Film: 500 Briefe an die Mutter
Der Onkel in Amerika – so einen gab es während einer bestimmten Epoche wohl in jeder zweiten Schweizer Familie. Dieser Onkel hatte es meistens geschafft, war erfolgreich, wohlhabend, glücklich und unerreichbar weit weg. Manchmal waren diese Onkel schlicht eine Art lebende Mythen.
Auch der Schweizer Filmemacher Tobias Wyss hatte so einen Onkel in Amerika: Walter Otto Wyss, kurz WOW genannt. «Mein Onkel in Amerika, der Held meiner Kindheit», sagt Tobias Wyss zu Beginn des Films aus dem Off. «Sechzig Jahre hatte er in meinem Kopf gelebt, ich weiss nicht, warum.» Der Filmemacher macht sich in «Flying Home» auf die Suche nach den Spuren des verstorbenen Onkels. Er beginnt im Tessin im Haus, in dem Walter Otto Wyss aufgewachsen war. Hier ist noch alles wie damals: dieselben Möbel, dieselben Gerüche. Tobias Wyss arbeitet sich durch Fotos und liest in den Briefen, die sein Onkel aus der Ferne an seine über alles geliebte Mutter geschrieben hat, nachdem er 1939 in die Neue Welt auswanderte. Mehr als 500 Briefe schrieb der Sohn während dreissig Jahren an seine Mutter.
In den USA wird WOW Autoingenieur bei Ford, entwickelt ein revolutionäres Hybridauto, das allerdings nie produziert wird, beginnt, leidenschaftlich zu fotografieren, und lebt die letzten dreissig Jahre seines Lebens einsam auf Hawaii. Tobias Wyss begibt sich zu verschiedenen Stationen von WOWs Leben, sucht Orte auf, trifft Menschen, die WOW noch gekannt haben, und lernt den Helden seiner Kindheit neu kennen.
«Flying Home» ist ein berührender Film über eine spannende, einsame Figur, die ihrer Zeit voraus war. Und auch ein Film über die Sehnsucht nach einem anderen Leben und das Heimweh. Anhand von WOWs Leben gibt Tobias Wyss einen Einblick in die boomende Nachkriegszeit in den USA. Wyss inszeniert sich selber im Film angenehm zurückhaltend und lässt zum Glück gewisse Geheimnisse in Bezug auf seinen Onkel geheim bleiben. So schwebt auch nach dem Film noch immer ein gewisser Mythos über dem Onkel in Amerika. süs
«Flying Home». Schweiz 2010. Regie: Tobias Wyss. Ab 12. Januar in Deutschschweizer Kinos.