Die postkoloniale Schweiz: Warum zirkulieren solche Bilder ungestört in einer breiten Öffentlichkeit? In der Schweiz ist die Meinung weitverbreitet, dieses Land habe nichts, aber auch gar nichts mit dem Kolonialismus zu tun.
Roger Federer in Äthiopien, Birgit Steinegger verkleidet als Frau Mgubi und der Sklave Renty als Namensgeber eines Schweizer Bergs: Anhand von drei Beispielen veranschaulichen drei Kulturwissenschaftlerinnen den Umgang mit postkolonialen Bildern in der Schweiz.
Ein Probelokal für Rockgruppen irgendwo in der Schweizer Agglomeration: An der E-Gitarre steht breitbeinig eine ältere Frau in einem gepunkteten Kleid mit Spitzenkragen. Sie schrammt über die Saiten und wirft sich in Rockerpose. Hinter ihr drischt eine bebrillte ältere Dame mit Dauerwellen herzhaft auf das Schlagzeug ein. Dazu schunkeln zwei Backgroundsängerinnen, eine poppige Lady mit Jeans-Minirock und rosa Mèche neben einer perlenbestückten Dame mit toupiertem Haar. Alle singen mit Verve: «Ja, ja, das isch halt s Läbe, s chund guet oder gaht denäbe ...». Da geht die Tür auf und eine afrikanische Frau betritt den Raum. «Na, wer sagt es denn!», ruft die Bandleaderin, «Frau Mgubi! Was meinen Sie, Sie haben ja die Musik im Blut, was fehlt noch?» «Bum, bum», antwortet die Angesprochene, die sich daraufhin zu den Backgroundsängerinnen gesellen darf. «So hat es Pfeffer!», ruft die Schlagzeugerin, und die «Hausfrauenrockband» ist komplett.
Eine Szene aus der Satiresendung «Total Birgit» des Schweizer Fernsehens. Sie zeigt, dass koloniale Bilder und ihre postkolonialen Adaptionen in der Schweiz weitverbreitet sind. Und weil man sich hierzulande bislang kaum mit der eigenen kolonialen Vergangenheit auseinandergesetzt hat, werden solche Bilder auch selten problematisiert. Dabei liesse sich aus einer postkolonialen Perspektive vieles dazu sagen. Etwa, wie das Publikumslachen eingeblendet wird, wenn Frau Mgubi mit ihrem übergrossen Hintern eine Schublade zustösst. Im Lied wird es ihr vorbehalten sein, am Ende jeder Strophe «bum, bum» zu singen und mit den Augen zu rollen. Auch sonst beschränken sich ihre sprachlichen Äusserungen auf «bonschur», «voilà» und «oui, oui, oui».
«Total Birgit» wird seit 1998 ausgestrahlt und ist beim Publikum beliebt. Die Schauspielerin Birgit Steinegger, die alle zentralen Rollen der Sendung selbst spielt, ist Preisträgerin des Salzburger Stiers und eine bekannte Grösse im Schweizer Unterhaltungsgeschäft. Die Sendung, deren Drehbuch von Markus Köbeli geschrieben wird, operiert mit dem Werkzeugkasten der Parodie: Altbekannte Klischees werden neu in Szene gesetzt. Dabei wird in einer Art und Weise mit der vorherrschenden Repräsentationsordnung gebrochen, dass sozialkritische Untertöne entstehen. Die Protagonistinnen sind Hausfrauen und verkörpern Subjekte, die in der aktuellen Politik, im Showbusiness und in der Wirtschaft keine Rolle spielen. In der Sendung werden sie durch Zufälle in Machtpositionen katapultiert, leiten plötzlich ein Grossunternehmen, organisieren ein politisches Gipfeltreffen oder gewinnen – wie in der beschriebenen Folge – den Schweizer «Musicstar»-Wettbewerb.
Das subversive Spiel mit Klischees kommt, wie die Figur von Frau Mgubi zeigt, allerdings dann an seine Grenzen, wenn es um Rassismus geht. Zwar ist auch die italienische Migrantin mit ihrem «sonnigen Gemüt» und «feurigen Temperament» bis zur Grenze des Erträglichen überzeichnet. Immerhin aber kann Frau Schruppatelli sprechen und handeln. Sie überrascht durch ihre ungewöhnlichen Versuche, gemeinsam mit der Hauptfigur Frau Iseli die soziale Hierarchie auf den Kopf zu stellen. Anders Frau Mgubi. In ihrer Darstellung ist kein parodistischer Bruch, keine subversive Umkehrung erkennbar. Mgubi dient lediglich als exotische Kulisse für Handlungen, die andere ausführen. Für diese Figur holten Köbeli und sein Team einfach nur koloniale, rassistische Stereotype aus der Mottenkiste.
Diese verweisen auf ein koloniales Bildarchiv, das über die Schweiz hinausführt: Das angeblich grosse Hinterteil afrikanischer Frauen ist seit dem 19. Jahrhundert Bestandteil rassistischer Vorstellungen, die sowohl in populären wie auch in wissenschaftlichen Kontexten zirkulieren. Unter anderem sind sie mit der Figur von Sarah Baartman verbunden, einer südafrikanischen Frau aus der Kap-Region, die Anfang des 19. Jahrhunderts nach London gebracht und danach in England und Frankreich auf Völkerschauen als «Hottentotten-Venus» ausgestellt worden war. Baartmans Körper galt als exotisch, unförmig und monströs und wurde in einen starken Gegensatz zum idealisierten Körper der weissen Frau gesetzt. Teile ihres Körpers sind nach ihrem frühen Tod im Pariser Musée de l’Homme ausgestellt und erst in den 1980er-Jahren nach langem Kämpfen entfernt worden. Als Nelson Mandela 1994 von Frankreich die Herausgabe von Baartmans Überresten forderte, stiess er auf grossen Widerstand. Es dauerte nochmals acht Jahre, bis diese 2002 nach Südafrika überführt und dort beigesetzt werden konnten.
Der Verweis auf die Geschichte von Sarah Baartman zeigt: Eine rassistische Darstellung schwarzer Frauen, wie sie Frau Mgubi verkörpert, kann nicht einfach als «unschuldig» oder «nicht so ernst gemeint» gelten. Alte, verletzende Bilder aus dem kolonialen Archiv mit einer gewalttätigen Geschichte werden dadurch erneut aufgerufen und reproduziert. Warum zirkulieren solche offensichtlich rassistischen Bilder ungestört in einer breiten Öffentlichkeit? In der Schweiz ist die Meinung weitverbreitet, wonach dieses Land nichts, aber auch gar nichts mit dem Kolonialismus zu tun habe. Ermöglicht gerade dieses Selbstverständnis, einen Umgang mit kolonialen Bildern zu pflegen, der in anderen Ländern undenkbar wäre oder zumindest auf starken Widerstand stossen würde?
Wie das Bild der exotisierten afrikanischen Frau mit grossem Hinterteil stammt auch dasjenige des weissen «Übervaters» aus dem kolonialen Archiv. Vom Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis zu Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, waren viele WissenschaftlerInnen der Kolonialzeit der Ansicht, AfrikanerInnen seien evolutionär gesehen hinter den EuropäerInnen zurückgeblieben und ihr geistiges Niveau sei mit jenem europäischer Kinder zu vergleichen. Die Kolonisation wurde entsprechend damit legitimiert, Afrika aus seiner zeitlosen «Starre» zu befreien und mit europäischer Hilfe zivilisiert und fortschrittlich zu machen.
Dieser Topos hielt sich auch nach der Dekolonisation ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Exkolonien galten nun als «junge Nationen», die vom «alten Europa» entwickelt werden mussten. Die Rolle der Schweiz war dabei eine besondere, nämlich die einer Vermittlerin und humanitären Helferin. Nachdem ihre Neutralität im Zweiten Weltkrieg etwas in Verruf geraten war, suchte die Schweiz nach einer Kompensation für ihre von den ehemaligen Alliierten als passiv kritisierte Haltung. Sie fand sie in derjenigen der humanitären Nation. Die Neutralität galt fortan als Garant für die Abwesenheit von Machtabsichten in der Schweizer Entwicklungshilfe, während das humanitäre Engagement die passive Haltung der Neutralität aufwiegen sollte. So gelang es der Schweiz, sich als scheinbar interessenlose Vermittlerin zwischen Exkolonialisten und Exkolonisierten zu inszenieren.
Dieses Selbstbild hält sich bis heute. Das zeigt etwa die (Selbst-)Inszenierung von Tennisstar Roger Federer, der mit einer Stiftung, die seinen Namen trägt, Projekte unter anderem in Äthiopien finanziert. Am «Match for Africa», einer Wohltätigkeitsveranstaltung, mass er sich am 21. Dezember 2010 mit seinem Erzrivalen Rafael Nadal. Im Vorfeld dieses Ereignisses besuchte Federer – begleitet von Medienleuten aus aller Welt – eines seiner Projekte in Äthiopien. Der «Blick am Abend» widmete diesem Besuch eine ganze Seite, die Hälfte davon nahm ein Bild ein. Es zeigt Federer kniend und in die Kamera grinsend. Um ihn herum gruppieren sich zwölf Buben, im Hintergrund sind vier Männer zu sehen. Die Erwachsenen werden allerdings erst beim genaueren Hinsehen als solche erkennbar – auf den ersten Blick gehen sie in der Kinderschar unter. Mit seiner linken Hand berührt Federer einen der Knaben am Arm. Die Kinder scheinen Spass zu haben, der Begleittext legt nahe, dass dies mit Federers Präsenz und seiner Stiftung zu tun hat. Die postkoloniale Forschung problematisiert jedoch solche Verbindungen von Schrift und Bild, bei denen der Text vorgibt, was zu sehen ist. In diesem Fall ist das Misstrauen umso berechtigter: Das im «Blick am Abend» abgedruckte Bild stammt nicht etwa von Federers Besuch in Äthiopien 2010, sondern von einem Besuch in Südafrika fünf Jahre zuvor.
Über dem Bild prangt die Aufschrift «Rogers Herz für Afrika». Im Artikel wird Federer als «Übervater» der Kinder bezeichnet und der Satz «Auf die Unterstützung von Papa Federer können die Kinder noch lange zählen» fett hervorgehoben. Die Bedeutung, die der Begleittext der Begegnung Federers mit den Äthiopiern zu geben versucht, impliziert eine klare Hierarchie: Der weisse Mann beschützt die schwarzen Kinder. Dass die erwachsenen Männer auf dem Bild in der Masse der Kinder untergehen, verdeutlicht diesen Effekt zusätzlich – auch sie stehen unter Federers Schutz. Er repräsentiert die Schweizer Expertise und Entwicklungshilfe, die Kinder das unterentwickelte Afrika.
Das dargestellte Machtverhältnis wird dadurch verstärkt, dass nur Federer als Individuum dargestellt wird. Über die abgebildeten Afrikaner wird nichts gesagt, ihre Namen werden nirgends erwähnt. Sie scheinen Teil einer unidentifizierbaren und austauschbaren Masse zu sein, eine Projektionsfläche für die Vorstellungen weisser EuropäerInnen von fröhlichen, armen und dankbaren afrikanischen Kindern und eine Kulisse für Federers Inszenierung. Das zeigt sich auch daran, dass es für die Redaktion des «Blicks am Abend» offensichtlich keine Rolle gespielt hat, von wann oder wo das Bild stammt, geschweige denn, wen es darstellt. Äthiopien und Südafrika scheinen austauschbare Orte eines gänzlich undifferenzierten Kontinents zu sein.
Zudem wird den afrikanischen Kindern eine Passivität zugeschrieben, die auch den Ton des Texts bestimmt: «Den kleinen Äthiopiern ist es egal, ob Myla und Charlene [Federers Kinder] einmal Tennis spielen werden. ‹Werden auch sie uns unterstützen?›, lautet die brennende Frage.» Tennis – in der Schweiz der Grund für Federers Bekanntheit – interessiert in Afrika nicht, so suggeriert der Text: Hier geht es ums nackte Überleben. Damit wird auch behauptet, die ÄthiopierInnen seien über Generationen hinweg abhängig von Federers oder anderweitiger Hilfe aus dem Norden. Die Armut scheint unveränderlich, und ihre globalen historischen, politischen und sozialen Dimensionen bleiben ausgeblendet.
Hier wird der Diskurs der humanitären Schweiz fortgeschrieben – mit Federer als Repräsentanten für die selbstlose, aber reiche und hochtechnisierte Schweiz, die in Afrika ihre Hilfe anbietet. Andere Rollen der Schweiz in Afrika bleiben unsichtbar. Die Schweizer Beteiligung am transatlantischen Handel mit SklavInnen etwa, oder ihre Verstrickungen mit dem Apartheidregime, auf die Roger Federers Geschichte – er ist Sohn einer weissen Südafrikanerin – auch hinweisen könnte.
Ansätze zu einem andern Diskurs, einem, der sich mit der kolonialen Vergangenheit der Schweiz auseinandersetzt, lassen sich in der Kampagne «Démonter Agassiz» erkennen. Vor vier Jahren initiierte der St. Galler Historiker Hans Fässler die Kampagne zur Umbenennung des Agassizhorns (3945 m) in den Berner Alpen (auch die WOZ hat darüber berichtet). Der Berg ist nach dem Schweizer Naturforscher Louis Agassiz (1807–1873) benannt, der vor allem für die Entwicklung der Eiszeittheorie bekannt ist. Ausgeblendet blieben bis 2007 seine Fürsprache für die Sklaverei in den US-amerikanischen Südstaaten und seine rassentheoretischen Forschungen.
Um die «Minderwertigkeit» von Schwarzen gegenüber der «weissen Rasse» zu «belegen», liess er 1850 SklavInnen in South Carolina fotografieren. Die Bilder zeigen Ganzkörperaufnahmen von nackten, stehenden Männern – frontal, im Profil und von hinten – und sitzende Männer und Frauen mit freiem Oberkörper, die frontal und im Profil abgelichtet worden sind. Agassiz benutzte die Fotografien als «objektive Abbilder», sie waren für ihn selbsterklärend.
Die Mitglieder der Kampagne kritisieren die hiesige Erinnerungspolitik an Agassiz. In einem provokativen Aufruf schlagen sie vor, das Agassizhorn in Rentyhorn umzubenennen, nach einem der fotografierten Sklaven. Rentys Frontalaufnahme wurde hierfür dem ersten Pressecommuniqué beigelegt. Dasselbe Foto ist auf der Webseite der Kampagne aufgeschaltet und wird in der Berichterstattung immer wieder gezeigt. Die Verwendung der Fotografie geht also über eine blosse Illustration hinaus und formte die Kampagne von Beginn an mit. Trotz der erklärten antirassistischen Absicht der Kampagne wirft die Verwendung dieses Bilds Fragen auf.
So ist zum Beispiel unklar, weshalb der Berg nach Renty und nicht nach einer der beiden fotografierten Sklavinnen benannt werden sollte. Laut Fässler habe man sich für einen männlichen Sklaven entschieden, «weil bei den mit nacktem Oberkörper fotografierten Frauen noch eine zusätzliche Verletzung durch das Auge der Kamera dazukam». Mit anderen Worten: Die Reproduktion der Bilder würde eine Komplizenschaft mit dem weissen männlichen, voyeuristischen Blick nahelegen, für den die Bilder 1850 intendiert waren und der die Abgebildeten auf ihren Körper reduziert. Renty eignet sich mit seiner flachen Männerbrust, der weniger vom direkten Blick in die Kamera ablenkt, besser, um der Kampagne «ein Gesicht zu geben».
Allerdings verpasst es die Kampagne mit dem Ausschluss der Sklavinnen auch, mit dem patriarchalen Blick zu brechen – sie macht ihn ebenso unsichtbar wie die Frauen selbst. Damit stellt sich die Frage, ob die Benennung des Berges nach einer (weiteren) männlichen Identifikationsfigur tatsächlich mit der imperialen Praxis bricht oder sie nicht vielmehr weiterführt. Mit der geografischen Namensgebung von Landschaftsmerkmalen und insbesondere von Bergspitzen wird nicht nur ein Herrschaftsanspruch verkündet, sondern auch bestimmt, wer geehrt und an wen erinnert werden sollte und an wen nicht.
Wären andere Lösungen undenkbar gewesen? Wie hätte der Blick auf das Bild der Sklavinnen verändert werden können, wäre statt des Halbporträts nur der Kopf einer Sklavin gezeigt worden?
Problematisch ist auch der Status von Renty, der an die Sklaverei erinnern und ihr Elend verkörpern soll. In der Kampagne kommt dem frühen fotografischen Verfahren der Daguerreotypie die Rolle zu, vergangenes Unrecht historisch dokumentiert zu haben. Das Bild dient dazu, die Existenz des unterdrückten Sklaven Renty sichtbar und die Notwendigkeit seiner «Befreiung» und Rehabilitation nachvollziehbar zu machen. Von der abgebildeten Person aber wissen wir nichts, nicht einmal, ob sie sich tatsächlich Renty nannte oder ob dies ein Sklavenname war, der ihm, wie damals üblich, von Händlern oder seinem Besitzer aufgezwungen worden war. Wäre dies der Fall, würde das Agassizhorn nach seiner Umbenennung den rassistischen kolonialen Diskurs in anderer Form fortschreiben. Auch, weil Renty, der einem anonymen Kollektiv, dem Ungerechtigkeit widerfahren ist, ein Gesicht geben soll, während er gleichzeitig eigenartig gesichtslos bleibt. Dies im Gegensatz zu Agassiz, über den wir viel wissen und der auf vielfältige Weise repräsentiert wird. Mittlerweile ist im Rahmen der Kampagne «Démonter Agassiz» Kontakt mit einer möglichen Nachfahrin von Renty entstanden: Die Amerikanerin Mattye Pearl Thompson Lanier geht nach intensiven Recherchen davon aus, dass Renty womöglich ihr Ururgrossvater war. Gemäss der Familiengeschichte, die von Generation zu Generation weitergegeben worden ist, war «Papa Renty» eine angesehene und rebellische Person. Er soll Lese- und Bibelunterricht erteilt haben und sei bekannt gewesen für seine guten Ratschläge. Offen bleibt bislang, inwiefern die Aussagen von Lanier eine neue Perspektive auf die Kampagne eröffnen.
Bisher wurden diese Ambivalenzen und Unsicherheiten, die eng mit Rentys Geschichte zusammenhängen und die diese gerade durch diese Brüchigkeit verdeutlichen könnte, in der aktuellen Kampagne kaum reflektiert. Wie bei Agassiz gilt die Foto als Abbild von «Rentys Realität», die den BetrachterInnen unmittelbar zugänglich sein soll. Dabei hat sich die Wahrnehmung dieser Realität in den vergangenen 150 Jahren grundsätzlich verändert: Erkannte Agassiz in dem Bild die Minderwertigkeit von Schwarzen, sehen die Mitglieder der Kampagne darin einen unrechtmässig unterdrückten Sklaven. Rentys Foto, so die Bildlegende im Pressecommuniqué, würde «einen Sklaven aus einer amerikanischen Südstaatenplantage» darstellen. Dabei gibt die Foto selbst weder einen Hinweis auf den Sklavenstatus noch auf die Örtlichkeit oder den Kontext, in dem die Aufnahme gemacht wurde. Diese Deutung wird erst durch die Bildunterschrift möglich. Wie im Falle des Artikels im «Blick am Abend» lohnt es sich auch hier, die Verbindung von Bild und Text zu problematisieren. So haben postkoloniale AutorInnen in einer Gegenlektüre von Agassiz’ Fotoreihe beispielsweise den direkten Blick der SklavInnen in die Kamera hervorgehoben und ihn als Zeichen dafür gedeutet, dass ihre Festschreibung als Objekt nicht gänzlich gelingen kann: Ihr Blick erinnert daran, dass der fotografierte Körper zu einem Subjekt gehört.
Auch in Bezug auf Rentys Bild lässt sich fragen, ob es nicht möglich ist, auf dem Bild vorerst einen älteren Mann zu sehen, der ruhig in die Kamera blickt? Mag der nackte Oberkörper Mitte des 19. Jahrhunderts noch schockierend gewesen sein – gegenüber dem bis zum Hals zugeknöpften Kragen von Louis Agassiz etwa –, hat dieser Aspekt heute seine Wirkung verloren. Die unterschiedlichen Interpretationen dieses einen Bilds zeigen, dass seine Botschaft nicht eindeutig ist. Die Fotografie verändert sich mit den Geschichten, in die sie eingebettet wird. Wer Rentys Bild als Nachweis von Unterdrückung interpretiert, schreibt es vielleicht vorschnell fest und übergeht so Momente von Widerstand. Könnte es sein, dass sich in der Kampagne «Démonter Agassiz» zwar das Gesehene geändert hat, der Blick aber derselbe geblieben ist?
Die Probleme rund um Rentys Bild zeigen, dass der «postkoloniale Zustand» der Schweiz nicht einfach so abgelegt oder überwunden werden kann. Vielmehr verweisen sie darauf, wie bestimmend das koloniale Archiv auch für die Herstellung aktueller Bilder ist. In diesem Sinne schützt auch eine antirassistische Kritik, wie sie in der «Démonter Agassiz»-Kampagne vertreten, oder eine postkoloniale Kritik, wie sie in diesem Artikel ausgeübt wird, nicht vor der erneuten Verwendung postkolonialer Bilder – sie macht diese aber reflektierbar. Der weitgehend naive Umgang mit postkolonialen Bildern hingegen, wie er in der Darstellung von Frau Mgubi und von Roger Federers Wohltätigkeitsarbeit ersichtlich wird, zeugt davon, dass die Auseinandersetzung mit einer postkolonialen Bildpolitik in der Schweiz noch weitgehend aussteht.
Das Forschungsprojekt
Dieser Artikel ist im Kontext eines Forschungsprojekts zur postkolonialen Schweiz entstanden, das vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert und an der ETH Zürich durchgeführt wird. Seit wenigen Jahren beschäftigen sich auch Schweizer ForscherInnen mit der Frage, wie die Einsichten der Postcolonial Studies auf ein Land angewendet werden können, das keine formale Kolonialmacht und dennoch in koloniale Praktiken involviert war. 2012 wird im transcript Verlag ein Sammelband zur postkolonialen Schweiz erscheinen, herausgegeben von Patricia Purtschert, Barbara Lüthi und Francesca Falk.
Nachtrag vom 24. März 2016: Der Rassist im Alpen-Club
Er war einer der berühmtesten Naturwissenschaftler seiner Zeit. Er erforschte Fische und Gesteine und gehörte zu den Ersten, die verstanden, dass es Eiszeiten gegeben hatte. Ein Schweizer, auf den das Land stolz sein kann: Das war Louis Agassiz (1807–1873) bis vor wenigen Jahren – bis der St. Galler Historiker Hans Fässler daran erinnerte, dass der Westschweizer auch ein übler Rassist gewesen war. Er vertrat krude Rassentheorien, rechtfertigte die Sklaverei und liess 1850 in South Carolina SklavInnen entwürdigend fotografieren, weil er die Minderwertigkeit der Schwarzen beweisen wollte.
Agassiz hat nicht nur einen «eigenen» Berg im Berner Oberland, das Agassizhorn (3946 Meter), er ist auch bis heute Ehrenmitglied des Schweizer Alpen-Clubs (SAC). Vielleicht nicht mehr lange: Letzte Woche beschloss die St. Galler SAC-Sektion, sich dafür einzusetzen, dass der Rassist die Ehrenmitgliedschaft verliert. Sie nahm einen Antrag Fässlers mit 49 zu 34 Stimmen an. Der Historiker ist selbst überrascht: «In der Diskussion kamen viele ablehnende Voten – der SAC solle politisch neutral bleiben, es sei zu lange her, und Agassiz sei als Geologe, nicht als Rassist geehrt worden.»
Nun geht der Antrag an den Gesamtschweizer SAC. Dort heisst es, man könne «im jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Auskünfte erteilen». Der Antrag wird erst 2017 behandelt, weil die St. Galler Entscheidung weniger als neunzig Tage vor der diesjährigen Abgeordnetenversammlung gefallen ist.
Bettina Dyttrich
Nachtrag vom 1. Sepember 2016: Agassizhorn wird nicht zum Rentyhorn
Der Historiker Hans Fässler ist vorerst gescheitert. Er wollte das Agassizhorn (3946 Meter) nicht mehr nach dem Namen eines Gletscherforschers und wegweisenden Rassentheoretikers benannt wissen. Der Alpengipfel sollte den Namen des von ebendiesem Louis Agassiz zum Beweis für die «Minderwertigkeit der schwarzen Rasse» fotografierten Sklaven Renty tragen. Dies, nachdem prominente BerggängerInnen – von FDP-Ständerat Andrea Caroni über Heinz Imhasly, Geschäftsführer der Luftseilbahnen Fiesch-Eggishorn, bis zur Philosophin Patricia Purtschert – die Petition unterzeichnet hatten.
Die Behörden der Gemeinden Guttannen, Grindelwald (beide BE) und Fieschertal (VS), die der Umbenennung hätten zustimmen sollen, haben sich «keinen Zentimeter bewegt», lässt das Komitee «Démonter Agassiz» verlauten. So verwiesen die Gemeinden auf die hohen Kosten, die eine Umbenennung zur Folge haben würde – obwohl das Komitee herausgefunden hat, dass eine Umbenennung bei der Landestopografie «innert Sekunden» und ohne Kosten möglich wäre. Auch fürchteten sich die Gemeinden vor einer «allgemeinen Verunsicherung» in Bergführern oder Hüttenbüchern – und verwahrten sich dagegen, «das Denken vor zweihundert Jahren aus heutiger Sicht zu beurteilen und zu korrigieren». Fürwahr ein seltsames Geschichtsverständnis – in einem Land, das die Erklärung der Weltkonferenz gegen Rassismus mitunterzeichnet hat.
Man werde nun auf andere Orte fokussieren, «die Gewähr für eine gewisse Lernfähigkeit und Humanität» bieten würden, schreibt das Komitee. So stehe etwa am Eingang des Naturhistorischen Museums von Neuenburg eine Büste von Agassiz, sein Rassismus werde aber mit keinem Wort erwähnt.
Adrian Riklin
Nachtrag vom 9. März 2017: Der Rassist bleibt Mitglied
Fast hätte es Hans Fässler geschafft. Der St. Galler Historiker versucht seit Jahren, Louis Agassiz (1807–1873) vom Sockel zu heben. Denn dieser war nicht nur ein berühmter Naturforscher, sondern auch ein eifriger Rassentheoretiker – der US-Literaturwissenschaftler Alec Marsh hält ihn für den «einflussreichsten wissenschaftlichen Rassisten des 19. Jahrhunderts».
Vor einem Jahr hatte Fässler überraschend einen Antrag bei der St. Galler Sektion des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) durchgebracht: Der SAC St. Gallen solle sich beim gesamtschweizerischen SAC dafür einsetzen, dass Agassiz die Ehrenmitgliedschaft verliert. Doch dann erhob ein Mitglied Beschwerde, weil die St. Galler Sektion nicht im Voraus über das Traktandum informiert worden war. Am 2. März wurde die Abstimmung in St. Gallen wiederholt, und diesmal scheiterte der Antrag. «Man wollte sich ‹nicht in die Politik einmischen› und hat just damit das klare Zeichen gegeben: Der SAC ist in seiner Mehrheit nach wie vor ein bürgerlicher Verein rechts der Mitte», schreibt Fässler.
Bettina Dyttrich