so. Die wachsende Jugendarbeitslosigkeit, das Sparprogramm der Regierung, die Schliessung sozialer Einrichtungen, die ständige Schikane durch die Staatsgewalt (siehe WOZ Nr. 32/11) – all das verlangt nach anderen, differenzierten Ansätzen. Darcus Howe, ein erfahrener Radiojournalist und Schriftsteller karibischer Abstammung, schockierte mit dieser Sicht der Dinge die BBC. In einem live ausgestrahlten Fernsehinterview erklärte er kurz nach Ausbruch der Unruhen, weshalb ihn die Gegengewalt der Strasse überhaupt nicht überrascht habe – die Übergriffe der Polizei und die Respektlosigkeit der Gesellschaft vor allem gegenüber schwarzen Jugendlichen seien ausschlaggebend gewesen. Die BBC-Moderatorin unterbrach das Gespräch hastig. In einem Zeitungsinterview vergangene Woche sagte Howe: «Die jungen Leute werden so weitermachen, bis sie Gleichheit und Respekt erfahren. Ich denke nicht, dass vier Monate Haft in einem kleinen Loch sie ändern werden.»


Wer waren die Randalierer? : Keine Jobs, keine Ausbildung

Ein Buchhalter, ein Friseur, ein Postbote, ein Rettungsschwimmer, ein Gerüstbauer, ein Makler, zwei Köche, ein Hilfslehrer, ein Jurastudent und eine achtzehnjährige «olympische Botschafterin», die bei den Spielen in London 2012 die BesucherInnen hätte begleiten sollen – vor allem die konservativen Blätter Britanniens beschreiben mit Genuss, wer nach den Unruhen im Land vor Gericht zitiert wurde. Alles zutiefst unmoralische Menschen, denen es an nichts mangelte: So lautet die Botschaft, die ja auch die achtzehn MillionärInnen im Regierungskabinett seit zwei Wochen unablässig wiederholen. Doch die Fakten sehen anders aus. Nicht einmal neun Prozent der Aufrührer und Plünderer (es waren überwiegend junge Männer im Alter von 11 bis 25 Jahren) haben einen Job oder einen Studienplatz. Das ergab eine Auswertung der Personaldaten von bisher rund tausend verhafteten und eingesperrten Verdächtigen.

Nicht nur das. Stadtplaner Alex Singleton von der Uni Liverpool, der für den «Guardian» die Daten analysierte, fand heraus, dass 41 Prozent der mutmasslichen Delinquenten in den allerärmsten Bezirken Englands leben. Zwei Drittel wuchsen in Vierteln auf, in denen sich die sozialen Verhältnisse während der letzten Jahre verschlechterten.

Gerade dort aber sparen die Regierungen seit langem. Schon unter Führung der Labourpartei sind die Streetworker weitgehend verschwunden, weil die früheren Premiers Tony Blair und Gordon Brown das Budget für diese menschenorientierte Sozialarbeit kontinuierlich zusammenkürzten. Eine enorme Kinderarmut, hohe Arbeitslosigkeit, weit verbreitete Hoffnungslosigkeit, Schulen ohne Einrichtungen zur Betreuung schwieriger Jugendlicher, billige Drogen – ein Mix aus all diesen Faktoren produziere in diesen Quartieren ein Gewaltpotenzial, warnt der Kriminologe Rod Morgan schon lange (siehe WOZ Nr. 36/08). Rechtswidrige Handlungen seien für die Jugendlichen «oft der einzige Weg, an Konsumgüter heranzukommen, die wir für selbstverständlich halten und stolz zur Schau stellen», schrieb er schon vor Jahren. Drei Jahre lang war Morgan Leiter des Youth Justice Board, der für Jugendkriminalität zuständigen Regierungsbehörde. 2007 trat er aus Protest gegen Labours Law-and-Order-Politik zurück.

Draufhauen und Wegsperren haben mithin eine lange Tradition in Britannien; nirgendwo in Westeuropa sitzen so viele Menschen im Gefängnis. Neu ist lediglich die Vehemenz, mit der die konservativ-liberale Regierung den Klassenkampf von oben orchestriert. Weil sie genau dort spart, wo die Ärmsten leben.