Demenz und Pflege: Hilfe ab 39 Franken pro Stunde

Nr. 49 –

Im Alter zu Hause bleiben – das würden die meisten Menschen gern. Doch wie steht es in der Schweiz um die Möglichkeiten, sich diesen Wunsch zu erfüllen? Zu Besuch bei einem Ehepaar, das daheim lebt und Pflegedienste in Anspruch nimmt.

Samstagnachmittag in einer hellen, gemütlichen Wohnung im obersten Stock der Alterssiedlung Porthof in Jona. Hier wohnen Paula und Köbi Fuchs. Für die Besucherin scheint es zunächst vor allem der Ehemann zu sein, der Hilfe braucht: Er ist ein dünner Mann, etwas wacklig auf den Beinen. Dagegen wirkt seine Frau rüstig und geradezu jung. Doch dann erzählt der 83-jährige ehemalige Damenstrumpfverkäufer von seinen Geschäftsreisen, währenddem sich Paula Fuchs im Gespräch immer wieder vorstellt und nach dem Grund des Besuchs fragt.

Da ist klar: Ohne Hilfe könnte sich Paula Fuchs wohl kaum mehr im Alltag orientieren. Das Ehepaar lebt zu Hause, obwohl sie schwer dement ist und er an Parkinson leidet – und die beiden nicht schwerreich sind. Möglich ist das nur mit intensiver Betreuung: Nebst der Spitex kommt täglich für fünf bis sechs Stunden jemand von der Firma Home Instead vorbei, einem Unternehmen, das ursprünglich aus den USA stammt und auf privater Basis nichtmedizinische Betreuung anbietet.

Die Grenzen der Spitex

Schweizweit leben heute etwa 107 000 Menschen mit Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz. Schätzungen gehen von 300 000 Demenzkranken bis zum Jahr 2050 aus. Dazu kommt die demografische Entwicklung: Die Zahl der über Achtzigjährigen wird sich in den nächsten 45 Jahren fast verdreifachen. Wie geht die Schweiz mit so vielen Demenzkranken und Hochbetagten um? «Derzeit gibt es einige sozialpolitische Lücken und Mängel im Bereich der Senioren- und Demenzbetreuung», sagt der Zürcher Soziologieprofessor François Höpflinger. Eine dieser Lücken sieht Höpflinger etwa darin, dass die Spitex nur zeitlich beschränkte Einsätze anbietet. Angehörige verausgabten sich zudem oft aus finanziellen Gründen: «Als Sohn oder Tochter die alten Eltern zu Hause zu betreuen, ist billiger, als sie in ein Pflegeheim einzuweisen.» Höpflinger sieht in privaten Betreuungsangeboten allerdings auch nicht die Antwort auf die oben aufgeworfenen Fragen: «Leisten kann sich diese Form von Betreuung nur jemand mit einem grossen Einkommen.» In der Schweiz sei das Modell der privaten Betreuung im Alter anders als etwa in Deutschland oder Italien noch nicht so weit verbreitet, weil die Krankenkassen die Kosten nicht übernähmen. «Ausserdem führt es zu neuer Ausbeutung, wenn etwa Osteuropäerinnen alte oder demente Menschen drei Monate lang rund um die Uhr betreuen», so Höpflinger. Ausserdem stellt sich die Frage, wer denn beispielsweise in Polen zukünftig die alten Leute pflegt, wenn zu viele Polinnen hierzulande für die Altenbetreuung eingestellt werden. Es entstehen dieselben Lücken auch in Polen – Polen muss sich dann wiederum nach Arbeitskräften aus dem Ausland umsehen.

Eine der sogenannten Caregivers von Paula und Köbi Fuchs ist Regula Meier von der Home Instead. Zusammen mit einer Kollegin betreut sie das Ehepaar. Der Umgang zwischen der 53-jährigen Betreuerin und ihren KlientInnen ist vertraut und natürlich. Die 79-jährige Paula Fuchs scheint Regula Meier als irgendetwas zwischen Tochter und Mutter akzeptiert zu haben. Sie kaufen zusammen ein, kochen oder machen Ausflüge. Köbi Fuchs sagt: «Ich bin wahnsinnig froh, dass wir nicht ins Heim mussten.» Dass er von fremden Personen betreut wird, stört ihn nicht. Paula Fuchs erzählt der Besucherin, sie sei «schaurig froh», dass ihr neben ihrer Arbeit im Service nun im Haushalt jemand etwas unter die Arme greife – Paula Fuchs ist wohlgemerkt seit über zehn Jahren pensioniert.

Auf den ersten Blick scheinen sie die perfekte «Altersidylle» zu haben. Tatsächlich steckt aber ein schwieriger und langer Weg dahinter: «Während rund fünf Jahren habe ich mich um meine Eltern gekümmert», sagt ihre Tochter Irène Fuchs. Neben ihrem Vollzeitjob sei es jeweils hart gewesen, nach einem langen Arbeitstag noch bei den Eltern nach dem Rechten zu schauen. «Ich hätte mir oft mehr Unterstützung von meinen Geschwistern gewünscht», erzählt sie. Und trotzdem kam es für sie nicht infrage, die Eltern in ein Heim zu schicken: «Ich wollte und will so lange wie möglich ihrem Wunsch nachkommen, in der Wohnung bleiben zu können. Schliesslich haben sie sich ja auch um mich gekümmert, als ich ein Kind war.» Doch ein Privatleben hatte sie damals nicht mehr. Migräne hatte sie schon lange, doch sie wurde immer schlimmer: «Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr.»

Eingestehen, dass man Hilfe braucht

Von überforderten Familienmitgliedern hört auch Ueli Bernhard, Geschäftsführer der Alzheimervereinigung des Kantons Zürich (ALZ Zürich), immer wieder. «Angehörige haben oft ein schlechtes Gewissen, Familienmitglieder in einem Heim betreuen zu lassen. Vielfach rutschen sie so schleichend in Situationen, die sie überfordern: Zuerst ist die Betreuung noch nicht so intensiv, erst im Laufe der Zeit wird es mehr und mehr. Einzugestehen, dass man Hilfe braucht, ist schwierig. Und zwar sowohl für die Angehörigen als auch für die Betroffenen selbst. Gelingt das früh genug, kann ein Entlastungs- oder Betreuungsservice viel sachter einsteigen, als wenn es schon fünf vor zwölf ist», so Bernhard. Ausschlaggebend für Irène Fuchs, sich externe Hilfe zu suchen, war dann die Erkrankung beider Eltern im April dieses Jahres. Sich selbst einzugestehen, dass sie ihre Eltern fortan nicht mehr alleine betreuen könne, war nur eine erste Hürde: Als zum ersten Mal eine Betreuerin zu ihrer Mutter nach Hause kam, konnte diese wegen ihrer Krankheit nicht damit umgehen. «Sie akzeptierte keine fremde Hilfe und fühlte sich hintergangen. Sie verstand nicht, dass ich überfordert war und es nicht mehr anders ging», erzählt Irène Fuchs. Bevor und nachdem die Betreuerinnen jeweils bei der Mutter waren, rief diese ihre Tochter an und machte ihr Vorwürfe. Zwischenzeitlich sagte Irène Fuchs die Betreuung sogar wieder ab.

«Es fühlt sich nicht wie Arbeit an»

Den Rank mit ihrer Mutter fand dann die jetzige Betreuerin Regula Meier. Ihr habe ihre Mutter von Anfang an vertraut. Von da an konnte die Tochter die Betreuung in die Hände der Profis geben: «Das war zunächst auch für mich nicht ganz einfach – am Anfang rief ich jeweils ein- bis zweimal am Tag bei meinen Eltern an, um zu hören, wie es ihnen geht.» Heute schaut sie ein- bis zweimal pro Woche vorbei und besucht ihre Eltern an den Wochenenden. Die Kosten für die Betreuung – es gibt sie ab 39 Franken pro Stunde – bezahlt das Ehepaar Fuchs selbst: «Meiner Mutter habe ich gesagt, die Krankenkasse würde die Kosten übernehmen, sonst hätte sie sich geweigert, Hilfe anzunehmen.» Ihre Mutter wollte nämlich nie finanziell abhängig sein, doch irgendwann werde das Ersparte aufgebraucht sein: «Dann müssen wir schauen, wie die Kosten gedeckt werden können.»

Ueli Bernhard sieht private Betreuungsservices zukünftig in einer wichtigen Rolle: «Betroffene können so trotz altersbedingter Einschränkungen länger zu Hause bleiben – was sich ja alle wünschen. In solchen Angeboten sehe ich die Zukunft der Alters- und Demenzbetreuung. Viele Angehörige werden durch die anspruchsvolle und zeitlich intensive Betreuung und Pflege überfordert. Wichtig ist aber, dass die Betreuerinnen und Betreuer gut ausgebildet sind und über Fachwissen verfügen, um Menschen mit Demenz ihren Fähigkeiten entsprechend begleiten zu können.»

Regula Meier sagt über ihre Arbeit: «Für mich fühlt es sich nicht wie Arbeit an.» Sie sei sehr frei und habe keinen Zeitdruck. Ihre Anwesenheit gebe dem Tag ausserdem Struktur und Bewegung: Jeden Tag geht sie mit dem Ehepaar Fuchs nach draussen an die frische Luft. «Ich erhalte extrem viel Wertschätzung sowohl von den Betreuten als auch von den Angehörigen.» Die Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden und auch zu halten, sei nicht immer ganz einfach: «Ich bin ja kein Familienmitglied und dennoch extrem weit in der Familie drin – da muss man professionell bleiben.»

Für eine «nationale Demenzstrategie» : Wer bezahlt?

Sechzig Prozent der Demenzkranken leben heute zu Hause. Ueli Bernhard, Geschäftsführer der Alzheimervereinigung Kanton Zürich, fordert dringend bezahlbare Unterstützungsangebote, die es dementen Menschen auch in Zukunft ermöglichen, ihr Leben daheim weiterzuführen, auch dort, wo keine Angehörigen die Betreuung übernehmen können: «Ein gutes Leben für Demenzkranke zu Hause ist auch ökonomisch die beste Lösung für die gesamte Gesellschaft.» Die ALZ Schweiz hat durch ihre Vertreter im Nationalrat, Jean-François Steiert (SP) und Reto Wehrli (CVP), entsprechende Motionen eingereicht. Sie fordern, dass der Bund in Zusammenarbeit mit den Kantonen und den betroffenen Organisationen im Rahmen einer Demenzstrategie für die Schweiz etwa die Unterstützung von Pflegenden oder die Förderung von Frühdiagnosen und Therapien koordiniert. Zentrale Aufgabe der schweizerischen Demenzstrategie soll die Förderung der Langzeitpflege – zu Hause, im Heim, in neuen Wohnformen – sein. Die Motionen wurden im Nationalrat fast einstimmig angenommen und kommen nun im Januar in den Ständerat.

«Der Bund muss seine Verantwortung übernehmen, statt sie wie bisher auf Kantone und Gemeinden abzuschieben», fordert Motionär Jean-François Steiert. Es brauche zwar nicht eine einzige Lösung für die ganze Schweiz, aber eine Bündelung und einen Ausbau der vorhandenen Angebote. «Bei der Pflege ist es wichtig, dass der Staat für ein solides Grundangebot sorgt. Die Pflege von Demenzkranken in ihrem Zuhause soll Teil des Service public und für alle zugänglich sein, was ein solides öffentliches und flächendeckendes Grundangebot bedingt.»

Andreas Keller, Sprecher Spitex-Verband Schweiz, kann sich vorstellen, dass die Spitex künftig eine Art Koordinationsfunktion für alle Involvierten – Angehörige, Hausärzte, Anbieter von Entlastungsangeboten – übernehmen könnte. Grundsätzlich stelle sich aber die Frage, wer bezahle: «Niederschwellige Betreuungsangebote oder auch institutionsübergreifende Fallkoordination sind heute nicht kassenpflichtig», sagt Keller. «Die Politik müsste also auch die Finanzierung regeln, sonst wird kaum jemand bereit sein, solche Angebote auch nur in Erwägung zu ziehen.» Deborah Sutter