«Familienbande» : In der Liebe herrscht die Vielfalt

Nr. 10 –

Vater, Mutter, Kind: Die Kernfamilie ist heute eine Ausnahme. Sie ist aber nicht durch ein bestimmtes neues Modell ersetzt worden, sondern durch eine Vielfalt an Formen, Kinder grosszuziehen.

Eine abwechslungsreiche Familiengeschichte in einem Aargauer Dorf: Susi (52), Salome (23) und Dimitri (18). Foto: Judith Schönenberger

Familie? Was heisst das heute eigentlich? Für viele wohl noch immer die klassische Schweizer Kleinfamilie: ein Ehepaar mit gemeinsamen Kindern. Dieses Bild ist historisch und auch juristisch fest in unseren Köpfen verankert. Dabei ist diese Familienform längst nur noch eine unter vielen. Die Journalistin und Soziologin Christina Caprez hat Patchwork- und Regenbogenfamilien sowie ein Wohnkollektiv besucht und dabei mit Kindern, Jugendlichen, Müttern, Vätern, Pflegemüttern und Samenspendern gesprochen. Daraus ist das Buch «Familienbande. 15 Porträts» entstanden.

Als schwangere Lesbe Dorfgespräch

Da ist etwa die Geschichte von Matthias (40), Tim (32) und dem Baby Nils – von Papa, Transpapa und ihrem gemeinsamen Kind. Ihre Geschichte beginnt in einem Schwulenchat, wo sich Papa und Transpapa näherkommen. Was Matthias zu jenem Zeitpunkt nicht weiss: Tim ist als Frau geboren, fühlt sich aber als schwuler Mann und tritt auch äusserlich als Mann auf. Als Matthias dies erfährt, fällt er aus allen Wolken. Dennoch treffen sie sich. Und verlieben sich ineinander.

Bald kommt das Paar auf Kinder zu sprechen, die sich beide wünschen. Die Frage ist: Traut sich Tim zu, ein Kind auszutragen und neun Monate lang als Frau wahrgenommen zu werden? Schliesslich wird er schwanger; Nils ist mittlerweile eineinhalb Jahre alt. Für die jungen Väter waren es anstrengende Monate mit Krisen und Reibereien, aber sie sind in dieser schwierigen Zeit zusammengewachsen. Beide können sich vorstellen, ein zweites Kind zu haben.

Matthias und Tim sind auch ein Ehepaar. Das war nur möglich, weil Tim offiziell noch eine Frau ist. Gälte er vor dem Gesetz als Mann, hätte er Matthias nicht heiraten können, sondern höchstens seine Partnerschaft eintragen lassen. Das Gesetz hat aber nicht nur auf die Ehe Einfluss: Um auch offiziell zum gefühlten Geschlecht zu gehören, müssen Transmänner und Transfrauen in der Schweiz sterilisiert sein.

Auch Susi (52), Salome (23) und Dimitri (18) haben eine wechselvolle Familiengeschichte. Ende der achtziger Jahre beschliessen Susi und ihre Lebenspartnerin Raffaela, dass sie ein Kind haben möchten. Sie wenden sich an einen gemeinsamen Freund, laden ihn ins lokale Pub und sprechen ihn auf das Thema an. Er sagt auf der Stelle Ja zur Samenspende. Und akzeptiert auch ihre Bedingungen: Er soll keine Rolle spielen, muss nichts zahlen, kann aber das Kind später kennenlernen, wenn es dies wünscht.

Die Nachricht von der schwangeren Lesbe verbreitet sich im Aargauer Dorf, in dem die Familie wohnt, wie ein Lauffeuer und löst ganz unterschiedliche Reaktionen aus: Unterstützung, aber auch Ablehnung und Ignoranz. Selbst lesbische Freundinnen wenden sich vom Paar ab. «Das hat mich am meisten verletzt», sagt Susi heute. «Für sie war ich eine Verräterin ihrer feministischen Ideale.» Fünf Jahre nach Salome kommt Dimitri auf die Welt. Er hat einen anderen biologischen Vater, weil der gemeinsame Freund kein zweites Mal seinen Samen spenden wollte. Bald nach Dimitris Geburt trennen sich Susi und Raffaela. Eine Zeit lang sieht es gar nach einem richtig üblen Gerichtsstreit aus, schliesslich einigen sich die beiden aber.

«Es gab Zeiten, wo ich mir nicht sicher war, ob ich mich nochmals für Kinder entscheiden würde», sagt Susi über jene Phase. Doch das ist vorbei. Kürzlich haben sie und Salome Unterschriften für eine Petition gesammelt, die ein Adoptionsrecht für Lesben und Schwule fordert. PassantInnen hielten Salome für lesbisch und gratulierten ihrer Mutter für ihre Toleranz.

Etwas aus dem Rahmen des Buches fallen Paulo (30), Leonor (29) und Beatriz (7), doch ihre Geschichte ist umso wichtiger, weil hier – und nur hier – ökonomische Sachzwänge zum Ausdruck kommen, die bei den anderen Familienporträts keine Rolle spielen. Paulo ist Gipser, Leonor Metzgereiangestellte. Für das portugiesische Ehepaar ist Teilzeitarbeit ein Luxus, den sie sich nicht leisten können. Ihre Tochter Leonor ist ganztags bei einer Tagesmutter untergebracht. Was der Familie bleibt, sind die Abende, an denen die Eltern oft müde von der Arbeit sind, und die Wochenenden.

Interviews als Orientierungspunkte

Neben den fünfzehn porträtierten Familien kommen im Buch auch drei ExpertInnen zu Wort. Die längeren Interviews mit dem Historiker Simon Teuscher, der Rechtsprofessorin Ingeborg Schwenzer und der Psychologin Heidi Simoni sind eine gelungene Ergänzung zu den sehr konkreten und persönlichen Familiengeschichten. Der Blick wendet sich hier vom unmittelbaren Alltag ab und gewinnt an Tiefe. Die Interviews liefern wichtige Orientierungspunkte zu vielen gesellschaftlichen Fragen, die in den Porträts nur aufgeworfen werden. Sie lösen das weit schlüssiger ein, als es wissenschaftliche Analysen, Statistiken oder Grafiken gekonnt hätten.

«Familienbande. 15 Porträts» ist eine anregende und immer wieder beglückende Lektüre. Christina Caprez beschreibt die besuchten Menschen und ihre Geschichten mit viel Wärme, aber ganz ohne Pathos. Es sind einfache, schnörkellose und gerade deshalb schöne Erzählungen.

Christina Caprez: Familienbande. 
15 Porträts. Limmat Verlag. Zürich 2012. 279 Seiten. 38 Franken