Migrantenmorde in Deutschland: Auf dem rechten Auge blind

Nr. 46 –

Die Gefahr für die Demokratie von rechts werde oft verharmlost oder schöngeredet, sagt der deutsche Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. Doch die wirkliche Gefahr geht für ihn nicht vom rechten Terrorismus aus.

WOZ: Herr Butterwegge, seit bekannt wurde, dass sich in Deutschland ein «Nationalsozialistischer Untergrund» gebildet hat, der mindestens zehn Menschen ermordete, macht in den Medien der Begriff der «Braunen Armee Fraktion» die Runde. Was halten Sie davon?
Christoph Butterwegge: Da wird einmal mehr die Totalitarismustheorie bemüht, die Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus. Aber beide Strömungen haben nichts miteinander zu tun. Die Qualität der Gewalt ist ja auch eine ganz andere: Wenn Linksautonome etwa Strommasten fällen, ist das etwas völlig anderes, als wenn Rechtsterroristen türkische Migranten umbringen. Mit «Brauner Armee Fraktion» hat das nichts zu tun. Die aus der Schüler- und Studentenbewegung entstandene terroristische Gruppierung namens Rote Armee Fraktion hatte Repräsentanten des Staates ermordet. Nicht, dass ich das gutheissen oder verharmlosen will, aber es ist etwas anderes, ob man staatliche Repräsentanten in gepanzerten Fahrzeugen angreift oder ob es sich um wehrlose Migranten handelt. Diese Morde sind aus rassistischen, niederträchtigen Motiven passiert. Der Hass auf Migranten war der Auslöser.

Hat Sie die Nachricht erstaunt?
Nein. Es gibt in Deutschland eine Tradition, auf dem rechten Auge blind zu sein. Sobald man Gefahr für den Staat von links wittert, sind die Sicherheitsbehörden sehr schnell mit den schärfsten Massnahmen zur Stelle. Beim aktuellen Rechtsextremismus hat es aber über zwölf Jahre gedauert, bis man von einer «terroristischen» Vereinigung spricht.

Man misst mit unterschiedlichem Mass?
Ja, und das hat politisch-ideologische Gründe: Die Gefahr für den Staat von links wird immer sehr grossgeschrieben, während die Gefahr für die Demokratie von rechts eher verharmlost und schöngeredet wird. In den letzten Monaten und Jahren wurde vor allem über islamistischen Terror gesprochen, obwohl dieser bisher zum Glück keine blutige Spur durch Deutschland gezogen hat. Vom Rechtsterrorismus war jedoch nie die Rede. Dass es diesen gibt, überrascht mich überhaupt nicht, weil im Rechtsextremismus eine Tendenz zur Radikalisierung wirkt: hin zu mehr Militanz, grösserer Gewalt-, ja sogar Mordbereitschaft.

Wie bewerten Sie die Rolle des Staates bei den Mordfällen?
Die ist sehr zwielichtig. Es gibt Indizien, dass für die Neonaziterrorzelle in Zwickau von staatlicher Stelle Pässe besorgt worden sind. Wir wissen noch nicht, ob das stimmt. Zumindest ist nicht auszuschliessen, dass es Sympathien in Teilen der Sicherheitsbehörden gibt, etwa dem Verfassungsschutz in Thüringen, und vielleicht sogar Zusammenarbeit mit und Unterstützung für Rechsterroristen.

Wie bedeutend ist die rechtsextreme Szene in Deutschland?
Man würde dramatisieren, wenn man aus den aktuellen Geschehnissen schliessen wollte, dass ein grosses Netz und die Gefahr der Machtergreifung durch rechte Terroristen existieren. Das würde ihrer wahren Bedeutung nicht gerecht. Aber ich halte eine andere Richtung des Rechtsextremismus ohnehin für viel gefährlicher.

Nämlich?
Den Rechtspopulismus. Der Anfang der Woche neu gewählte NPD-Vorsitzende Holger Apfel spricht jetzt von «seriöser Radikalität», was nur ein Kosename für besser getarnte Brutalität ist. Das sind einfach Neonazis in Nadelstreifen, die ihr Gedankengut viel massenhafter unters Volk bringen können, indem sie sich zur Mitte hin öffnen. Und das wiederum bildet den geistigen Nährboden für rechte Terroristen. Wir haben in Deutschland keine bedeutende rechtspopulistische Partei. Aber Gruppierungen wie Pro Köln, Pro Deutschland und auch die Partei Die Freiheit können zu einer solchen Gefahr werden. Die Wahl von Holger Apfel ist für mich ein Indiz dafür, dass sich auch die NPD scheinbar mässigt. Nicht, dass sie zu so etwas wie einer deutschen SVP mutieren könnte, aber die NPD wird versuchen, seriös zu erscheinen und salonfähig zu werden. Und das wird man natürlich nicht, indem man offen rechten Terrorismus unterstützt. Zwar distanziert man sich scharf davon, aber die Frage ist, was in den Hinterzimmern passiert. Bleiben die Kontakte zu den militanten Neonazigruppierungen, den sogenannten Freien Kameradschaften und den Autonomen Nationalisten bestehen? Ich glaube nicht, dass Apfel diese Verbindungen aufkünden, sondern weiter den Spagat versuchen wird: einerseits rechtspopulistisch zu argumentieren, sich als «Kümmererpartei» der sozial Vernachlässigten zu etablieren, und andererseits die militanten Neonazis weiter an sich zu binden.

Jetzt wird wieder ein Verbot der NPD gefordert.
Ein solches Verbot wird höchstens neue Märtyrer erzeugen und das Ziel nicht erreichen, wenn es von den Behörden nur als blinder Aktionismus erfolgt – oder wenn es gar als Feigenblatt verwendet wird, um Entschlossenheit zu demonstrieren. Ein Verbot der NPD ist nur sinnvoll in Ergänzung zu einer konsequenten Aufklärung und zu mehr politischer Bildung. Man muss die Demokratie ernst nehmen und jungen Menschen klarmachen, dass Migranten die gleichen Rechte haben, nicht schlechtere und erst recht nicht Menschen niederen Ranges sind.

Christoph Butterwegge

Der Professor für Politikwissenschaft Christoph Butterwegge (60) lehrt am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaft der Universität Köln.