«Iraqi Odyssey»: Sehnsucht nach der verlorenen Heimat

Nr. 10 –

In seinem neuen Dokumentarfilm verflicht Samir die Lebensläufe seiner Verwandten zu einem Bild der irakischen Gesellschaft früher und heute.

Die packenden Lebensgeschichten einer Familie im Schichtenprinzip verfilmt: Regisseur Samir als Kind mit seiner Schwester Hayath 1958 im Irak vor dem Austin ihres Vaters. Foto: Archiv Samir

«Ich glaube, dass Parteien Menschen zu Schafen machen, die einem Bock folgen», sagt der alte Mann mit Schnauz und lacht. Sabah Jamal Aldin hat ein bewegtes Leben hinter sich: 1934 in Bagdad geboren, studierte er Medizin und war in der irakischen Kommunistischen Partei aktiv.

Sein Leben gleicht, wie das der anderen ProtagonistInnen von «Iraqi Odyssey», dem neuen Dokumentarfilm von Samir, eben einer Odyssee. Wegen wechselnder Kriege und seiner politischen Haltung musste er immer wieder fliehen. Die Sowjetunion, Westdeutschland, Libanon, Kuwait – dies sind nur einige der vielen Länder, in denen er Jahre seines Lebens verbrachte. Stets musste er die Orte fluchtartig verlassen. Heute lebt er in London, dort berichtet er seinem Neffen Samir mit erzählerischem Talent aus seinem Leben.

Ein weitverzweigter Stammbaum

Mehrere Jahre hat der schweizerisch-irakische Filmemacher Samir an seinem neuen und bisher persönlichsten Film gearbeitet, in dem er anhand seiner Familie die Geschichte des Irak vom letzten Jahrhundert bis heute beleuchtet. Entstanden ist ein epischer und vielschichtiger Dokumentarfilm, der auch eine unkonventionelle Geschichtslektion ist: Spannend, nie belehrend und doch sehr lehrreich verschafft uns Samir Einblicke in ein Land, das in den Nachrichten zwar omnipräsent ist, von dem man darüber hinaus hierzulande aber kaum etwas weiss.

Als Sohn eines irakischen Vaters und einer Schweizer Mutter kommt Samir 1955 im Irak zwei Monate zu früh zur Welt und überlebt «nur dank der neusten Medizin des Westens», wie er im Film aus dem Off erzählt. In seiner Kindheit kannte er keinen Unterschied zwischen Ost und West, «in unserer Stadt fuhren dieselben doppelstöckigen Busse wie in London». Seine Familie gehört der intellektuellen Oberschicht an. Sein Grossvater entstammt einer angesehenen schiitischen Familie, studierte islamisches Recht und arbeitet als Richter. Als liberaler Geist lässt er seinen drei Töchtern und vier Söhnen viel Freiheit und unterstützt sie in ihrem Werdegang. Samirs Tanten und Onkel gehen regelmässig ins Kino, sind kulturell gebildet und engagieren sich in der Kommunistischen Partei.

Von seinen zwanzig Cousins, sechs Onkeln und Tanten sowie fünf Geschwistern hat Samir fünf ProtagonistInnen ausgewählt: Onkel Sabah in London, Tante Samira in Auckland, Cousin Jamal in Moskau, Cousine Tanya in Neuenburg sowie seine Halbschwester Souhair in Buffalo, USA. In einer übersichtlichen Grafik zeigt Samir den Stammbaum seiner Familie und erläutert, wen er für seinen Film ausgewählt hat und warum. Diese grafische Einführung macht neugierig auf die Familiengeschichte, dient aber auch als wichtige Orientierungshilfe. Man wünscht sie sich im Laufe des Films ein paarmal zurück, wenn man den Überblick über die familiären Verhältnisse zu verlieren droht.

Gesamtbildschau in 3-D

Es sind packende Lebensgeschichten, die die ProtagonistInnen erzählen. Und Samir, der selbst aus dem Off durch den Film führt und gelegentlich auch im Bild erscheint, verwebt die Erzählungen seiner Verwandten geschickt mit Archivmaterial: Fröhliche Familienfotos, alte Schwarzweiss-Filmaufnahmen aus dem Bagdad der fünfziger Jahre, Super-8-Familienfilme aus den siebziger Jahren, Zeitungsschnipsel, Ausschnitte aus Filmen und Fernsehnachrichten fügen sich zu einer Gesamtbildschau des Irak im 20. Jahrhundert.

Dass Samir den Film in 3-D gedreht hat, ist mehr als eine technische Spielerei. Es ist eine konsequente Weiterführung seines bisherigen Schaffens. Wie bereits in «Babylon 2» (1993) und «Forget Bagdad» (2002) arbeitet er auch bei «Iraqi Odyssey» mit einem Schichtenprinzip: Während vorne im Bild seine Verwandten sitzen und aus ihrem Leben erzählen, wird im Hintergrund das Archivmaterial eingeblendet. Er habe an seinen Dokumentarfilmen stets nicht gut gefunden, dass die Leute, die er interviewte, oft wie aufgeklebte Briefmarken wirkten, sagte Samir in einem Gespräch mit der WOZ vor drei Jahren. Mit den dreidimensionalen Aufnahmen nutzt er nun die Möglichkeit, neue Räume zwischen den übereinandergelagerten Schichten zu schaffen.

Für alle Flüchtlinge

«Wie soll ich in den Irak zurückkehren angesichts dieser Situation in meinem Land?», fragt Sabah gegen Ende des Films. Für die in Auckland lebende Tante Samira ist der Irak heute ebenfalls weit entfernt vom Land ihrer Kindheit: «Religiöse Fanatikerinnen, überall die Frauen mit ihren Schleiern. Ich weiss gar nicht, wie die das aushalten bei dieser Hitze.» Auch wenn sie sich in ihrem neuen Zuhause in Auckland gut eingelebt hat, bleibt das Heimweh nach einer Heimat, die für immer verloren ist. Samirs Familie steht für mehr als nur für sich selbst: Sie steht für die über 51 Millionen Flüchtlinge, die ihr Land unfreiwillig verlassen. Und sie steht für den Wahnsinn unserer globalisierten Zeit.

Zum Schluss zeigt Samir seiner Verwandtschaft den fast fertigen Film auf dem neutralen Boden der Schweiz. Da sind die Trauer, die Hoffnung, doch auch die Resignation: Es werde nicht gut kommen mit dem Irak, sind die Verwandten überzeugt, weil gerade jene Menschen ausgewandert seien, die sich für den Wiederaufbau ihres Landes engagieren möchten.