In der Provinz sieht man schärfer Das russische Kino sorgt wieder für Furore – auch dank einer neuen Generation von Regisseur:innen. Das Geheimnis des Erfolgs liegt fernab von Moskau.
Im Rampenlicht der Wettbewerbe von Cannes und Venedig, mit Preisen ausgezeichnet in Cannes, Locarno, San Sebastian und Karlovy Vary: So erfolgreich wie 2021 war das russische Kino schon lange nicht mehr. Unter den preisgekrönten Filmen: «Unclenching the Fists» von Kira Kowalenko, «Unwanted» von Lena Lanskih oder auch «Gerda» von Natalia Kudriaschowa. Auch diese Vielzahl an weiblichen Namen ist man nicht gewohnt vom russischen Kino, wo das Regiefach sehr lange ausschliesslich eine Männerdomäne war, mit Larissa Schepitko und Kira Muratowa als den beiden Ausnahmen.
Fast noch interessanter sind aber die Trends, die sich auf den zweiten Blick offenbaren, zunächst in Form von Kuriosa: Warum eigentlich spielen so viele der neuen russischen Filme in einer abgelegenen Region namens Kabardino-Balkarien? Oder auch, eher rhetorisch gefragt: Wie kommt es, dass in den meisten Filmen früher oder später ein Schauspieler namens Juri Borisow auftaucht?
Verquerer Traummann
Der 29-Jährige mit dem bleichen Gesicht ist demnächst auch in den Schweizer Kinos zu sehen, in «Compartment No. 6» (2021), dem in Cannes preisgekrönten Film des finnischen Regisseurs Juho Kuosmanen. Darin spielt er zunächst ein Klischee: den saufenden russischen «Proleten», von dem sich eine junge Finnin (Seidi Haarla) im Zug von Moskau nach Murmansk erst einmal abgestossen fühlt. Doch nach und nach – der beschauliche Rhythmus des Eisenbahnreisens bringt es so mit sich – fassen die beiden Vertrauen zueinander, und der russische Mitreisende erweist sich als sehr viel sensibler als gedacht.
Die Unscheinbarkeit seines Äusseren verbindet Borisow mit darstellerischer Präsenz zu einer Intensität, die seine Figuren selbst dann zum Fokus werden lässt, wenn sie nur im Hintergrund stehen. In Cannes tauchte er auch in Kirill Serebrennikows phantasmagorischem «Petrov’s Flu» (2021) als eitler Geck auf, in Locarno sah man ihn dann in Natalia Kudriaschowas «Gerda» als eine verquere Art des Traummanns: ein Poet, der nächtens als Totenbestatter arbeitet. Und in Venedig war Borisow in der Titelrolle von «Captain Volkonogov Escaped» (2021) zu sehen. Der Film spielt während der Hochzeit des stalinistischen Terrors: Als rastlos-fiebriger Mitarbeiter der Geheimpolizei durchläuft Borisow hier das Hamsterrad von Folter, Verhör und Exekution, während er seiner eigenen Gewissenshölle zu entkommen versucht.
Die geheimnisvollste Rolle aber spielt er in «Mama, I’m Home» (2021) von Wladimir Bitokow: Da will eine Mutter (Xenia Rappoport) nicht glauben, dass ihr Sohn als Söldner im Syrienkrieg gefallen ist. Als sie keine Ruhe gibt, schickt man ihr von offizieller Seite einen jungen Mann (Borisow) ins Haus: Wenn sie schon nicht glauben will, dass ihr Sohn tot sei, soll sie doch glauben, dass er ihr Sohn sei. Der Mann ist beauftragt, die Mutter, deren Protest lästig wird, zugleich auszuspionieren und in Schach zu halten – doch der kaltschnäuzigen Absurdität dieses behördlichen Vorgehens zum Trotz entwickelt sich eine widersprüchliche, vieldeutige Beziehung zwischen den beiden, die ihrem Protest erst recht Sprengkraft verleiht.
Der Film, der ebenfalls in Venedig Premiere feierte, ist auch deshalb bemerkenswert, weil er der Gegenüberstellung von korrupten Institutionen und ohnmächtigen Bürger:innen Untertöne von subversivem, schwarzem Humor abgewinnt, die im besten Sinne an das sowjetische Kino der ausgehenden 1980er Jahre erinnern. Die Nebenhandlung könnte gar aus einem der sowjetkritischen Filme von Tengis Abuladse (1924–1994) stammen: Ein historisches Gebäude soll für einen hohen Staatsbesuch hergerichtet werden, und bei den Aufräumarbeiten werden Wandmalereien entdeckt – darunter ein riesiges Porträt von Stalin. Konservieren oder nicht, das ist nun die Frage.
Alles wegen einer Masterclass
«Mama, I’m Home» spielt in Naltschik, der Hauptstadt von Kabardino-Balkarien, einer Region im russischen Nordkaukasus, wo zahlreiche Minderheiten aller Glaubensrichtungen in prekärer Koexistenz mehr schlecht als recht miteinander auskommen. Die östliche Nachbarrepublik ist das noch zerrissenere Nordossetien-Alanien, das 2004 traurige Berühmtheit erlangte. Bei einer Geiselnahme in Beslan brachten damals nordkaukasische Terroristen in einer Schule mehr als 1100 Menschen in ihre Gewalt; als russische Einsatztruppen drei Tage später die Schule stürmten, kamen mindestens 331 Geiseln ums Leben, darunter 186 Kinder.
Dieses bis heute kaum aufgearbeitete Trauma bildet ein entscheidendes Puzzlestück in «Unclenching the Fists» (2021), dem letztjährigen Siegerfilm der Sektion «Un certain regard» in Cannes. Regisseurin Kira Kowalenko stammt selber aus Naltschik, ihr Film spielt in einer Kleinstadt in Nordossetien, und wie sie hier auf Beslan Bezug nimmt, ist so subtil wie wirkungsvoll. Gleichsam kommentarlos folgt die Kamera einem Mädchen, das zwischen dem Laden, in dem sie arbeitet, und ihrem Zuhause, wo sie für Vater und Bruder den Haushalt schmeisst, ein deprimierend perspektivloses Leben führt. Zwischendurch sieht man sie sehnsüchtig an der Bushaltestelle warten. Von Anfang an ist klar: Sie will weg, aber man sieht auch die mächtigen Kräfte, die sie zurückhalten. Da ist die Bindung an den Vater, der seine erwachsenen Kinder gelegentlich einschliesst, damit sie ihm nicht wegrennen. Aber auch eine körperliche Versehrtheit, die ihr das unbeschwerte Flirten mit einem Nachbarsjungen unmöglich macht: Ihm enthüllt sie schliesslich, dass sie in Beslan verletzt wurde. «Unclenching the Fists» ist ein stimmungsvoller, intensiver Film, der von einem Seelenzustand jenseits von Umständen wie Provinzlangeweile und materieller Armut erzählt.
Warum nun also ausgerechnet Kabardino-Balkarien? Aus keinem anderen Grund, als dass Alexander Sokurow, der vielleicht einzige echte Erbe Andrei Tarkowskis, auf Einladung des Universitätsdirektors von 2011 bis 2015 in Naltschik eine Masterclass gab. Zusammen mit seinen handverlesenen Student:innen pendelte Sokurow, der zuvor noch nie irgendwo gelehrt hatte, zwischen St. Petersburg und Naltschik und brachte zwölf von ihnen zum Abschluss.
Erklärte Devise dabei war, keine «Sokurow-Klone» heranzuziehen – und dem ersten Überblick nach zu schliessen, ist das auch gelungen. Sokurows Verbindungen zu Produktionsfirmen wie auch zu Kurator:innen verhalfen seinen «Meisterschüler:innen» bereits mit ihren Kurs- und Diplomarbeiten zu Festivalauftritten. Als dann Kantemir Balagow in Cannes mit seinem Erstling «Tesnota» («Closeness», 2017) für Furore sorgte, rückte das Projekt erstmals ins Scheinwerferlicht. Angesiedelt in einer kleinen jüdischen Kaukasusgemeinde, erzählt «Tesnota» von den Beschränkungen und Fluchtbewegungen eines von der Tradition eingeschnürten Mädchenlebens.
Vorsätzliche Trostlosigkeit
Ganz anders der Zugang, den Balagow dann für seinen nächsten Film wählte: «Bohnenstange» («Dylda», 2019) spielt im Leningrad der 1940er Jahre, unmittelbar nach dem Krieg. In langen Einstellungen, die sich viel Zeit nehmen und die Figuren oft wie Gemälde einrahmen, erzählt er von zwei jungen Frauen und den nicht verheilenden Verletzungen, die ihre Zeit an der Front hinterlassen hat. In seiner vorsätzlichen Trostlosigkeit liefert «Beanpole» ein Korrektiv zum klassischen russischen Kriegsfilm, wo der Sieg über die Nazis stets zu Frohsinn und Zuversicht verpflichtet. Der Film führte den mittlerweile dreissigjährigen Regisseur jetzt auch nach Hollywood: Der Autor und Showrunner Craig Mazin, der mit seiner «Chernobyl»-Serie ein feines Gespür für russische Verhältnisse bewies, engagierte Balagow als Regisseur für die Pilotfolge seiner dystopischen HBO-Serie «The Last of Us».
Balagow ist ebenfalls in Naltschik aufgewachsen, sein Ausflug nach Hollywood könnte ihn aus den engen Grenzen, die dem Arthouse-Kino in Russland gesetzt sind, hinausführen. Wobei gerade die «Provinzialität» eben auch eine gewählte Position sein kann: Der Trend weg von den Metropolen macht sich nämlich weit über Sokurows Meisterschüler:innen hinaus bemerkbar. Boris Chlebnikow, noch der mildeste unter den habituellen Miserabilisten des russischen Kinos, drehte «Arrhythmia» (2018) in Jaroslawl. Alexei Fedortschenko («Silent Souls») arbeitet schon seit Jahren bevorzugt in Jekaterinburg und Umgebung. Aber auch «Gerda» von Natalia Kudriaschowa spielt in einer seelenlosen Kleinstadt fernab von der Hauptstadt, genau wie «Unwanted» von Lena Lanskih.
Noch weiter an die Peripherie geht schliesslich Wladimir Munkuew, der in seinem preisgekrönten Jakutendrama «Nuuccha» (2021) die selten auf den Begriff gebrachte Geschichte der russischen Kolonialisierung Sibiriens aufgreift. Stellt man die Filme so zusammen, erinnert dieser Trend noch an etwas anderes: Auch in der späten Sowjetunion kam die Gesellschaftskritik eher aus den peripheren Ecken, mit Filmen wie denen des Georgiers Tengis Abuladse («Die Reue», 1986) oder des Letten Juris Podnieks («Ist es leicht, jung zu sein?», 1986).
Was nicht heisst, dass in der Hauptstadt alles eitel Sonnenschein wäre: Andrei Swjaginzew, neben Kirill Serebrennikow der wohl erfolgreichste russische Filmemacher des letzten Jahrzehnts, hat mit «Jelena» (2011) und «Loveless» (2017) herausragende Porträts der neuen hauptstädtischen Eliten gedreht. Die alles durchdringende soziale Kälte dieses Milieus seziert er wie ein Bildhauer, der aus Eisblöcken fein ziselierte Skulpturen schafft.
Ein Schuss Amerikafeindlichkeit
Nun bilden internationale Festivals nicht unbedingt die Filmindustrie ab, wie sie sich im eigenen Land präsentiert. Seit dem Niedergang in den 1990er Jahren, als das Kino nur noch in Form von VHS-Kassetten existierte, die an Strassenkiosken verkauft wurden, hat sich die kommerzielle Filmbranche in Russland wieder erholt. Statt lediglich 90 wie noch im Jahr 2000, produziert die russische Filmindustrie heute um die 250 Filme im Jahr. Oft sind sie den gut verkäuflichen Genres des US-Markts nachgebildet: Russland hat seine eigenen Weihnachtskomödienreihen («Yolki» 1–8), stösst einen steten Fluss an patriotischen Kriegsfilmen aus und wagte sich mit «Zashchitniki» («The Guardians», 2017) sogar an ein eigenes Superheldenkino.
Doch wie fast überall ausserhalb der englischsprachigen Welt taugen auch die nationalen Hits des russischen Kinos nicht für den Export, sei es, weil die humoristischen Referenzen zu speziell sind, wie in «Kholop», der 2019 alle Rekorde am heimischen Markt brach – die Komödie erzählte von einem Oligarchensohn, dem sein Vater eine Lektion erteilen möchte, indem er ihm eine Zeitreise in die Epoche der Leibeigenen vorgaukelt –; oder sei es, weil die Filme ideologisch wenig kompatibel sind: «Three Seconds», der russische Kassenschlager von 2017, stellt das kontroverse Basketballfinale der Olympischen Spiele von 1972 nach, als die Sowjetunion gegen alle Prognosen die USA schlug. Schrittgenau folgt der Sportfilm den entsprechenden amerikanischen Genrevorbildern. Diese werden dann mit einem guten Schuss Amerikafeindlichkeit angereichert, was man getrost als Retourkutsche für westliche Kalter-Krieg-Klischees hinnehmen würde, wären da nicht gleichzeitig schwer verdauliche rassistische Untertöne. Um die russische Sichtweise besser zu begreifen, die überall in der Welt «Russophobie» am Werk sieht, taugt dieses Blockbusterkino aber allemal.
Grössere Chancen auf dem internationalen Markt hätten die Serien, von denen auch in Russland immer mehr und in immer besserer Qualität für den Streamingmarkt produziert werden. Einer der jüngsten Serienhits war «Chiki» («Chicks», 2020) über vier junge Frauen und ihren Versuch, aus der Gelegenheitsprostitution auszusteigen und ein Fitnessstudio zu gründen. Die Serie berührte, weil sie die Welt ihrer Protagonistinnen mit viel Atmosphäre und Wahrhaftigkeit ausstattete – versoffene Väter, bigotte Patriarchen und korrupte Institutionen eingeschlossen. Und dann war «Chiki» auch noch gut geschrieben. Wo die Serie spielt? In Kabardino-Balkarien, wo sonst. Und das, obwohl Regisseur und Headwriter Eduard Oganesian zwar in der Nähe geboren wurde, aber nie bei Sokurow gelernt hat.